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Veröffentlicht am 21.03.2023

Stimmungsvoller Sommerroman

Der große Sommer
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"Aber das alles hier, dieser Sommermorgen und die Blätter über dir und wie du lässig auf dem Rad sitzt und rauchst und cool aussiehst, das ist ... das ist, als ob man das alles erst malen muss, damit man ...

"Aber das alles hier, dieser Sommermorgen und die Blätter über dir und wie du lässig auf dem Rad sitzt und rauchst und cool aussiehst, das ist ... das ist, als ob man das alles erst malen muss, damit man es in einem Moment aufnehmen kann. Damit man fühlen kann, was diesen einen besonderen Augenblick ausmacht."

Für Frieder beginnen die Sommerferien alles andere als sorglos: Er muss in zwei Fächern zur Nachprüfung und soll zum Lernen beim strengen Großvater bleiben, während seine restliche Familie im Urlaub ist.
Zum Glück gibt es noch Alma, Johann und Beate, mit denen der Sommer trotz allem außergewöhnlich werden soll.

Ewald Arenz hat in "Der große Sommer" mal wieder ein unglaubliches Sprachgefühl bewiesen: Er führt die LeserInnen mit einer Leichtigkeit durch die Seiten und behält dabei dennoch seinen stimmungsvollen, bildlichen Tiefgang.
Der Schreibstil ist im direkten Vergleich etwas lockerer als in "Alte Sorten", damit aber absolut stimmig zum Alter der Protagonisten. Er beschreibt einfühlsam die Gedanken und Gespräche der Jugendlichen, ohne dass die Sprache dabei aufgesetzt oder gekünstelt wirkt.

Während "Alte Sorten" wunderbar die Herbststimmung einfängt, katapultiert uns dieser Roman direkt in den Hochsommer.
Er erzählt von Freundschaft, Familie, der ersten großen Liebe, aber auch von Tod, Vergangenheit und Selbstzweifeln.

Beim Lesen des Buches kommt der Zauber der Sommerferien hoch, den man sonst nur in ebendiesen erlebt hat. Arenz hat es geschafft, genau dieses unbeschwerte Gefühl zu erzeugen.
Die letzten Seiten waren gleichermaßen wie das Ende der großen Ferien: Es ist so viel passiert, nichts ist mehr wie zuvor, es war wunderschön und alles ging viel zu schnell vorüber.

Ich empfehle dieses feinfühlige Buch jedem, der noch einmal ein paar Jahre zurückreisen und seinen eigenen großen Sommer erleben möchte.

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Veröffentlicht am 20.03.2023

Fesselnd und doch kaum zu ertragen

Morgen und für immer
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"Er wusste weder, wie er zurückgehen sollte, ohne das schreckliche Schicksal der Verräter zu erleiden, noch, wie er weitermachen sollte, ohne das Schicksal der Unsichtbaren zu erleiden."

Ermal Metas "Morgen ...

"Er wusste weder, wie er zurückgehen sollte, ohne das schreckliche Schicksal der Verräter zu erleiden, noch, wie er weitermachen sollte, ohne das Schicksal der Unsichtbaren zu erleiden."

Ermal Metas "Morgen und für immer" erzählt die auf wahren Tatsachen beruhende Geschichte des Kajan Dervishis.
Sie beginnt 1943 in Albanien: Kajan, noch ein Kind, lebt während des Krieges auf dem Hof seines Großvaters. Ein deutscher Deserteur bringt ihm das Klavierspielen bei und weckt somit seine Liebe zur Musik.
Im Laufe des Buches begleiten wir Kajan über mehrere Jahrzehnte und Kontinente auf der Flucht vor dem kommunistischen Regime.

Der Roman beleuchtet Teile der europäischen Geschichte, mit denen ich mich noch nicht besonders viel befasst habe.
Ich fühlte mich regelrecht erdrückt von der gnadenlosen Justiz, der Willkür, der Ungerechtigkeit und vor allem den kaum zu ertragenen Brutalitäten.
Oft habe ich mir gewünscht, die Handlungen seien einfach fiktiv, denn nicht nur Kajans persönliche Geschichte, sondern auch die der allgemeinen Bevölkerung in kommunistischen Staaten, hat in mir eine unerträgliche Beklemmung ausgelöst, wie kein Geschichtsunterricht je zuvor.

Er berichtet aber auch auf bewegende Weise von Liebe, Freundschaft, Hoffnung und der Kraft der Musik und weckt dabei große Emotionen.
Ermal Meta erzählt in einem hohen Tempo und erzeugt mit seiner Sprache starke Bilder. Trotz der Grausamkeiten schafft er es, der Geschichte eine poetische Schönheit einzuhauchen.

Da ich das Buch zwar auf der einen Seite nicht aus der Hand legen, auf der anderen Seite dessen Inhalt kaum ertragen konnte, weil es einem schonungslos und doch berührend die historische Vergangenheit näherbringt, gibt es von mir eine Leseempfehlung und fünf Sterne.

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Veröffentlicht am 17.03.2023

Berührende Geschichte vor einer idyllischen Kulisse

Alte Sorten
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"In den Gärten, an denen sie vorbeikamen, standen Apfel- und Birnbäume. Im sattgrünen Laub leuchteten die Äpfel wie Farbtupfer. Wie gut es sich manchmal anfühlte, einfach am Leben zu sein. "

Sally versucht, ...

"In den Gärten, an denen sie vorbeikamen, standen Apfel- und Birnbäume. Im sattgrünen Laub leuchteten die Äpfel wie Farbtupfer. Wie gut es sich manchmal anfühlte, einfach am Leben zu sein. "

Sally versucht, ihrem Leben zu entfliehen und begegnet dabei der dreißig Jahre älteren Liss. Von Anfang an herrscht ein stummes Verständnis und eine seltsame Verbundenheit zwischen den beiden und als Sally auf Liss' Hof einzieht und ihr bei der Arbeit hilft, entwickelt sich langsam eine Freundschaft zwischen den zwei Frauen.

Ewald Arenz hat mich direkt mit dem ersten Absatz aus "Alte Sorten" verzaubert. Er hat einen wunderbar malerischen Erzählstil, ich habe die Umgebung geradezu vor mir gesehen, gehört, geschmeckt.
Man taucht auf diese Weise schnell in die beruhigende ländliche Kulisse und damit in die Geschichte ein, dabei hatte ich das ganze Buch über ein heimeliges, wohliges Gefühl.

Sehr gekonnt findet mit jedem Perspektivwechsel auch eine Veränderung im Sprachduktus statt. Schon allein durch die Wortwahl weiß man als LeserIn unmittelbar, um welche der beiden Protagonistinnen es gerade geht.

Es ist wunderschön zu verfolgen, wie die Beziehung der zwei Frauen sich immer weiter zu einer tiefen Freundschaft entwickelt, die sie beide letzten Endes zurück ins Leben holt.
Als nach und nach Liss' Vergangenheit preisgegeben wurde, konnte ich das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen. Das letzte Drittel überrascht mit einigen Wendungen, die mich sehr berührt und mir das ein oder andere Tränchen in die Augen getrieben haben.

Dieser kluge und einfühlsame Roman steckt voller Lebensweisheiten, zeigt, was Freundschaften bewirken können und bezaubert mit einem einzigartig schönen Schreibstil - daher gibt es von mir eine ganz klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Sprachlich brillantes Psychodrama

Die Gewalt der Hunde
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Montana in den 1920ern: Der hochintelligente, kreative, aber grausame Phil und sein vollkommen gegensätzlicher, liebenswürdiger und stiller Bruder George führen ihren Alltag als Ranchbesitzer. Als George ...

Montana in den 1920ern: Der hochintelligente, kreative, aber grausame Phil und sein vollkommen gegensätzlicher, liebenswürdiger und stiller Bruder George führen ihren Alltag als Ranchbesitzer. Als George die Witwe Rose heiratet und sie mitsamt ihrem Sohn Peter bei den Geschwistern einzieht, ändert sich alles und Phil beginnt einen erbarmungslosen Kleinkrieg gegen die beiden Eindringlinge zu führen.

Thomas Savage hat in seinem fünften Roman "Die Gewalt der Hunde" autobiografische Elemente mit einer fiktiven Handlung verflochten. Dabei ist ihm eine sehr bildgewaltige, atmosphärische Geschichte gelungen, die sich langsam aufbaut und vollkommen unerwartet endet.

Es gibt viele Beschreibungen, die einem die Landschaft, aber auch den rauen Arbeitsalltag auf der Ranch näherbringen. Savage findet dabei sehr ungewöhnliche, dafür umso treffendere Vergleiche.
Generell zieht sich eine grandiose Metaphorik durch das gesamte Buch.

Sein Schreibstil ist aber auch in zwischenmenschlichen Belangen sehr beobachtend: Kleinste Veränderungen in der Körpersprache, der Mimik, des Tonfalls lassen die Emotionen der Figuren erkennen, ausschweifende Gedanken- und Gefühlsbeschreibungen gibt es nicht. Das passt gut zur Grundstimmung des Buches:
Die Protagonisten sprechen nicht viel über Probleme, jeder macht irgendwie sein eigenes Ding.

Äußerlich betrachtet passiert in dem Roman gar nicht besonders viel, im Inneren der Figuren dafür umso mehr. Die Charaktere haben eine enorme Tiefe und ihre Entwicklungen sind sehr gut ausgearbeitet. Besonders hervorzuheben ist dabei Phil. Er ist stets darum bemüht, möglichst hart und männlich zu wirken; er trägt bei der Arbeit keine Handschuhe, wäscht sich kaum, stichelt jeden an, der sich anders, "verweichlicht", verhält. Gefühle, vor allem Liebe, werden unterdrückt. Dass dies alles nur seinem Selbstschutz dient, wird erst nach und nach deutlich.

Der Roman ist für mich außergewöhnlich, weil Savage zwar großartige, szenische Beschreibungen der Schauplätze gibt, die eigentliche Handlung aber nur unterschwellig schildert und dennoch alles Wesentliche offensichtlich ist.
Wer also viel Action braucht, der wird eher enttäuscht sein. Wer hingegen Bücher mag, die eine feine Beobachtungsgabe des Autors voraussetzen, der wird sich an diesem literarischen Kunstwerk erfreuen können.

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Veröffentlicht am 08.03.2023

Ein Meisterwerk

Ein wenig Leben
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"Warum fanden die Leute Freundschaften bewundernswert, wenn man siebundzwanzig war, aber suspekt, wenn man siebenunddreißig war? Warum zählte eine Freundschaft weniger als eine Beziehung? Warum nicht sogar ...

"Warum fanden die Leute Freundschaften bewundernswert, wenn man siebundzwanzig war, aber suspekt, wenn man siebenunddreißig war? Warum zählte eine Freundschaft weniger als eine Beziehung? Warum nicht sogar mehr? Zwei Menschen, die Tag für Tag zusammenblieben, nicht durch Sex oder körperliche Anziehung, nicht durch Geld, durch Kinder oder gemeinsamen Besitz aneinander gebunden, sondern allein durch das gegenseitige Einverständnis, zusammenzubleiben, das gemeinsame Bekenntnis zu einer Verbindung, die sich jeder Festschreibung entzog."

"Ein wenig Leben" handelt von vier College-Studenten, ihrer tiefen Freundschaft und dem Leben, das sie in den folgenden dreißig Jahren bestreiten.
Im Mittelpunkt steht Jude, dessen Vergangenheit und damit Grund für physische und psychische Verletzungen er zu verdängen versucht, und erst nach und nach preisgibt.

Hanya Yanagiharas zweiter Roman ist wohl eins der unstrittensten Bücher der letzten Jahre. Für mich persönlich ist es ein ergreifendes Meisterwerk, welches mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird.

Ich brauchte die ersten 50-100 Seiten, um in die Geschichte reinzukommen und die Charaktere auseinanderhalten zu können, doch sobald ich diese Hürde überwunden und die vier Männer kennengelernt hatte, konnte ich kaum noch aufhören zu lesen.
Das Buch zieht in einen Sog, aus dem man sich kaum befreien kann. Ich war die ganze Woche lang gedanklich bei den Protagonisten und konnte es kaum erwarten, weiterzulesen und wieder in die Geschichte einzutauchen, wieder bei Jude, Willem, JB und Malcolm zu sein.
Denn Hanya Yanagihara hat ihre Figuren so authentisch gezeichnet, dass es einem vorkommt, als sei man selbst mit ihnen befreundet und als handle es sich um Personen aus dem eigenen, wahren Leben.
Dabei sticht natürlich besonders die Freundschaft zwischen Jude und Willem hervor, aber auch alle anderen Beziehungen berühren einen sehr.

Ich hatte beim Lesen innerhalb kürzester Zeit mehrere Wechsel der Gefühle und habe mich stets irgendwo zwischen Tränen in den Augen, einem Lächeln im Gesicht und Gänsehaut am ganzen Körper befunden. Die geschaffenen Emotionen sind so intensiv, dass ich mich nicht entziehen konnte. Dabei steht die teils sehr grafisch dargstellte, kaum zu ertragende Gewalt aus Judes Kindheit im krassen Gegensatz zu der geduldigen, aufopfernden und tiefen Liebe, die er später erfährt und selbst erteilt.

Mit einer beeindruckenden Sprachgewalt und einem schon fast poetischen Schreibstil hat die Autorin ein literarisches Werk geschaffen, welches auf fast 1000 Seiten keine Längen hat. Dabei spielt natürlich auch die Tatsache eine Rolle, dass man mehr über Judes Vergangenheit erfahren möchte, aber die Gegenwart der vier Männer ist ebenso interessant und als LeserIn ist es inspirierend zu verfolgen, wie sich die Charaktere, deren Leben und die Beziehungen zueinander weiterentwickeln.

Die Geschichte ist absolut einzigartig und mich hat noch kein anderes Buch so beschäftigt und an meine emotionalen Grenzen geführt wie dieses.
Dennoch möchte ich es nicht uneingeschränkt jedem empfehlen, wer sich durch explizit beschriebenes selbstverletzendes Verhalten und/ oder Suizidgedanken getriggert fühlt, sollte bitte auf das Buch verzichten.
Jedem anderen kann ich es nur ans Herz legen, denn trotz aller Gewalt zeigt es, wie bedeutsam und wunderschön Freundschaft in all ihren Facetten sein kann.

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