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Veröffentlicht am 31.03.2023

Politische Meilensteine und persönliches Schicksal

Lektionen
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Wenn man mit dem Werk des britischen Autors Ian McEwan vertraut ist, kennt man dessen Fähigkeit, zeitgeschichtliche Themen in unterhaltsame Romane mit entsprechender Tiefe zu packen. In „Lektionen“ geht ...

Wenn man mit dem Werk des britischen Autors Ian McEwan vertraut ist, kennt man dessen Fähigkeit, zeitgeschichtliche Themen in unterhaltsame Romane mit entsprechender Tiefe zu packen. In „Lektionen“ geht er aber noch einen Schritt weiter und verbindet diese zusätzlich mit Schnipsel aus seiner eigenen Biografie.

Roland Bains, der Protagonist, an dessen Leben wir über Jahrzehnte teilhaben dürfen, wurde 1948 in eine Militärfamilie hinein geboren und hat wie der Autor seine Kindheit in Libyen verbracht. Und wie an einer Zeitleiste entlang hangelt sich McEwan sehr überzeugend durch achtzig Jahre der persönlichen Geschichte Rolands, die mit historischen Großereignissen verknüpft ist. Missbrauch, Liebe, Ehe, Trennung, Vatersein, nicht realisierte berufliche Ambitionen, Tod. Allesamt prägend. Begleitend dazu die Kuba-Krise, das Reaktorunglück in Tschernobyl, das politischen Auf und Ab in Großbritannien von Thatcher bis zum Brexit, der Fall der Berliner Mauer, 9/11, bis hin in die Corona-Lockdowns der Gegenwart. Und jeder einzelne dieser politischen Meilensteine ist mit bestimmten Phasen, dem Zaudern und den Entscheidungen im Leben des Protagonisten verbunden, wobei es allerdings die Verletzungen sind, deren Auswirkungen und eindrücklichen Schilderungen, die die Qualität dieses Romans ausmachen.

Das Auf und Ab eines Menschenlebens, von McEwan voller Empathie und Nachsicht beschrieben. Die Hoffnungen, das Zögern, die Enttäuschungen und den Schmerz im Leben seines Protagonisten, die Lektionen, die dieser auf seinem Weg durch die Zeiten lernt. Die Frage nach den Auswirkungen von politischen Ereignissen auf das alltägliche Leben. Überlegungen, die nicht so weit hergeholt scheinen, wenn man sich an die Lockdown-Zeit zurück erinnert. Ein Roman, der zum Nachdenken anregt.

Veröffentlicht am 29.03.2023

Temporeiche und intelligent verschlungene Story

Gegen alle Regeln
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Auch in seinem neuen Fall steht Eddie Flynn, einst Trickbetrüger, jetzt Anwalt, wieder immens unter Druck. In „Zu wenig Zeit zum Sterben“, dem Auftaktband der Reihe, hatte die New Yorker Russenmafia seine ...

Auch in seinem neuen Fall steht Eddie Flynn, einst Trickbetrüger, jetzt Anwalt, wieder immens unter Druck. In „Zu wenig Zeit zum Sterben“, dem Auftaktband der Reihe, hatte die New Yorker Russenmafia seine Tochter entführt und mit dem Tod bedroht, um ihn so zu zwingen, den berüchtigten Paten Olek Volchek gegen eine Mordanklage zu verteidigen. Diesmal sind es gleich zwei Menschen, die es vor langjährigen Gefängnisstrafen zu bewahren gilt, und um das zu erreichen, muss er vor Gericht sämtliche Register ziehen und „Gegen alle Regeln“ spielen. Aber der Reihe nach…

CIA und FBI, letztere vertreten durch Special Agent Bill Kennedy, den wir bereits aus dem Vorgänger kennen, setzen Eddy unter Druck. Sie sind einer renommierten Anwaltskanzlei auf der Spur, die mit Hilfe eines komplizierten Algorithmus für Drogenkartellen Geld wäscht. Programmiert wurde dieser von dem nerdigen David Child, Betreiber einer höchst erfolgreichen Social Media Plattform. Aktuell ist er inhaftiert und wartet auf sein Verfahren, da er beschuldigt wird – und die Beweislage ist erdrückend – seine Freundin ermordet zu haben. Eddie soll ihn anwaltlich vertreten, bei den Anklägern Zweifel an seiner Schuld säen und ihm einen Deal schmackhaft machen, um an den Quellcode des Programms zu kommen. Eine schier unlösbare Aufgabe, und ein Fall, von dem Eddie am liebsten die Finger weglassen würde, wenn, ja wenn da nicht noch seine Ex-Frau Christine involviert wäre, die für besagte Kanzlei arbeitet und in ihrer Anfangszeit blauäugig ein Dokument unterschrieben hat, das sie zur Mitwisserin an deren kriminellen Aktivitäten macht. Folglich hat sie nicht nur eine Anklage sondern auch eine langjährige Haftstrafe zu erwarten. Ein Szenario, das Eddie unter keinen Umständen zulassen kann, schon im Hinblick auf ihre gemeinsame Tochter. Nicht zuletzt, weil er sowohl von Christines als auch von Davids Unschuld überzeugt ist. Ihm bleiben 48 Stunden, um die Unschuld der beiden zu beweisen und die Kanzlei ans Messer zu liefern.

Keine Frage, es ist von vornherein klar, dass er es schaffen wird, aber wesentlich spannender ist die Beantwortung danach, wer hier eigentlich die Fäden zieht und wie er sowohl seinen Mandanten als auch seine Ex aus dieser schier ausweglosen Lage befreit. Und dann sind ja auch noch die zwielichtigen Kontakte aus seinem früheren Leben, deren Hilfe er zur Unterstützung seiner nicht immer legalen Aktionen benötigt. Ich sage nur Popo und Eidechse.

Einmal mehr präsentiert uns Steve Cavanaugh (vor seiner Karriere als Autor ebenfalls Anwalt) eine temporeiche und intelligent verschlungene Story, die immer wieder mit unerwarteten Wendungen aufwartet. Das hält die Spannung bis zur letzten Seite und macht es kaum möglich, das Buch aus der Hand zu legen.

Zusätzlich gibt es immer aber auch immer wieder die passenden Kommentare zum amerikanischen Rechtssystem. Ein Beispiel gefällig?

„Das System, das einem Angeklagten erlaubte, sich einen sündteuren Anwalt zu kaufen, der ihn heraushaute, war dasselbe System, das erfahrene Staatsanwälte mit unbegrenzten Ressourcen gegen Pflichtverteidiger aufbot, die ihren Mandanten nicht einmal ein Busticket zum Gericht spendieren konnten.“ (S. 133)

Wer eine spannende und unterhaltsame Lektüre sucht, sollte hier unbedingt zugreifen. Und da die einzelnen Fälle in sich abgeschlossen sind, besteht auch keine Notwendigkeit, sich an die Reihenfolge zu halten.

Veröffentlicht am 23.03.2023

Anrührend, schockierend, beeindruckend. Lesen!

Zeit der Schuld
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Deepti Kapoors „Zeit der Schuld“ ist der erste Band einer geplanten Trilogie und startet mit einem Paukenschlag, wobei die Autorin sich nicht mit einleitenden Beschreibungen oder Floskeln aufhält, sondern ...

Deepti Kapoors „Zeit der Schuld“ ist der erste Band einer geplanten Trilogie und startet mit einem Paukenschlag, wobei die Autorin sich nicht mit einleitenden Beschreibungen oder Floskeln aufhält, sondern uns schon mit den ersten Sätzen in einen Roman hineinwirft, der uns hinter die Fassaden eines vom Kastensystem geprägten Landes blicken lässt, in dem jeder einzelne schon von Geburt an seinen Platz in der Hierarchie zugewiesen bekommt. Ein Land, in dem Herkunft noch immer mehr zählt als Leistung, in dem korruptes Verhalten quasi zum guten Ton gehört, Moral ein Fremdwort ist.

Wir sehen die dunklen Seiten einer Nation der Extreme. Auf der einen Seite diejenigen, die das Sagen haben und sich ihren Wohlstand selten auf ehrliche Weise verdient haben, auf der anderen Seite diejenigen, die deren Befehle ohne Widerspruch ausführen. Und dann ist da noch die bettelarme Mehrheit, die unter untragbaren Bedingungen ihr Leben fristet. Sichtbar für alle, aber diejenigen, die die Möglichkeiten und die Mittel hätten, die Zustände zum Besseren zu verändern, sind in erster Linie mit sich selbst beschäftigt.

So auch die drei Protagonisten, die wir in diesem Roman begleiten. Alle sind auf der Suche nach ihrem wahren Ich: Ajay, der vom Aufstieg träumt, eines Tages als reicher Mann in sein Dorf zurückkehren will. Er wurde als Kind nach dem Tod des Vaters wie ein Stück Vieh in die Berge verkauft, wo er für seinen Lebensunterhalt schwer schuften musste. Als sein Besitzer stirbt, schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis er eines Tages auf Sunny Wadia trifft, ein typischer Playboy, der seine Tage mit ausufernden Partys verbringt, aber auch der Sohn eines skrupellosen Gangsterbosses aus Delhi. Sunny hat ambitionierte Pläne, sieht ein Leben als Philanthrop vor sich, der Gutes tun möchte. Aber das muss warten, bis er das Erbe seines Vaters antreten kann. Er nimmt Ajay mit in die Metropole, und dieser setzt alles daran ihm zu gefallen, unentbehrlich zu werden. Er ist Sunny absolut ergeben, dient sich hoch, gewinnt sein Vertrauen und wird dessen Leibwächter. Die Dritte im Bunde ist die aus einer Mittelschichtsfamilie stammende Neda, Journalistin und Sunnys Freundin, die die gesellschaftlichen Widersprüche zwar registriert, sich aber keine Gedanken über deren Ursachen macht. Alle drei haben ein idealisiertes Bild von sich und einer Zukunft vor Augen, die mit Sicherheit einer Überprüfung nicht standhalten wird.

Ein Gangsterepos und ein Familienroman, brutal und zärtlich gleichermaßen, der den Finger in eine seit Jahrhunderten schwärende Wunde legt. Die Art und Weise, in der Kapoor diese Geschichte erzählt ist brillant, geprägt von dem Prinzip des Show, don’t tell mit den kurzen, knappen Sätzen, die auf den Leser einprasseln. Dazu eine vielschichtige, düstere Handlung, die uns tief in die Abgründe des heutigen Indien mitnimmt, uns die dunklen Seiten einer Gesellschaft zeigt, die nichts mit den glamourösen Bollywood-Filmen gemeinsam hat. Anrührend, schockierend, beeindruckend. Lesen!

Veröffentlicht am 20.03.2023

Spannende Unterhaltung, intelligent geplottet

Das wahre Motiv
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1895, Faschingszeit in Schwabing, dem verruchten Viertel, das wegen seiner lockeren Sitten von den Einheimischen mit Argusaugen betrachtet wird. Kein Wunder, man weiß ja, das die dort ansässigen Künstler ...

1895, Faschingszeit in Schwabing, dem verruchten Viertel, das wegen seiner lockeren Sitten von den Einheimischen mit Argusaugen betrachtet wird. Kein Wunder, man weiß ja, das die dort ansässigen Künstler ein lockeres Völkchen mit eigener Moral sind. Diese Sichtweise teilt auch Wilhelm Freiherr von Gryszinski, Major der preußischen Armee und Königlich Bayerischer Sonderermittler, ein Zugereister, und ausgerechnet er muss im Zuge einer Mordermittlung in diesen Sündenpfuhl eintauchen.

Gryszinski wird von Polizeidirektor Welser zum Fundort einer Leiche beordert, wo ihn ein ungewöhnliches Arrangement erwartet. Es scheint, als ob der Tote, ein junger Mann, auffallend gutaussehend, sorgfältig hindrapiert wurde. Im Laufe der nachfolgenden Ermittlungen wird sich dieser Eindruck bestätigen, denn die Szene stellt ein mythologisches Motiv nach, das in der Malschule des slowenischen Künstlers Anton Ažbe, in der der Tote als Modell arbeitete, als Vorlage dient. Als kurz darauf eine zweite Leiche auftaucht, ebenfalls als Modell tätig und effektvoll in Szene gesetzt, wird die Vermutung laut, dass ein Serientäter im Künstlermilieu seine Opfer sucht. Die Zeit drängt, und Gryszinski muss sich unter Schwabings Bohème mischen, um weitere Tote zu verhindern.

Veränderung liegt im ausgehenden 19. Jahrhundert in der Luft. Es ist eine Zeit, die von gesellschaftlichem Wandel geprägt ist. So muss auch Gryszinski in diesem zweiten Band der Reihe sich mit Neuem auseinandersetzen und sein Wertesystem hinterfragen, wenn er in die Münchner Künstlerszene eintaucht, die von so illustren Persönlichkeiten wie den Malern Anton Ažbe und Franz von Lenbach, aber auch dem Schriftsteller Frank Wedekind geprägt wird.

Wie bereits in „Der falsche Preuße“ brilliert Uta Seeburg auch im zweiten Band der Reihe mit historischen Fakten, gekonnt verwoben mit passenden atmosphärischen Beschreibungen und den Einblicken in die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, zu denen der Protagonist qua Herkunft und Beruf Zugang hat. Sehr interessant sind natürlich auch die Methoden zur Spurensicherung in der damaligen Zeit, aber auch hier kündigt sich langsam ein Wandel an, hat doch Gryszinski den Auftrag, diese neuen Erkenntnisse im Polizeialltag einzuführen und zu verankern. Und nicht zuletzt gibt es dann ja auch noch die Mentalitätsunterschiede zwischen Bayern und Preußen, die die Autorin mit liebevollem Augenzwinkern beschreibt.

Ein spannender, sehr unterhaltsamer und intelligent geplotteter Kriminalroman, der sowohl inhaltlich als auch sprachlich sämtliche Erwartungen erfüllt. Gerne mehr davon!

Veröffentlicht am 19.03.2023

Gelungener Mix von Fakten und Fiktion

Die Bibliothek der Hoffnung
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Während des Zweiten Weltkriegs hatte speziell das dichtbesiedelte Londoner East End unter den wiederholten Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe zu leiden. Tausende Menschen kamen ums Leben, und die, ...

Während des Zweiten Weltkriegs hatte speziell das dichtbesiedelte Londoner East End unter den wiederholten Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe zu leiden. Tausende Menschen kamen ums Leben, und die, die überlebten, verloren durch die Bombardierungen, bei denen unzählige Häuser dem Erdboden gleich gemacht wurden, das Dach über dem Kopf. Unter dem Druck der Bevölkerung beschloss die Regierung, U-Bahnstationen zu Luftschutzbunkern umzufunktionieren, und so suchten zwischen 1940 und 1945 ca. 63.000.000 Menschen Schutz in den Londoner U-Bahnhöfen. So auch in der noch im Bau befindlichen Station Bethnal Green, in deren Tunneln und Bunkern nach und nach eine Stadt unter der Stadt entstand, wo es neben 5000 Schlafplätzen und warmen Mahlzeiten auch ärztliche Versorgung, ein Theater, Kinderbetreuung und eine Bibliothek gab.

Soweit die historisch belegten Tatsachen, die den Hintergrund für Kate Thompsons 1944/45 zeitlich verorteten, warmherzigen und dennoch nie kitschigen Roman „Die Bibliothek der Hoffnung“ bieten.

Das Herz dieser Bücherei sind die Bibliothekarin Clare, eine junge Witwe, und ihre Assistentin Ruby, die seit dem Tod ihrer Schwester (bei der Massenpanik 1943, ebenfalls historisch verbürgt) mit Schuldgefühlen und Panikattacken kämpft. Diese beiden halten den Laden am Laufen, auch wenn ihnen ihr Vorgesetzter immer wieder Knüppel zwischen die Beine wirft. Die beiden Frauen verleihen nicht nur Bücher, sie sind nicht nur für die meist weiblichen Bewohner des Shelters mittlerweile ein unverzichtbarer Bestandteil ihres Alltags geworden und unterstützen sie bei ihren Problemen. Manches geschieht offiziell, wie beispielsweise die abendlichen Vorlesestunden für die Kinder und deren Betreuung unter Tag, oder der Lesekreis für die Erwachsenen, der Abwechslung in das triste Leben zwischen Fabrikarbeit und täglichen Pflichten bringt. Anderes läuft unter der Hand, wie beispielweise die Verteilung der Broschüren über Empfängnisverhütung oder die Ermunterung und Hilfe für die Frauen, die ihre prügelnden Männer verlassen wollen. Aber Clare hat auch ein Auge auf Kinder, die ihr Potential ohne Förderung nicht entwickeln können oder ohne elterliche Fürsorge auskommen müssen. Ihnen bietet sie Unterstützung im Alltag und kümmert sich rührend um sie. So weit, so gut. Aber natürlich kommt neben diversen dramatischen Ereignissen auch die Liebe nicht zu kurz, schiebt sich aber weder in den Vordergrund noch überlagert sie das eigentliche Thema.

Kate Thompson hat eingehend für diesen Roman recherchiert, was das Nachwort und die ausführliche Literaturliste am Ende des Romans belegt. Sie verbindet gekonnt Fakten und Fiktion und lässt uns in abwechselnden Kapiteln aus der Sicht von Clare und Ruby am täglichen Leben in dem vom Krieg gebeutelten East End teilhaben. Aber vor allem ruft sie uns die Bedeutung von Bibliotheken und Büchern in schweren Zeiten ins Gedächtnis, die Hoffnung und die Zuversicht, die sie verbreiten, ihre helfende und heilende Wirkung, wenn Verlust und Zerstörung den Alltag bestimmen.

Nachtrag: Vor vielen Jahren habe ich die Kanalinseln besucht, weshalb ich die Beschreibungen über das Leben auf Jersey nach der Invasion der deutschen Truppen sehr berührend fand. Von Churchill und dessen Regierung wurden sie im Stich gelassen, weil ihnen kein strategischer Wert zugemessen und sie deshalb nicht verteidigt und zur leichten Beute der Nationalsozialisten wurden. Was folgte waren fünf Jahre Leid, Bespitzelung, Terror, Konzentrationslager und Tod für viele Menschen.