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Veröffentlicht am 22.03.2023

Suter ist sich treu geblieben

Melody
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Suter seziert gern en détail die Welt der Reichen, so zumindest der Eindruck, wenn man seine Romane gelesen hat. Und er weiß, wo sie ihre Leichen verstecken!
Diesmal nimmt er uns mit in die Villa des Multimillionärs ...

Suter seziert gern en détail die Welt der Reichen, so zumindest der Eindruck, wenn man seine Romane gelesen hat. Und er weiß, wo sie ihre Leichen verstecken!
Diesmal nimmt er uns mit in die Villa des Multimillionärs Dr. Peter Stotz, der nicht mehr lange zu leben hat. Stotz hat eine beispiellose Karriere hinter sich, Kunstmäzen, Geldgeber, Königsmacher, Strippenzieher und Politiker.
Wichtig ist ihm jetzt, wo ihm nur noch wenig Zeit bleibt, dass sein Nachlass so geordnet wird, damit die Welt von ihm den richtigen Eindruck behält. Dafür stellt er den jungen Juristen Tom Elmer ein. Tom hat lange und gern studiert, bis seine Geldquelle versiegt ist. Verzweifelt auf der Suche nach einem Job, kommt ihm das Angebot gerade recht. Stotz bietet ihm dafür eine stolze Summe, zu der Tom nicht nein sagen kann. Noch ist Tom aber nicht klar, was von den ganzen Aktenbergen wirklich wichtig ist.

»Nimm die Fakten, die für mich sprechen. Und die Fiktion, die nicht leicht widerlegbar ist.« S.59

Während Stotz’ Leben sich in Umzugskisten vor Tom aufstapelt, scheint sein Arbeitgeber aber etwas anderes auf dem Herzen zu liegen. Er erzählt ihm von seiner großen Liebe Melody, deren Konterfeis im ganzen Haus verteilt sind, zwischen Parfümflakons, Stickereien und Theaterkarten.

»Melody war mein erster Gedanke am Morgen, mein letzter am Abend und fast mein einziger dazwischen. Kennen Sie das?«

Doch Melody verschwindet wenige Tage vor der geplanten Hochzeit. Für Stotz beginnt eine lebenslange Suche. Tom zweifelt allmählich am Wahrheitsgehalt der ausgeschmückten Erzählung. Doch wie weit liegen Wirklichkeit und Fiktion auseinander? Gemeinsam mit Laura, Stotz’ Großnichte, begibt er sich auf die Spurensuche.

Was ist es, was wir am Ende eines Lebens hinterlassen, was ist es wert, zu wissen, was macht einen Menschen aus? Und diese Fragen muss sich nicht nur Tom stellen. Es ist eine Geschichte über Geheimnisse und Täuschungen, über Erlebtes und Fiktives, deren Grenzen ineinander verschwimmen. Am Ende zeigt sich einmal mehr, mit Geld kann man sich nicht alles kaufen.

Suter hat mich wieder mal aufs beste unterhalten. Für ein paar Stunden nimmt er uns mit in die Welt der Reichen am Zürichberg, die für die meisten seiner Leser unbekannt ist, aber lebendig wird. Er verwöhnt uns mit gutem italienischen Essen, dass uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt, und guten Aperitifs, (Sherry ist übrigens ein Stehgetränk). Während vielen Autoren hier lediglich klischeehafte Figuren gelingen, macht Suter sie für uns lebendig, greifbar und stürzt sie gern von ihrem Sockel. Er entmystifiziert sie, indem er sie als alte Menschen auf die Toilette schickt und spickt sie mit menschlichen Gebrechen und Krankheiten.
Für mich ist Suter ein großer Menschenkenner, fein beobachtet entblättert er deren Schwächen und Geheimnisse. Halbseidenes und Zwielichtiges spült er an die Oberfläche, versteckt zwischen dezenter Spannung, feinem Humor und raffinierter Übertreibung. Sein Erzählstil ist geschmeidig, ungezwungen mit einer saloppen Leichtigkeit, die mich immer wieder fesselt. Sätze wie:

»Dabei war ich nur eines seiner kulturellen Accessoires. Das literarische Einstecktüchlein«

entlocken mir immer wieder ein Schmunzeln.
Auch wenn die Literaturkritiker gern über ihn herfallen, ihm Adjektivismus und Klischeesierung in referierter Spannungslosigkeit vorwerfen, bleibt Suter für mich einer der großen Romanciers der heutigen Zeit.
Für alle, die noch nicht das Vergnügen hatten, ist »Melody« ein guter Einstieg in die gepflegte sutersche Welt der Unterhaltung.

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Veröffentlicht am 22.03.2023

Wenn Jugendliche keinen anderen Ausweg sehen

Scherbenseele
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»Manchmal gibt es nur einen Weg aus der Dunkelheit …«

Nachdem mich die Victoria-Bergman-Trilogie so begeistert hat, war klar, dass ich auch die neue Kronoberg-Reihe lesen muss. Ich kann nur sagen, dass ...

»Manchmal gibt es nur einen Weg aus der Dunkelheit …«

Nachdem mich die Victoria-Bergman-Trilogie so begeistert hat, war klar, dass ich auch die neue Kronoberg-Reihe lesen muss. Ich kann nur sagen, dass die Autoren hier noch mächtig eins obendrauf gesetzt haben. In ihrem 1. Band zeichnen sie das düstere Bild einer hoffnungslosen Jugend, die gekennzeichnet ist von Selbsthass und Autoaggression. Man sollte also gewappnet sein, wenn man sich auf das Thema einlassen will, denn es wird düster, blutig, brutal und sehr explizit.

Seit einem Jahre wird Schweden von einer Suizidserie Jugendlicher erschüttert. Und ausgerechnet Kommissar Hurtig soll ermitteln, er, dessen Schwester vor vielen Jahren auch Selbstmord begangen hat. Die Selbstmorde sind grausam und obendrein inszeniert. Hurtig steht vor einem großen Rätsel, als er die erste von 14 Kassetten abhört, die bei den toten Teenagern gefunden wurden. Alle haben die Musik eines gewissen »Hunger« gehört, die verstörend und düster ist. Bald darauf findet er sich in einer Undergroundszene wieder, deren bizarre Partys seine Vorstellungskraft sprengen. Die gleichzeitigen Morde an drei einflussreichen Männern erscheint dagegen nebensächlich. Bald muss Jens Hurtig erkennen, dass der Fall Kreise bis in sein Privatleben hinein zieht – mit gefährlichen Folgen für den Kommissar …

Die Bücher des Autorenduos verlangen schon alle Aufmerksamkeit. Zu Beginn müssen wir uns mit vielen Namen und Orten auseinandersetzen, was aufgrund der kurzen, schnellen Kapitel nicht unbedingt leicht ist. Aber ich war schnell drin. Jedem Protagonisten widmet er eine eigene Perspektive, was nicht leicht zu schlucken war, weil man ja wusste, das der oder die eine sich noch das Leben nehmen wird. All das macht es nicht leicht, das Buch aus der Hand zu legen.

Alkoholmissbrauch, Drogenabhängigkeit, Selbstverletzung und Mobbing sind nur ein Teil der angesprochenen Themen. Wie immer tauchen wir tief in die kranken Seelen – in die Scherbenseelen – ein und sind zutiefst geschockt von den Ausmaßen. Ein großes Plus für mich sind immer wieder die Charaktere. Ich lese allzu häufig, dass sie zu flach wären. Verstehe ich nicht. Durch ihre Handlungen, Gedankengänge und Rückblenden auf ihr bisheriges Leben kann man gar nicht tiefer in sie eintauchen.
Einer der beiden Autoren ist Musiker und Künstler, und das spiegelt sich hier wieder, indem er uns deutlich zeigt, wie düster und verstörend Musik sein kann und welchen zerstörerische Kraft sie auf labile Jugendliche ausüben kann.
Das Ende hatte es in sich. Leider, und das meine ich positiv im Bezug auf die Glaubwürdigkeit, hat es zur Geschichte gepasst.

Man muss die vorige Reihe nicht gelesen haben. Außer dass die Ermittler hier wieder auftauchen, erklärt sich der Band für sich. Die Geschichte selbst ist in sich abgeschlossen. Aber sie macht natürlich neugierig auf Puppentod, Band 2.

Definitiv nichts für schwache Gemüter!

»Es gibt viele Arten, dich das Leben zu nehmen. Eine davon ist weiterzuleben.« S.249

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Veröffentlicht am 17.03.2023

Nervenkitzel unter Hypnose

Haus der Stimmen
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Wetten, dass du sich am Ende des Buchs nicht traust, von zehn an rückwärts zu zählen?

Ein Thriller ohne Ermittler und Leiche, funktioniert das? Oh scusi, Psychothriller sollte es heißen.

»Für ein Kind ...

Wetten, dass du sich am Ende des Buchs nicht traust, von zehn an rückwärts zu zählen?

Ein Thriller ohne Ermittler und Leiche, funktioniert das? Oh scusi, Psychothriller sollte es heißen.

»Für ein Kind ist die Familie der sicherste Ort auf der Welt. Oder der gefährlichste.« S.27

Pietro Gerber ist in Florenz ein angesehener Kinderpsychologe, der sich, wie sein Vater Herr B. vor ihm, auf Hypnose spezialisiert hat. Seine professionelle Meinung ist vor allem vor Gericht gefragt, denn unter Hypnose kann er bei ihnen verschüttete Erinnerung aufdecken.
Als eine australische Kollegin ihn bittet, sich ihrer Patientin Hanna Hall anzunehmen, will er zunächst ablehnen, da sie erwachsen ist. Doch das eigentliche Ereignis liegt in Hannas Kindheit. Sie glaubt, ihren kleinen Bruder Ado getötet zu haben. Schon in der ersten Sitzung offenbart sich ihre ungewöhnliche Kindheit. Die Familie blieb nie lange an einem Ort und stellt strikte Regeln auf. Regel Nummer 3: Sag niemals einem Fremden deinen Namen, Regel Nummer 2: Fremde bedeuten Gefahr. Und doch ist Hanna ein glückliches Kind, sie liebt ihre Eltern und wird geliebt. Aber weshalb ist sie mit 11 zu einer Pflegefamilie nach Australien gezogen?
Hanna übt eine sonderbare Anziehungskraft auf Gerber aus, so dass er bald die notwendige Grenze zwischen Therapeut und Patientin überschreitet. Es gibt kein Zurück, denn Hanna weiß Dinge aus seiner Vergangenheit, die er nicht mal seiner Frau erzählt hat. In nur wenigen Tagen wird sein Leben und das seiner Liebsten auf den Kopf gestellt. Weshalb nennt Gerber seinen Vater Herr B und kann nicht über ihn sprechen?
Häppchenweise füttert uns Carrisi mit Details, die so gar nicht zusammenpassen wollen. Scheint eine Frage beantwortet, taucht bereits die nächste auf – das perfekte Katz und Maus Spiel.

Etwas ist Carrisi exzellent gelungen – er spielt ab Seite 1 mit der Angst seiner Leser:innen. Der Nervenkitzel zieht sich durch die undurchsichtige Geschichte, vielleicht weil vielen von uns Hypnose immer noch suspekt erscheint. Um all das glaubwürdig und fühlbar zu machen, hat sich Carrisi selbst hypnotisieren lassen. Und jeder, der einmal eine Therapie gemacht hat, wird feststellen, dass er gründlich recherchiert hat, was einem schon manchmal Angst machen kann. Ohne übermäßige Schockmomente gelingt es ihm, die Spannung durchweg auf einem hohen Level zu halten, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Er hat bewiesen, dass für einen fesselnden Psychothriller auf Schema F verzichtet werden kann, dass es nicht unbedingt Leichen und Ermittler braucht, dafür aber ein ausgeklügelten Plot und undurchsichtige Figuren, die allesamt Leichen im Keller haben.
Vielleicht lässt er am Ende einiges im Unklaren. Für mich war das aber stimmig, denn man nimmt das Mysteriöse und Dunkle noch für eine Weile mit.
Das zentrale Thema aber ist die Frage nach dem Kindeswohl, nicht alles, was richtig scheint, ist auch für die Kinder gut.

»Wenn du Kinder hast, kannst du dir jede Art von Egoismus erlauben, du musst es nur Liebe nennen.« S.182

Fazit: Ein empfehlenswerter Thriller, der einmal mehr das Potenzial zum Blockbuster hat.

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Veröffentlicht am 14.03.2023

Was wird alles an die Oberfläche kommen?

Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen
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Sonnensprenkel, ein Wort, das im Deutschen unbekannt ist, aber es ist die wohl einfachste Übersetzung des japanischen Worts Komorebi – es beschreibt Sonnenlicht, das durchs Blätterwerk der Bäume fällt.

»Immer ...

Sonnensprenkel, ein Wort, das im Deutschen unbekannt ist, aber es ist die wohl einfachste Übersetzung des japanischen Worts Komorebi – es beschreibt Sonnenlicht, das durchs Blätterwerk der Bäume fällt.

»Immer wenn sich seine Augen so weit entfernen, sehe ich das Sonnenlicht durch die Bäume flimmern. Fragmente der unterdrückten Emotionen und Sehnsüchte, die wir nicht in Worte fassen können, kreuzen einander für einen Augenblick im flackernden Licht, wie Schatten.« S. 86

Eine Geschichte jeglicher Kulisse beraubt, die sowohl den Leser aus auch die Protagonisten vom Eigentlichen ablenken würde. Eine Frau, ein Mann, eine leere Wohnung, das Ende einer Beziehung, von der nichts übrigblieb. Wirklich nichts?
Hiro und Aki haben sich aneinander aufgerieben, jetzt bezichtigen sie sich sogar gegenseitig, für den Tod ihres Bergführers vor einem Jahr verantwortlich zu sein. Jeder für sich glaubt, die Nacht nicht zu überleben.
Die beklemmende Atmosphäre, ausgelöst durch das gegenseitige Belauern, wird durch die Erzählstruktur immer mehr verdichtet. Onda hat sich für die Ich-Perspektive der beiden entschieden, die sich Kapitel für Kapitel abwechselt. Als Leser möchte man nicht verpassen, die richtigen Gedanken zu erfahren, um den Mörder zu entlarven. Man ist hin und her gerissen, deckt schon bald die eine oder andere Lüge auf, Widersprüche werden sichtbar. Jeder scheint sich seine Worte genaustens zu überlegen. Das Geheimnis aber ist die Beziehung der beiden, darin liegt auch die Auflösung des Buchs. Schon früh im Buch beschert uns Onda eine entscheidende Wendung, kurz darauf eine neue Entdeckung, die vieles in ein anderes Licht rückt. Hier entwickelt sich ein sogartiger Thrill.

Eine Charakterisierung der Figuren erfolgt ausschließlich über die Gedanken der beiden, die zum Teil widersprüchlich sind, manchmal voller Zuneigung, dann wieder von Eifersucht und Misstrauen geprägt. Die nicht ausgesprochenen Sehnsüchte und Einsichten wandeln sich je nach »Lichteinfall der diffusen Sonnenstrahlen«. Zufällige Gesten oder Geräusche lösen verdrängte Erinnerungen an das Ereignis vor einem Jahr aus, die sich wie ein Puzzle nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzen. Am Ende hat man ein Gefühl dafür, warum diese Beziehung gescheitert ist. Der innere Kampf, loszulassen, sich etwas Neuem zuzuwenden – oder vielleicht doch nicht? Das Wissen um den schmerzhaften Verlust, den Mut, eine unbewältigte Vergangenheit aufzuarbeiten, die für alle Beteiligten Überraschungen bereithält. Kann es die eine Wahrheit geben, wo doch die Wahrnehmungen unterschiedlich und individuell sind?
Nicht für alles wird uns Onda einen Beweis erbringen, einiges bleibt an Vermutungen zurück, die sich jeder selbst durchdenken kann.
Ich mochte Ondas Schreibstil, der ruhig und entschleunigend war. Ebenso die Gedankenspiele von Hiro und Aki, die reduzierte Kulisse, im Gegensatz zu den Rückblicken vor einem Jahr, die detailliert und bildhaft geschrieben waren.
Eine Empfehlung für alle, denen lose Enden liegen und die gern in fremden und eigenen Gedankenwelten versinken.

»Drei Menschen blicken vom Grund des Wassers hinauf zum Licht der Oberfläche. Ihre Augen sind von unschuldiger Sehnsucht erfüllt. Sie blicken schweigend auf die ferne Wasseroberfläche, die sie nie berühren, und auf das Licht, das sie nie erreichen können. Ihre Zukunft, die nie eintreffen wird.« S.231

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Nesbo in Höchstform

Blutmond (Ein Harry-Hole-Krimi 13)
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Während Harry in LA sein Leben mit Whiskey runterspült, werden in Oslo die Leichen zweier Frauen gefunden. Die Polizei hat keinerlei Spuren und Katrine Bratt weiß, dass nur Harry Hole den Fall lösen kann. ...

Während Harry in LA sein Leben mit Whiskey runterspült, werden in Oslo die Leichen zweier Frauen gefunden. Die Polizei hat keinerlei Spuren und Katrine Bratt weiß, dass nur Harry Hole den Fall lösen kann. Doch ihre Vorgesetzten wollen davon nichts wissen. Schließlich ist er wegen einiger Verfehlungen aus dem Polizeidienst ausgeschieden, worüber die meisten froh sind.
Der Immobilienmakler Røed, der die jungen Frauen kannte, steht unter dringendem Tatverdacht. Die Gerüchteküche brodelt, Deals platzen aus Angst, er könne etwas mit dem Tod der Frauen zu tun haben. Was er jetzt braucht, ist ein genialer Privatermittler, der seine Weste wieder weiß wäscht. Er heuert Hole für ein Vermögen an, der das Geld gut brauchen kann. Schließlich muss er einer Freundin helfen und seinen eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen. Dafür hat er aber nur wenige Tage Zeit – bis der Blutmond über Oslo aufzieht.

Als ich vor vielen Jahren den ersten Harry-Hole-Band gelesen habe, dachte ich, was für ein abgewrackter Ermittler – unkonventionell, stachlig, ein Außenseiter mit brillanten Verstand. Doch er ist mir schnell ans Herz gewachsen. Inzwischen ist es, als würde ich einen alten Freund wiedertreffen, einer, bei dem man nie weiß, wann er wieder abstürzt und welches grausame Schicksal ihn diesmal ereilt. Nesbø versteht es, seine Figuren so tief und authentisch zu zeichnen, wie kein zweiter. Die gute Nachricht für alle, die die Reihe noch nicht kennen, man kann Blutmond auch ohne Vorkenntnisse lesen, da Nesbø es geschickt versteht, Vergangenes in die aktuelle Handlung einzuflechten. Um aber die ganze Tiefe der Entwicklung Holes zu verstehen, kann ich nur jedem empfehlen, die Reihe von Beginn an zu lesen. Nur so kann man die Sympathie zu dem genialsten Säufer und Ermittler Norwegens aufbauen.

Mein letztes Rendezvous mit Harry ist 3 Jahre her und ich war gespannt, wie er mit dem letzten Schicksalsschlag fertig wurde, denn seitdem führt er ein Leben am Abgrund. Wir begegnen auch hier wieder vielen alten Weggefährten und Widersachern Holes. Die ihn lieben, wissen, dass seine Nähe nicht guttut. Die anderen fürchte ihn. Ich möchte hier gar nicht viel sagen, denn die Gefahr besteht, dass ich spoilern könnte.
Für mich war es ein Nesbø in Höchstform. 540 Seiten, auf denen es mir nicht ein Mal langweilig wurde. Typisch für die Reihe – wir erfahren sehr früh, wer der Täter ist, ohne dessen Identität zu kennen. Die Spannung verdichtet sich zunehmend, weil man wissen will, wie und wann Hole hinter das kommt, was wir Leser schon wissen – und diesmal hat es Nesbø uns echt nicht leicht gemacht. Eine derart komplexe Story, die, ohne zu verwirren, bis kurz vor Ende undurchsichtig bleibt. Keine Chance, auch nur ansatzweise hinter die Lösung zu kommen. Außerdem haben wir es hier mit einer Mordmethode zu tun, die ich grandios finde und so noch nie gelesen habe. Und alles, was es dazu als Hintergrundinformationen braucht, wird hier fast spielerisch in die Geschichte eingebunden. Etwas, das ich schon oft an anderen Autoren kritisiert habe. Chapeau Herr Nesbø. Reden wir gar nicht über die geschickt platzierten 180-Grad-Wendungen, die mich alle hinters Licht geführt haben. Und wenn man am Ende endlich aufatmen will, haut er uns noch einen Cliffhanger vor die Füße, der sich gewaschen hat.
Wer eine Reihe mit Tiefgang sucht, ist hier absolut richtig. Nesbø nicht zu kennen, ist fast schon eine Bildungslücke für Thrillerleser. Und mit Blutmond habe ich mein Jahreshighlight definitiv gefunden.

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