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Veröffentlicht am 02.08.2017

Kriminalkomödie mit rheinischem Lokalkolorit und Zeitgeist der 1950er

Halali
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„Halali“ ist ein Jägergruß mit dem in der allgemeinen Bedeutung die Jagd beendet wird. Im Kriminalroman mit gleichlautendem Titel von Ingrid Noll begleitet der Gruß ein Verbrechen und eröffnet damit erst ...

„Halali“ ist ein Jägergruß mit dem in der allgemeinen Bedeutung die Jagd beendet wird. Im Kriminalroman mit gleichlautendem Titel von Ingrid Noll begleitet der Gruß ein Verbrechen und eröffnet damit erst eine Reihe von weiteren Gesetzesübertretungen. Die Erzählung nimmt den Leser mit zu Ereignissen, die die Protagonistin Holda Mitte der 1950er Jahre in der Nähe der damaligen Bundeshauptstadt erlebt hat. Das Cover des Buchs ziert ein Ausschnitt aus dem Gemälde von Caravaggio mit dem Titel „Judith enthauptet Holofernes“. Die Frage, ob das Bild einen Bezug zur Erzählung hat, kann ich bejahen, auch wenn hier niemand geköpft wird.

Holda ist 82 Jahre und Witwe. Ihre Enkelin Laura wohnt im gleichen Hochhaus und kommt oft zu Besuch. Dabei erzählt Holda gerne aus ihrer Jugendzeit und zieht Vergleiche zu früher. Dabei stellt sie technische Errungenschaften von damals und heute gegenüber, Jugendsprache, Berufsbezeichnungen und Benimmregeln. Mit 20 Jahren, also sie noch nicht volljährig war, zog sie aus einem Eifeldorf nach Bad Godesberg und arbeitete als Sekretärin im Innenministerium in Bonn. Mit ihrer gleichaltrigen Kollegin Karin verbrachte sie ihre Freizeit in der sie auch darüber reden, wie man einen passenden Ehemann findet. Bei einem Spaziergang finden sie in einem Starenkasten ein Briefkuvert mit geheimnisvollem Inhalt. Diese Begebenheit ist der Beginn einer Reihe von ungewöhnlichen Verkettungen. Holda und ihre Freundin verstricken sich eher versehentlich in unangenehme Situationen mit kriminellen Folgen.

Ingrid Noll weiß, wovon sie in diesem Roman schreibt. Einige Male habe ich mich gefragt, wie viel Ingrid in Holda steckt, denn nicht nur das Alter ist identisch. Die Autorin lebte in den 1950ern ebenfalls in Bad Godesberg. Ihre Erfahrungen aus dieser Zeit sind sicher in die Schilderungen eingeflossen. Als Rheinländerin war es mir ein ganz besonderer Genuss immer wieder Sätze in Mundart zu lesen, denn auch ich bin mit diesem Slang aufgewachsen. Überhaupt verhielten sich viele Personen so, wie ich es aus meiner Kindheit in den 1960er her kenne und so kann ich sagen, dass ich mich rundum wohl im Umfeld der Geschichte gefühlt habe.

Holda ist ein eine junge Frau, die aus ihrem Leben mehr machen möchte, als in der heimischen Bäckerei zu verkaufen. Sie ist strebsam und fleißig und hält sich im Allgemeinen an Regeln und Vereinbarungen. In dem für sie typischen sarkastisch lakonischen Erzählstil lässt die Autorin ihre Protagonistin das Geschehen in der Ich-Form schildern. Es brachte mich zum Schmunzeln, wie Holda ihre Contenance verteidigte. Wieder einmal gelingt es Ingrid Noll einige schrullige Charaktere zu schaffen, wie die lebenslustige Karin, die standesbewusste Gräfin oder den disziplinierten Regierungsrat.

Bereits auf den ersten Seiten vertraut Holda dem Leser an, dass sie den Pfad der Tugend in ihren jungen Jahren auch mal verlassen hat. Ab diesem Zeitpunkt wartete ich gespannt darauf, worin ihre kriminelle Aktivität denn bestehen würde. Auch diesmal schafft es die Autorin mit einem Augenzwinkern mir zu vermitteln, dass so ein Gesetzesübertritt ungewollt, aber kaum ungewöhnlich ist. Der Vergleich zwischen dem Heute und Gestern erdet den Roman in der Realität. Die Intrigen sind zwar bitterböse, reihen sich aber in den damaligen Alltag ein.

Wer die Romane von Ingrid Noll mag, der wird auch mit „Halali“ bestens unterhalten werden wie ich. Mir hat vor allem gefallen, dass die Autorin diesmal mit dem zeitlichen Vergleich mal einen ganz anderen Handlungsrahmen für ihre Erzählung geschaffen hat. Sehr gerne gebe ich für dieses Buch eine Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 16.06.2017

Mehrere Erzählstränge bestens verflochten

Die Dame mit dem blauen Koffer
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Hélène Hel ist 96 Jahre alt und lebt im Seniorenheim in dem kleinen französischen Ort Milly. Ihre Gedanken schweifen täglich zum Meer. Dort steht sie dann am Strand und wartet auf ihren Liebsten Lucien, ...

Hélène Hel ist 96 Jahre alt und lebt im Seniorenheim in dem kleinen französischen Ort Milly. Ihre Gedanken schweifen täglich zum Meer. Dort steht sie dann am Strand und wartet auf ihren Liebsten Lucien, der jedoch schon vor vielen Jahren verstorben ist. Im Buch „Die Dame mit dem blauen Koffer“, dem Debütroman von Valérie Perrin, erzählt sie der jungen Pflegehelferin und Protagonistin Justine ihre Lebensgeschichte. Justine notiert sie auf Wunsch des Enkels in ein Notizheft. So wie nur die Gedanken von Hélène und nicht sie selbst am Meer sind, so ist auch die Figur auf dem Cover lediglich ins Bild montiert und nicht wirklich bei der Fotographie vor Ort. Schon die Gestaltung des Titels bei dem ich glaubte, durch den Wellengang das Meer rauschen zu hören, machte mir Lust darauf, mehr darüber zu erfahren, warum dieser Ort für Hélène so stark mit Lucien verknüpft ist.

Justine lebt bei ihren Großeltern. Ihre Eltern sowie ihr Onkel und ihre Tante sind bei einem Unfall ums Leben gekommen und ihr jüngerer Cousin gehört ebenfalls zum Haushalt. Ihr Beruf ist ihr Traumjob, für den sie sich nach dem Abitur anstelle eines Studiums entschieden hat. Ihr liegen die Bewohner des Seniorenheims sehr am Herzen und daher verbringt sie hier über ihre Arbeitszeit hinaus viele Stunden. Zum Ausgleich besucht sie alle drei Wochen eine Diskothek. Sie flirtet gern und lässt sich hin und wieder auf einen Mann ein, eine feste Beziehung hat sie nicht. Die Liebe von Hélène zu Lucien spricht in Justine etwas an, das sie dazu bringt, über die Liebe ihrer Großeltern und deren Verlust der Söhne und Schwiegertöchter nachzudenken. Aber auf Fragen nach Details zum Unfallgeschehen erhält sie nur unbefriedigende Antworten. Justine vermutet, dass ihr etwas verschwiegen wird und macht sich auf die Suche nach den Hintergründen.

Der Roman ist eine leise Geschichte oder eigentlich zwei. Zu Beginn wirkte Justine auf mich etwas arglos, konnte mich im Laufe des Romans aber davon überzeugen, dass sie ihre Ideen und Meinungen auch immer in die Tat umsetzt. Sie liebt ihre Tätigkeit Tag für Tag. Die Autorin beschreibt sie im Umgang mit den Senioren mitfühlend und hilfsbereit. Für ihren Cousin spart sie einen Teil ihres Geldes, um ihm uneigennützig ein Studium zu finanzieren. Nur eine feste Partnerschaft kann sie sich augenblicklich nicht vorstellen. Ich habe mich für sie gefreut, dass die Liebe sie dennoch nicht vergessen hat. Das Verhältnis zu ihren Großeltern bleibt unklar. Zwar leben sie zu viert in einem Haushalt, der von der Großmutter geführt wird, doch jeder geht seinen eigenen Weg. Dieses eher distanzierte Verhalten klärt sich im Laufe der Geschichte, denn Justine drängt zunehmend auf die Beantwortung ihrer Fragen zum Hergang des Unfalls ihrer Eltern. Dabei deckt sie einige Familiengeheimnisse auf, die auch eine Erklärung für das augenblickliche Stimmungsbild bieten

Gleichzeitig zeichnet Justine feinsinnig die von Hélène erzählte Geschichte auf, die im Text kursiv zu lesen ist und die mich mit in die Vergangenheit in die 1920er Jahre nahm. Hélène ist Legasthenikern, eine Krankheit die damals noch nicht erkannt wurde. Sie bricht die Schule ab und arbeitet zu Hause als Schneiderin. Lucien hat bereits in jungen Jahren die Angst, wie sein Vater zu erblinden. Beide finden bei dem jeweils anderen Unterstützung und Halt, bis der zweite Weltkrieg ausbricht, sich das tägliche Leben ändert und schließlich Lucien zum Kriegsdienst eingezogen wird. Eine schicksalsschwere Zeit beginnt für die beiden. Hélènes Geschichte ist ungewöhnlich, berührend und so mitreißend, dass die Seiten wie im Flug gelesen waren.

Ganz nebenbei erhält der Roman zusätzlich Spannung durch bestimmte Vorfälle im Seniorenheim, deren Klärung bis zum Ende des Buchs ausstehen. Fließend gelingt Valérie Perrin die Verknüpfung der einzelnen Erzählfäden, die sie zu einem gelungenen Großen und Ganzen zusammenfügt. Eindringlich und offen beschreibt sie Liebesszenarien. Trotz der teils tragischen Ereignisse verliert die Geschichte nie einen gewissen heiteren Unterton. Das Buch war für mich beste Unterhaltung und daher empfehle ich es jedem gerne weiter.

Veröffentlicht am 05.06.2017

Rivalität in der Jugendzeit von Elena und ihrer Freundin - unverändert stark

Die Geschichte eines neuen Namens
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„Die Geschichte eines neuen Namens“ ist der zweite Band der vierteiligen Reihe von Elena Ferrante, dem Pseudonym einer italienischen Autorin. Die Bücher handeln von der über 60-jährigen Freundschaft der ...

„Die Geschichte eines neuen Namens“ ist der zweite Band der vierteiligen Reihe von Elena Ferrante, dem Pseudonym einer italienischen Autorin. Die Bücher handeln von der über 60-jährigen Freundschaft der Ich-Erzählerin Elena und der gleichaltrigen Raffaella, die von Elena nur Lila gerufen wird, beginnend im Neapel der 1950er bis in die Gegenwart. Das vorliegende Buch schildert die Jugendjahre der beiden Protagonistinnen. Die Erzählung schließt unmittelbar an das Ende des vorigen Teils an.

Wie bereits im ersten Buch machte mich die Autorin neugierig auf die folgenden Ereignisse, indem sie mir gleich zu Beginn einen ganz kurzen unvollständigen Blick auf den Stand der Dinge im Jahr 1966 gewährt. Laut der inzwischen 22-jährigen Elena kriselt es in der Freundschaft, sie treffen einander nur noch selten und dennoch hat Lila ihr gerade erst eine Schachtel mit Heften anvertraut, deren Inhalt sie vor deren Ehemann verstecken soll. Außerdem hat Lila ihre Freundin gebeten, sie nicht zu öffnen. Elena selbst wohnt zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Neapel. Sie hat sich inzwischen einen guten Ruf erarbeitet … und bereits nach wenigen Seiten las ich, dass Elena den Inhalt der Schachtel vernichtet hat. Mir stellte sich dadurch natürlich unwillkürlich die Frage, was sie dazu veranlasst hat.

Das Cover des Buchs nimmt direkten Bezug darauf, dass Elenas Gedanken am Anfang des zweiten Teils zum Tag der Hochzeit von Lila zurückgehen. Einen farblichen Akzent setzt der Rosenstrauß in den Händen der Braut, dessen Blütenblätter mit dem Wind davonwehen. Ob das als ein Vorzeichen für die Ehe von Lila zu sehen ist und bedeutet, dass ihr Glück wie die Blüten hinwegwehen wird?
Die Welt von Elena und Lila ist auch jetzt noch zu Beginn ihrer Jugendjahre recht klein. Sie wohnen beide im neapolitanischen Viertel Rione, einer ziemlich heruntergekommenen Wohngegend mit großen Mietshäusern. Ihre Freunde sind immer noch die gleichen wie in Kindertagen. In einigen Aussagen Elenas konnte ich nachvollziehen, dass auch ihre Kenntnisse über Politik und Gesellschaft kaum über ihr eigenes Territorium hinausgehen, obwohl sie doch eine gute Schülerin ist und viele Bücher liest. Aus dem Inhalt der in der Schachtel gefundenen Hefte schließt sie, dass auch Lila nie ihr Interesse am Lernen aufgegeben hat.

Wie bisher besteht die Rivalität um die Vorrangstellung in ihrer Freundschaft weiter. Lila entwickelt dabei eine Arglist, die darin besteht, jede Anfeindung anderer Personen gegen sie früher oder später zurückzuzahlen. Sie scheut nicht davor zurück, Elena für ihre Zwecke einzuspannen. Doch ihr Traum, von ihren Eltern unabhängig zu leben und die damals vorherrschende Rollenteilung in der Ehe, begleitet mit körperlicher Gewalt, hinter sich zu lassen, droht schon mit Beginn ihrer Ehe zu platzen. Elena spürte, dass Lila durch ihre Hochzeit einen Vorteil ihr gegenüber erlangt hat und so tanzen nun ihre Gefühle zwischen Mitleid und der Freude darüber, durch ihre tätige Hilfe bei Lila wieder Beachtung zu finden und sich dadurch erneut besser im Rang zu positionieren. Dagegen ist ihr die Freigiebigkeit, mit der Lila Stefanos Geld ausgibt ein Dorn im Auge, doch genau dieser Umstand ermöglicht es ihrer Freundin, zu einem gewissen Ansehen bei ihren Freunden zu gelangen. Lilas Beliebtheit steigt und mit ihr der Wille sich den Machenschaften ihrer Geschäftspartner nicht zu unterwerfen. In die Dinge, die ihr am Herzen liegen steckt sie ihre ganze Begeisterung und lässt sich auch durch drohende körperliche Gewalt nicht einschüchtern und verbiegen.

Dadurch, dass Elena in der Ich-Form erzählt, konnte ich nachvollziehen, mit welchen Gefühlen sie in ihrer Jugend zu kämpfen hatte. Durch den Besuch des Gymnasiums und später der Universität unterscheidet sich ihr Lebensweg schon jetzt von den meisten ihrer Freunde aus Kindertagen. Sie selbst ist sich dessen bewusst und hält sich für arrogant. Ihr Lernen verbunden mit ihrer Klugheit scheint ihr der Grund zu sein, dass ihre Freunde ihr gegenüber zunehmend auf Abstand gehen. Neidvoll schaut sie in dieser Zeit auf Lila. Noch kann sie nicht die Folgen ihres Handels abschätzen und abschließend beurteilen, ob ihr der Schulbesuch spätere Vorteile bringen wird. In ihrer Umgebung gibt es wenige Vorbilder an denen sie sich orientieren könnte. Später wird sie genau diesen Umstand bedauern, denn in der Welt von Elena und Lila verschafft man sich nicht durch Wissenserwerb Respekt und Anerkennung. Lila muss sich immer wieder behaupten. Elena dagegen muss mehr Selbstbewusstsein entwickeln, denn auf ihrer Suche nach Liebe droht ihr der Verlust ihrer Anerkennung, wenn sie sich nicht normgerecht verhält. Der Zwiespalt ihrer Gefühle in Bezug auf Männer wird auch durch ihre Umwelt mitgetragen. Fehlende Möglichkeiten, schlechte Vorbilder und die gelebte Härte des Alltags lassen ihre Jungmädchenträume schmelzen.

Beide Freundinnen sind sich ihrer Rangeleien bewusst und können doch nicht ganz voneinander lassen. Genau das macht die Faszination des Romans aus. Mancher Leser wird sich in den Vorstellungen der Protagonistinnen vom Leben wiederfinden und erkennt den ein oder anderen Traum aus seiner Jugendzeit darin wieder. Die schöne klare Sprache, selbst in der Übersetzung, ist ein Lesevergnügen. Das Buch endet mit einem Cliffhanger und lässt mich schon ungeduldig auf den nächsten Teil warten. Wer die Bücher von Elena Ferrante noch nicht kennt, sollte unbedingt mit dem Lesen beginnen! Der dritte Band in deutscher Sprache erscheint im August 2017.

Veröffentlicht am 28.05.2017

Ein wunderbarer Roman mit viel Liebe, Familiengeheimnissen und Humor

Immer wieder im Sommer
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„Immer wieder im Sommer“ von Katharina Herzog aka Katrin Koppold passte für mich vom Lesezeitpunkt her perfekt, denn die Geschichte spielt an solchen warmen Tagen an denen ich das Buch gelesen habe. Anna, ...

„Immer wieder im Sommer“ von Katharina Herzog aka Katrin Koppold passte für mich vom Lesezeitpunkt her perfekt, denn die Geschichte spielt an solchen warmen Tagen an denen ich das Buch gelesen habe. Anna, eine der Protagonisten des Buchs erinnert sich daran, dass die für sie wichtigen Ereignisse ihres Lebens immer im Sommer stattgefunden haben. In den Farben des Covers spiegelt sich der Sommer wieder. Das Blau, unterstützt von dem Muscheln, versetzte mich ans Meer und die Blätter und Blumen ließen mich an ihr sattes Leuchten in der Sonne denken.

Anna ist 37 Jahre alt, geschieden und lebt mit ihren 8 und 14 Jahre alten Töchtern in München. Dort jobbt sie als Zimmermädchen in einem Hotel. Bereits vor 18 Jahren ist sie zu Hause ausgezogen. Mit Frieda, ihrer inzwischen 62-jährigen Mutter, hat sie keinen Kontakt gehalten. Ein Brief von ihr mit der Bitte, sie anzurufen, weckt bei Anna den Wunsch ihre Mutter auf dem Weg nach Amrum zu besuchen. Sie möchte auf die Insel, weil Jugendliebe Jan lebt wie sie vor kurzem zufällig aus der Zeitung erfahren hat. Eigentlich sollten ihre Töchter Nelly und Sophie bei ihrem Ex-Mann Max in dessen Hütte am Starnberger See bleiben, aber nach einer unwillkommenen Überraschung, beschließt sie die beiden in ihrem alten VW-Bus mitzunehmen. Nach dem Eingeständnis von Max, dass er krankgeschrieben ist, möchte auch er sie begleiten. Anna hat geahnt, dass es Frieda nicht gut geht. Seit Jahr und Tag lebt sie nach dem frühen Tod ihres Mannes allein auf dem bäuerlichen Anwesen. In absehbarer Zeit will sie in ein Pflegeheim ziehen. Als sie von den Ferien auf Amrum erfährt, beschließt sie ebenfalls mitzufahren. Mir stellte sich nun die Frage, ob es Anna unter diesen Umständen möglich ist, mit Jan auf der Insel Kontakt aufzunehmen.

„Immer wieder im Sommer“ ist nicht nur eine Liebesgeschichte. Der Autorin gelingt es, die Erzählung auf drei Ebenen in wohl dosierten Anteilen zu schildern. Frieda, Anna und Sophie sind dabei die Hauptfiguren und ihnen sind auch die Kapitel des Buchs im lockeren Wechsel gewidmet. Hervor treten dabei die Abschnitte von Frieda, die in der Ich-Form erzählt und vor allem auf bedeutsame Situationen aus ihrer Vergangenheit zurückblickt. Diese Kapitel stammen aus dem Notizbuch, das Friede begonnen hat, speziell für Anna zu schreiben. So werden mit und mit ein paar kleine Familiengeheimnisse nicht nur für den Leser aufgedeckt, sondern auch offene Fragen in Bezug auf ihre Eltern beantwortet, die Anna seit ihrem Auszug von zu Hause begleiten.

Annas Leben ist leider nicht ganz nach ihren Vorstellungen verlaufen. Ihren Wunsch im Modebereich kreativ tätig zu werden, hat sie wegen des Haushalts und der Familie aufgegeben. Daher ist sie auf der Suche nach einem Neubeginn. Gedanklich lässt sie Revue passieren, an welchen Stellen sie die eventuell falschen Entscheidungen getroffen und ob sie vielleicht Chancen verpasst hat.

Während Annas Fahrt nach Amrum durch die nicht eingeplanten Mitreisenden zu einigen amüsanten Situationen führt, durchlebt auf der dritten Erzählebene die pubertierende Sophie Höhen und Tiefen. Sie beginnt, die Anweisungen ihrer Eltern in Frage zu stellen und hat in der Schule ein Faible für einen Jungen entwickelt. Vermutlich aus eigener Erfahrung setzt die Autorin gekonnt ihr aufmüpfiges Verhalten in Szene.

Die verschiedenen Teile an der Erzählung fließen nahtlos ineinander und führen zu einem wunderbaren Ganzen mit viel Liebe, Familiengeheimnissen, Humor und auch Tiefgang in Bezug auf den Umgang mit Krankheit, Mobbing und der Auseinandersetzung mit begangenen Fehlern. Der Roman ist so wärmend wie die Sommersonne und so erfrischend wie das Meer, für mich beste Leseunterhaltung und eine unbedingte Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 28.05.2017

Erschreckend, berührend und beeindruckend

Heute leben wir
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„Heute leben wir“ ist der Titel des Debütromans der Belgierin Emmanuelle Pirotte. Es ist auch der letzte Satz der Erzählung, der darauf Bezug nimmt, dass die Gegenwart zählt, egal welche Entscheidungen ...

„Heute leben wir“ ist der Titel des Debütromans der Belgierin Emmanuelle Pirotte. Es ist auch der letzte Satz der Erzählung, der darauf Bezug nimmt, dass die Gegenwart zählt, egal welche Entscheidungen und Handlungen in der Vergangenheit gemacht wurden. Auch für die beiden Protagonisten ist das Leben im Hier und Jetzt nach den geschilderten Ereignissen wichtig. Eine der Hauptfiguren ist Renée, sechs vielleicht auch sieben Jahre alt, die als elternlose Jüdin Ende 1944 vor den Nationalsozialisten versteckt wird. Wie das Mädchen auf dem Cover aus ihrem Versteck heraus schaut, so ist auch sie zwar ängstlich, aber auch neugierig. Der schwarze Hintergrund symbolisiert die grausamen Taten die von Blut durchtränkt sind und wie die Schrift und die Farbe der Mütze deutlich hervortreten. Sie werden niemals in Vergessenheit geraten.

Renée hat schon mehrfach ihren Aufenthaltsort gewechselt. Im Moment lebt sie bei einer Familie in einem kleinen Ort in der Wallonie, nicht weit von Lüttich entfernt. Als der deutsche Feind im Anmarsch ist, wird sie in Eile dem Pfarrer des Dorfs übergeben, der sie sozusagen an zwei vorbeifahrende US-Amerikaner weiterreicht. Die beiden Amerikaner sind getarnte Deutsche. Das Schicksal des Mädchens scheint besiegelt, aber dann tritt eine unglaubliche Wende ein.

Emmanuelle Pirottes Erzählung lebt von den Gegensätzen. Einerseits begegnete ich dem SS-Offizier Matthias dessen Aufgabe während der sogenannten Operation Greif es ist, Verwirrung unter den Amerikanern zu stiften, damit die Ardennenoffensive der Deutschen gelingt. Seine Kaltblütigkeit konnte ich bereits auf den ersten Seiten des Buchs erfahren.

Auf der anderen Seite gibt es mit Renée ein jüdisches schutzbedürftiges Mädchen, dem von Beginn an meine Sympathie galt. Die Erfahrungen der Vergangenheit und die Anforderungen des Versteckspiels haben sie stark gemacht und ihre Aufmerksamkeit geschärft. Für mich schien sie bereits nach wenigen Seiten meines Lesens, am Ende ihres Lebens angelangt zu sein. Der Roman entwickelt einen gewissen Sog durch die Frage, ob und wie Renée das Überleben gelingen wird.

Neben Renée und Matthias schafft die Autorin eine weitere Anzahl Charaktere, die sich wie Viele zu dieser Zeit unter ständigem Beschuss und unter wechselnder Besatzung bei ärmlichen Bedingungen in Bunkern oder im Keller mehr oder weniger zerstörter Häuser zusammenfinden und um ihr Überleben kämpfen. Dank der sehr guten Recherche Emmanuelle Pirottes wurde für mich ein Teil der Geschichte lebendig zu einem mir unbekannten Kapitel des 2. Weltkriegs, der sich nicht weit von meiner Heimat entfernt abspielte.

Das Buch hat mich durch die blanke Darstellung der Gewalt erschreckt, aber gleichzeitig auch durch die Handlungen einiger Personen sehr berührt. Es hat mir gezeigt, dass die Entschlossenheit zum Leben und der dazugehörige Mut verbunden mit einer Prise Glück siegen können. Es war faszinierend zu lesen wie Menschen sich ändern können in Abhängigkeit der Motive, durch die sie angetrieben werden. Aber der Mensch isst auch wandlungsfähig und seine Handlungen sind nicht immer vorhersehbar.

Mich hat das Buch beeindruckt und die Geschichte wird mir lange in Erinnerung bleiben. Ich empfehle den Roman daher sehr gerne weiter.