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Veröffentlicht am 27.05.2023

Ein warmherziger Roman mit Tiefgang

Zweckfreie Kuchenanwendungen
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Wer dieses wunderbar gestaltete Buch des Kröner Verlags in die Hand nimmt und zum Lesen aufschlägt, kann sich zweier Dinge sicher sein: Dass man währenddessen ständig Appetit bekommen wird und dass man ...

Wer dieses wunderbar gestaltete Buch des Kröner Verlags in die Hand nimmt und zum Lesen aufschlägt, kann sich zweier Dinge sicher sein: Dass man währenddessen ständig Appetit bekommen wird und dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, bis man es bis zur letzten Seite inklusive jeder Anmerkung eingesogen hat. Oder sollte ich besser sagen, weg gefuttert hat?

Die Singapurische Autorin Yeoh Jo-Ann erschafft in ihrem ersten Roman eine Welt, die die Lesenden fasziniert, überrascht aber vor allem warm hält. Zunächst bekommen wir den grummeligen Sukhin vorgestellt, welcher als 35jähriger Lehrer irgendwie mit sich und der Welt unzufrieden zu sein scheint. Dem tut er manchmal offen verbal, meist aber nur gedanklich kund und wirkt dadurch unwillkürlich in seiner Grantigkeit urkomisch. Schnell schließt man diesen Menschen ins Herz, wie eigentlich jede andere Figur auch in Yeoh Jo-Anns Roman. Die Handlung der Geschichte kommt ins Rollen, als Sukhin vollbeladen mit Schnickschnack für das Chinesische Neujahrsfest quasi in die Wohnung seiner ehemaligen Schulfreundin und großen Liebe Jinn hineintrampelt. Diese besteht nämlich aus einem Haufen Kartons, da Jinn auf der Straße lebt.

Aus dieser schicksalhaften Begegnung entspinnt sich nun eine über einen längeren Zeitraum hinweg erzählte Geschichte, die sich keineswegs nur um Sukhin und die zaghafte Wiederannäherung an Jinn dreht, sondern ebenso um Themen wie Homosexualität in Singapur, die Ressourcenverschwendung in einer heutigen, modernen Gesellschaft, der Zusammenhalt von Familie oder der selbstgewählten Familie. Mit sehr viel Feingefühl nähert sich die Autorin ihren Figuren durch Rückblicke an und kann dadurch diese facettenreich und wandlungsfähig darstellen. Tiefsinnig beschäftigt sie sich dabei mit ihren Figuren und deren Beziehungen untereinander wie auch den ausgesuchten gesellschaftlichen Themen. Nie wirkt der Roman dabei überfrachtet, immer leicht zu lesen und ausgeglichen. Allein die Darstellung der (offiziell in Singapur nicht vorhandenen) Obdachlosigkeit sowohl selbstgewählt bei Jinn als auch bei anderen auftauchenden Menschen, die auf der Straße leben, erschien mir bisweilen ein klein wenig zu unproblematisch.

Sprachlich besticht der Text durch seinen auflockernden, trockenen und immer ins Schwarze treffenden Humor. So häufig musste ich während der Lektüre schmunzeln, um seiner wahren aber nie zynischen Einschübe. Den Roman außergewöhnlich machen sporadisch eingefügte, kursiv gesetzte Texteinschübe, in welche eine gewisse Melancholie, die man in der Haupthandlung sonst nicht findet, beinhalten und sich sukzessive in das Wissen, welches man während der Lektüre erwirbt, einweben. Diese Passagen muten im Rahmen des ansonsten eher süffig geschriebenen Romans besonders poetisch an und entwickeln ihren ganz eigenen Sog, der einen großen Anteil am Spannungsbogen des Buches hat.

Dieser amüsante, einfühlsame, literarische Unterhaltungsroman verströmt meines Erachtens mit jeder Pore die Atmosphäre, die vergleichbar in der deutschsprachigen Literaturwelt Mariana Leky in ihren Romanen um interessante, liebenswerte Charakterköpfe, die vor ihren ganz eigenen Problemen und den Problemen der Welt stehen und gemeinsam irgendwie einen Weg durch die schweren Zeiten finden, heraufbeschwört. Für mich wäre „Zweckfreie Kuchenanwendungen“ ein guter Anwärter auf den Preis „Lieblingsbuch der Unabhängigen“. Eins meiner Lieblingsbücher des Jahres 2022 ist es schon jetzt geworden. Also lest dieses wunderbare Buch und lernt den multikulturellen Stadtstaat Singapur, seine Einwohner und gleich mit den Verlag Kröner kennen! Denn dieser hat nicht nur ein schön anzusehendes Buch entworfen, sondern auch noch für eine großartige Übersetzung durch Gabriele Heafs und deren Anmerkungen zum Text gesorgt.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 14.04.2023

Geiz in Zeiten historischer Umbrüche

Das Fräulein
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In seinem 1944 geschriebenen und 1945 erstmals veröffentlichten Roman „Das Fräulein“ nimmt der einzige Literaturnobelpreisträger Jugoslawiens nicht nur das titelgebende „Fräulein“ in den Fokus, sondern ...

In seinem 1944 geschriebenen und 1945 erstmals veröffentlichten Roman „Das Fräulein“ nimmt der einzige Literaturnobelpreisträger Jugoslawiens nicht nur das titelgebende „Fräulein“ in den Fokus, sondern auch die Umbrüche im gesellschaftspolitischen Gefüge rund um den Ersten Weltkrieg und die Goldenen Zwanziger auf dem Balkan.

Im Zentrum des Romans steht Rajka, deren Vater, ein angesehener Kaufmann Sarajevos, stirbt als sie selbst erst 15 Jahre alt ist. Er nimmt ihr am Sterbebett das Versprechen ab, ihr Leben lang sparsam zu sein. Sie solle ihre ganze Aufmerksamkeit und Kraft auf ihre Sparsamkeit richten. Sie müsse gegen sich und andere unbarmherzig sein, „all die sogenannten höheren Rücksichten in sich abtöten, die noblen Gewohnheiten wie inneren Edelmut, Großzügigkeit und Empfindsamkeit.“ Und genau das macht daraufhin Rajka, „das Fräulein“ wie sie von den Bewohnern Sarajevos genannt wird, auch wortgetreu. Sie legt all diese „Schwächen“ ab und wird eine unbarmherzige junge Frau.

Gleich zu Beginn erfahren wir, dass es mit dem Fräulein nicht gut ausgehen wird, wie begleiten sie nun durch die Augen des auktorialen Erzählers, welcher sich als Teil der Bevölkerung Sarajevos sieht, ca. 30 Jahre lang bis zu ihrem Ende als „alte Jungfer“ mit 45 Jahren. Historisch deckt dieser Roman gerade die Zeitspanne kurz vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg ab und endet 1935.

Diese historische Episode scheint vom Autor keinesfalls willkürlich gewählt, war er doch selbst zu Beginn des Ersten Weltkriegs – welcher bekanntermaßen mit dem „Attentat von Sarajevo“ auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand seinen Anfang nahm – Mitglied der revolutionären Organisation Mlada Bosna und verbrachte ein Jahr im Gefängnis aufgrund von Verwicklungen mit Drahtziehern des Attentats. Später sollte er als angesehener Diplomat für den jungen Vielvölkerstaat Jugoslawien tätig sein.

So bekommen wir im ersten und letzten Drittel des Romans ein ausgefeiltes und sprachlich grandioses Psychogramm einer jungen Frau gezeigt, die durch ein verhängnisvolles Versprechen am Sterbebett des Vaters von einfacher Sparsamkeit in eine „Sucht des Geizes“ abdriftet. Dieses Leben dessen Sinn und Ziel der Geiz ist, bekommen wir unglaublich plastisch und detailliert beschrieben. So wird das Fräulein sogar durch ihre krankhafte Rigidität bis in den Tod getrieben. Im Mittelteil wartet der Roman jedoch mit einer Überraschung auf: in der Peripherie, neben den zwielichtigen Geldgeschäften von Rajka und ihrem Untergang mit Ansage, erleben wir das Attentat von Sarajevo, die Folgen des Attentats für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen und Menschen der Stadt, die Zeit des Krieges, die Idee von einer anderen Gesellschaftsordnung sowie die überschwänglichen „Zwischenkriegsjahre“ der Goldenen Zwanziger mit.

Gerade diese Kombination aus Psychogramm einer ungewöhnlichen Frau und gesellschaftlichen Zuständen in dieser Zeit an diesem Ort (neben Sarajevo wird auch Belgrad eine Rolle spielen) empfand ich während der Lektüre als unglaublich bereichernd. Sprachlich wie auch inhaltlich konnte mich Ivo Andric mit seinem Roman so sehr erreichen, dass ich nach weiteren Werken des Autors nun die Augen offen halten werde.

Ergänzt wird diese Ausgabe von Zsolnay von einem Nachwort Michael Martens‘, welches sich genauer mit dem zentralen Thema „Geiz und Ehrgeiz“ beschäftigt. Hier zieht Martens Parallelen zwischen der Protagonistin Rajka und ihrem Autor Ivo Andric. Dieser sei damals als geizig verschrien gewesen, was es jedoch zu überprüfen gilt. Auch wird ein Blick auf die Sonderrolle Rajkas als krankhaft geizige Frau in der Literaturgeschichte geworfen und „Das Fräulein“ in einen Kontext zu den anderen beiden Romanen der inoffiziellen „Balkan-Trilogie“ gesetzt. Andric habe zwischen 1941 und 1944 drei Romane während der deutschen Besetzung Belgrads geschrieben, wovon „Das Fräulein“ das letzte und auch damit nächste zum damals aktuellen Weltgeschehen gewesen ist. Das Nachwort ist durchaus informativ und interessant zu lesen, wenngleich ich mir an dieser Stelle doch eher eine Einordnung in die eigenen gesellschaftspolitischen Bestrebungen des Autors zur beschriebenen Zeit gewünscht hätte. Da er selbst ein Protagonist in diesem welthistorischen Geschehen gewesen ist, hätte es sich angeboten, das Nachwort für eine biografische Erörterung im Zusammenhang mit den geschilderten Szenen im Buch zu nutzen.

Somit kann ich die Lektüre dieses sprachlich hervorragend präzisen, psychologisch interessanten und historisch durchaus relevanten Romans uneingeschränkt empfehlen. Der Roman für sich genommen ist für mich ein 5-Sterne-Buch, allein das nicht hundertprozentig zufriedenstellende Nachwort führt zu minimalem Abzug.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 24.03.2023

Eine schonungslose Milieustudie aus den Betonblöcken des Ruhrgebiets

Keine gute Geschichte
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Mit Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ begeben wir uns mit der Ich-Erzählerin Arielle zurück zu ihren Wurzeln in einen Essener „Problemstadtteil“, wie wohl einige Politiker:innen es nennen würden. ...

Mit Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ begeben wir uns mit der Ich-Erzählerin Arielle zurück zu ihren Wurzeln in einen Essener „Problemstadtteil“, wie wohl einige Politiker:innen es nennen würden. Dort leben in den Betonsünden der Nachkriegszeit ein großer Anteil von Menschen mit nicht deutsch klingenden Namen und Hauttönen, die eher an Beyoncé als an Helene Fischer denken lassen. Arielle ist eine von ihnen, sie weiß, ihre dunklen Haare und Augen stammen von ihrem Vater, den sie nie kennengelernt hat. Ihre Mutter ist nicht mehr da, verschwunden, wie wir zügig erfahren, denn Arielle richtet ihre Erzählung an ein „Du“, welches sich als die verschwundene Mutter herausstellt. Nun ist ihre Großmutter mütterlicherseits frisch aus dem Krankenhaus entlassen und nach mehr als zehn Jahren kehrt sie das erste Mal zurück an ihren Ursprung, dem sie den Rücken gekehrt hatte, um – mittlerweile – ihrem erfolgreichen Leben als Social Media Managerin in Düsseldorf nachgehen zu können. Ihre Heimkehr überschneidet sich mit dem Verschwinden zweier neunjähriger Mädchen, die ebenso aus dem Stadtteil stammen und deren Mütter mit Arielle in die Schule gegangen sind. Gezwungenermaßen quartiert sich Arielle eine Weile bei ihrer Großmutter ein, in deren Wohnung Arielle aufwuchs und in der ihr Mädchenzimmer von damals immer noch genauso existiert, wie sie es verlassen hat.

Lisa Roy entwirft mithilfe der hippen Sprache ihrer Ich-Erzählerin das Bild eines Milieus in der Armut von heute. Ungeschönt gibt sie uns Lesenden einen Einblick in die unterste Schicht der Gesellschaft, in der, wie an einer Stelle angemerkt, die Mietverträge in den abgeranzten Wohnungen des Viertels ebenso von einer Generation an die nächste weitervererbt werden wie die Armut und das Übergewicht. Hinter solchen saloppen Feststellungen stecken natürlich gut erforschte soziologische Erkenntnisse, die sich in den letzten Jahren immer mehr bewahrheitet haben: Wer einmal in der Armut steckt, hat kaum Chancen einen sozialen Aufstieg zu schaffen; im Gegenteil geht die Spirale im Zweifel eher abwärts. Arielle ist da eine Ausnahme, sie hatte Glück, war als junge Frau mit ihrem miesen Assistentinnenjob in einer Werbefirma zufällig am Puls der Zeit, als sich die Werbung ins Internet und zu den Influencer:innen bewegte. Nur konnte sie nie das Gefühl abschütteln, eine Hochstaplerin zu sein, die man irgendwann bloßstellen, ihr ihre Herkunft anmerken würde. So zeichnet Roy mithilfe von Erinnerungen Arielles an ihre Kindheit, Jugend und die Zeit in Düsseldorf nach, wie sich diese junge Frau in immer stärker in eine Depression hineinbewegt hat und erst kurz vor dem Anruf, welcher sie in die Wohnung der Großmutter holte, von einem mehrmonatigen Psychiatrieaufenthalt entlassen wurde. Von dort ist sie keinesfalls wie neu geboren zurückgekommen, leidet weiterhin an depressiven Episoden, verkriecht sich nun in ihrem alten Mädchenzimmer mitunter für Tage, oder geht hinaus ins Viertel, macht Bekanntschaft mit John, dem Vater von Ashanti, einer der verschwundenen Mädchen.

Trotz des mitunter hingerotzten, mit zeitgemäßen Anglizismen und auch Sarkasmus gespickten Tons von Arielles Beschreibungen, verdeutlicht Roy sehr klug, wie dieses Milieu, aus dem Arielle stammt, funktioniert. Welche ungeschriebenen Gesetze es gibt, welche vorgezeichneten Lebenswege. Dabei handelt es sich nicht um eine happy-go-lucky Geschichte, in welcher die Großmutter eine warmen, altersweise Funktion einnimmt. Nein, es ist vielmehr relativ schnell klar, dass sich Arielle bestmöglich von dieser Person befreien muss. Aber dafür muss sie zurück gehen, zurück an den Ort ihrer Herkunft aber auch zurück in ihren Erinnerungen. Die Erinnerungen an die Mutter, die mit sechs Jahren enden, die aber durchgängig positiv sind. Eine Spannung des Romans wird nicht nur durch die Annäherung Arielles an die Frage, was damals wirklich mit ihrer Mutter, sondern auch, was in der Gegenwart mit den verschwundenen Mädchen passiert ist, angetrieben. So sagt Arielle an einer Stelle:

„Wenn das hier ein Krimi und nicht mein Leben wäre, würde ich über dich und dein Verschwinden als Puzzle nachdenken. Ich habe ein paar Teile, ein paar sind für immer verloren, aber irgendwo muss es auch noch welche geben, und wenn ich die fände, wäre vielleicht genug vom Puzzle zusammen, um das Bild zu erkennen, auch wenn es ein unvollständiges bleibt.“

Gegen Ende nimmt die Erzählung, die sich zuvor wirklich sehr differenziert mit dem Milieu beschäftigt und Arielles Aufwachsen hat, tatsächlich immer mehr an Spannung zu, fühlt man sich fast in einem Thriller, in dem sich immer mehr Indizien auftun. Leider gibt es hier für mich den einzigen Kritikpunkt am ansonsten wirklich erfrischenden, klugen, mutigen Roman Roys: Arielle bekommt Kenntnis von einem ungeheuerlichen Umstand, der mit dem Verschwinden der Mädchen zusammenhängt, und alles was sie tut, ist wieder in ihr altes Muster zurückzufallen, sie verkriecht sich in ihrem Mädchenzimmer für mehrere Tage und hat Sex mit John. Das wirkt an dieser Stelle aber so abwegig, auch wenn man sich das passive, desinteressierte Verhalten mit der depressiven Grunderkrankung der Protagonistin erklären könnte. Vielleicht wollte die Autorin hier ein Zeichen setzen, dass es sich eben nicht um einen Krimi oder Thriller handelt, trotzdem konnte ich bei dem Fortgang der Geschichte nicht mehr so richtig mitgehen.

Trotz dieses einen Kritikpunktes ist der Debütroman der Autorin über das Aufwachsen in den grausten und rausten Ecken des Ruhrgebiets mit seinem Blick auf den Zusammenhang von Armut und Abstammung ein fraglos empfehlenswertes Buch. Mit erfrischend junger Sprache stellt es den Fokus scharf und regt zum Nachdenken über diese scheinbar fest zementierten Lebenswege an.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 17.03.2023

Southern trees bear strange fruit

Die Bäume
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Würde man einen cineastischen Vergleich zu diesem Buch ziehen wollen, könnten sich Leser:innen bei der Lektüre von „Die Bäume“ von Percival Everett auf einen wilden Genremix einstellen. Man nehme die Südstaaten-Atmosphäre ...

Würde man einen cineastischen Vergleich zu diesem Buch ziehen wollen, könnten sich Leser:innen bei der Lektüre von „Die Bäume“ von Percival Everett auf einen wilden Genremix einstellen. Man nehme die Südstaaten-Atmosphäre der ersten Krimi-Serienstaffel von „True Detective“, inklusive der mysteriösen Mordfälle, und vermische dies mit dem bissigen Humor von Spike Lee-Filmen wie „Blackkklansman“ und deren immer vorhandenen, ernsten Anklage an den aktuellen US-amerikanischen Rassismus und der immer noch nicht aufgearbeiteten diesbezüglichen Historie. Man erhält einen vollkommen überraschenden, kreativen Roman, mit filmreifen Dialogen, interessanten Figuren und knallharter Sozialkritik.

Percival Everett schickt seine schwarzen Ermittler in das Pulverfass Mississippi, genauer in den Ort Money, um sie (zunächst nur) einen skurrilen Mord an einem weißen Redneck im White Trash-Stadtteil „Small Change“ untersuchen zu lassen. Dort wurde nämlich neben der Leiche des Weißen ebenso die Leiche eines unbekannten schwarzen Mannes gefunden. Für die Bewohner ist schnell klar: Nur der tote (!) Schwarze kann der Mörder des Weißen gewesen sein. Keine Frage, keine Logikfehler ersichtlich. Merkwürdig wird das Ganze zusätzlich dadurch, dass die Leiche dem in 1955 gelynchten Jungen Emmett Till stark zu ähneln scheint und - noch merkwürdiger - als die Leiche des schwarzen Jungen dann auch noch plötzlich verschwindet. Neben einer weiteren frischen Leiche eines Rednecks wieder auftaucht und gleich wieder verschwindet. Mit viel hintergründigem Witz entspinnt der Autor nun eine mysteriöse Geschichte, die sich mit der Historie der Lynchjustiz an afroamerikanischen und asiatischstämmigen Menschen in den USA sowie dem immer noch tief verwurzelten Rassismus zur heutigen Zeit beschäftigt.

Wenn man Beschreibungen zu dem vorliegenden Roman liest, kann man kaum glauben, dass das zusammenpasst. Diese „Hommage an die Opfer der Lynchjustiz“ und „Rachefantasie“ soll „witzig, surreal und absurd“, ja eine Satire, sein. Funktioniert das denn? Kann man eine Satire auf dieses schreckliche Themengebiet schreiben? Und darf man das? Ja, Percival Everett kann und darf das. Das wird schon nach wenigen Seiten der Lektüre klar. Er entwirft mit wenigen Pinselstrichen vollkommen authentisch wirkende Charaktere, die stellvertretend für Typen bestimmter Personengruppen stehen können, und hier aufeinandertreffen. Diese packt er in ein Szenario, welches an sich schon ungewöhnlich ist: Schwarze Ermittler:innen bewegen sich im Milieu von (mehr oder nur geringfügig weniger) überzeugten Rassisten im diesbezüglich geschichtsträchtigen Südstaate Mississippi. Die Geschichte, so sehr sie auch zunehmend mit magischen Elementen spielt, basiert auf der realen, historischen Person Emmett Till sowie dessen Mördern und unzähligen weiteren Fällen brutalster Lynchmorde. Das ist eine heikle Konstruktion, aber dem Autor gelingt das Wagnis bravourös. Durch klugen Witz enttarnt er die Dummheit, die hinter dem tief verwurzelten Hass der Rassisten steckt und lässt diese gnadenlos auflaufen.

Der Schreibstil Everetts ist knackig und flott. Die kurzen Kapitel lesen sich wie ein Pageturner fast von allein, die Dialoge sind rasant und einfach nur filmreif. Die Wortspiele und doppelten Böden in den Formulierungen laden dazu ein, das Buch im englischsprachigen Original zu lesen, denn nur dann kommt die sprachliche Raffinesse des Autors vollkommen zum Tragen. Leider schafft es die Übersetzung von Nikolaus Stingl nicht an den Originaltext heran. Manche Formulierungen sind entweder gar nicht übersetzt und nicht nachvollziehbar im Englischen belassen, andere werden wörtlich übersetzt und klingen dadurch einfach nur falsch. Hierbei handelt es sich um ein mir bekanntes Problem mit den Übersetzungen von Nikolaus Stingl. In allen Büchern, die ich in seiner Übersetzung gelesen habe/lesen musste, treten dieselben Probleme auf. Es wundert mich daher sehr, dass der Verlag weiterhin an ihm festhält, wird doch der Lesefluss durch seine merkwürdigen Übersetzungsentscheidungen mitunter sehr gestört. Zum Glück ist Herr Stingl nicht auf die Idee gekommen, den im Buch eingebunden Liedtext des Billie Holiday-Klassikers „Strange Fruit“, worauf sich auch der Titel dieser Rezension bezieht und welcher sich bildgewaltig mit den Opfern der Lynchmorde beschäftigt, zu übersetzen. Denn dieser Songtext kann seine erschütternde Kraft im vollen Umfang nur im englischen Original entfalten.

Unabhängig von der Übersetzung, empfinde ich nur zwei Kapitel, in denen auch der damalige US-Präsident Donald Trump in persona auftritt, als kritikwürdig. Hat der Autor noch im vorherigen Kapitel Trump durch mehrere treffsichere, subtile Andeutung gekonnt aufs Korn genommen, wird er im nächsten Kapitel durch wirklich unterirdisch platten Klamauk vorgeführt. Fraglos animiert die reale Person zum gnadenlosen Bloßstellen. Aber wir alle wissen, dass es sich hier schon von allein um eine niveaulose Witzfigur handelt, weshalb mir dieser Klamauk ein etwas zu billiger und auch in den letzten Jahren einfach zu häufig ausgetretener Zug ist. Hier verlässt Everett sein ansonsten immer sehr hohes Niveau an messerscharfer Satire zugunsten einer zu simpel gehaltenen Parodie. Schade.

Die mangelhafte Übersetzung möchte ich diesem ansonsten über weite Strecken grandiosen Werk nicht negativ anlasten und runde deshalb bei 4,5 Sternen auf die volle Punktzahl auf. Es handelt sich hierbei um einen absolut lesenswerten Roman, der durch seinen Stil und die abstruse Handlung überrascht. Fast erkennt man den Autor des Vorgängerromans „Erschütterung“ hier kaum wieder, was aber zeigt, dass er viele Spielarten beherrscht und für Überraschungen in der Zukunft sorgen kann. Eine klare Leseempfehlung für dieses „Highlight mit Abstrichen“!

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 06.02.2023

Ein kleiner, aber mächtiger Roman

Macht
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In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin ...

In diesem Roman der norwegischen Schriftstellerin und Fotografin dreht sich alles um Macht. Aber eben nicht um politische Macht, sondern um die Macht über den eigenen Körper. Denn die namenlose Ich-Erzählerin hat vor 15 Jahren eine Vergewaltigung erleben müssen und kämpft seitdem um diese Macht, nachdem sie sie an einem Abend komplett verloren hatte.

Mit lakonischer Sprache schildert uns die Erzählerin ihre aktuelle Lebenswelt. Sie ist Krankenpflegerin, verheiratet und hat zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, ist mittlerweile gut situiert. Diese finanzielle Unabhängigkeit nutzt sie, um durch luxuriöse Kleidung sowie teure Pflege- und Kosmetikprodukte ihren Körper nach den eigenen Vorstellungen formen zu können. Alles muss perfekt sein. Oder zumindest so scheinen. Denn sie meint auf der Straße anderen Frauen ansehen zu können, ob sie in ihrem Leben auch schon vergewaltigt worden sind. Eine von zehn Frauen in Norwegen hat diese Erfahrung machen müssen. Nun möchte Sie mit aller Macht die Kontrolle über ihren Körper zurück, hätte sie am liebsten nie abgegeben.

Anhand kleinster, alltäglicher Situationen macht Furre deutlich, wie sich die Vergewaltigung ganz ohne Verfallsdatum noch viele Jahre nach dem Vorfall auf das Leben ihrer Protagonistin auswirkt. Der Gang zur Zahnärztin, das damit verbundene an die Decke starren und warten, dass es endlich vorbei ist. Einmal Angst gehabt zu haben, durch die Hand eines Mannes zu sterben und nun jede Nacht neben einem solchen im Ehebett zu liegen. Ständig der Bedrohung einen Schritt voraus sein zu wollen, ob beim Weg nachhause vom Bus oder bei der Krebsvorsorge. Immer die Kontrolle, die Macht behalten. „Ich bügele meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus.“

Der eigentliche Akt der Vergewaltigung wird dabei nicht detailliert von Furre geschildert. Das braucht es nicht, um den Horror einer solchen Tat zu verdeutlichen. Dabei hadert die Protagonistin doch auch stark mit sich selbst. Zweifelt in Gedanken noch Jahre später an, ob es überhaupt „definitionsgemäß“ eine Vergewaltigung war, ob sie sich nicht hätte mehr wehren sollen, ob es nicht doch ihre eigene Schuld war. Ganz meisterhaft lotet die Autorin mithilfe der Gedanken ihrer Erzählerin aus, was in unzähligen #metoo-Debatten seit dem Herbst 2017 zur Sprache kam. Sie ermöglicht es dabei ihrer Erzählerin den Vorfall und die Konsequenzen aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Wobei uns Leser:innen durchaus bewusst wird, dass diese Abwägungen für die Erzählerin mitunter eher Vermeidungsstrategien darstellen und sie in ihrer Heilung behindern. Sie berichtet uns von ihren mal mehr, mal weniger adäquaten Bewältigungsstrategien und wir dürfen sie ein Stück auf ihrem Weg der Bewältigung begleiten.

Sprachlich ist der Roman sehr nüchtern aber dadurch auch immer unglaublich präzise formuliert. Auf den nur 170 Seiten finden sich unzählige prägnante Sätze, die lange nachhallen. Ebenso wie die ganze Geschichte dieses Romans, oder besser: dieser Frau. Denn es ist leider die Geschichte von so vielen Frauen (und weniger, aber auch Männern). Jede Person hat eigene Bewältigungsstrategien, hier bekommen wir eine Auswahl davon zu lesen. Das ist unglaublich aufschlussreich und einprägsam. Und letztlich vielleicht sogar aufgrund der lakonischen Sprache besonders erschütternd.

Auch wenn die Autorin zum Ende hin ein wenig diese knackige Art der Beschreibungen aus den Augen verliert, finde ich den Roman einfach nur großartig. Dünn aber ungemein gehaltvoll, weshalb ich die Lektüre dieses Buches nur dringend empfehlen kann.

Zum Abschluss noch ein Wort zur Gestaltung des Buches. Die Covergestaltung ist wirklich überwältigend treffend in seiner Mehrdeutigkeit. Erwähnenswert sind aber auch die beiden Fotografien auf dem Vor- und Nachsatz. Diese stammen von der Künstlerin Niki de Saint Phalle aus dem Jahre 1961. Eine Künstlerin, die sich Zeit ihres Lebens mit den Folgen einer Vergewaltigung auseinandergesetzt hat. Und sie spielt auch eine gewisse Rolle für die Erzählerin, sodass bei dieser Ausgabe des DuMont Buchverlags wirklich von vorn bis hinten alles durchdacht gestaltet wurde. Toll!

4,5/5 Sterne

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