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Veröffentlicht am 13.04.2023

Die Sache mit der Wahrheit

Melody
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Nationalrat Dr. Stotz ist ein alter, kranker Mann, der immer noch zu leben versteht: mit Hausangestellten, die seit fast einem halben Jahrhundert bei ihm sind, köstlicher italienischer Küche - und mit ...

Nationalrat Dr. Stotz ist ein alter, kranker Mann, der immer noch zu leben versteht: mit Hausangestellten, die seit fast einem halben Jahrhundert bei ihm sind, köstlicher italienischer Küche - und mit Alkohol. Sehr viel Alkohol.

Für ihn selbst ist sein Leben allerdings vorbei, seit seine Verlobte Melody vor einem halben Jahrhundert verschwand - ganz kurz vor der Hochzeit.

Er stellt Tom Elmer, einen jungen Juristen, der nichts aus sich gemacht hat, ein, um seinen Nachlass zu ordnen. Und um diesen der Nachwelt zu präsentieren, was - so meint er - schon bald erforderlich sein wird. Und zwar so, wie er selbst sich dargestellt haben möchte.

Dr. Stotz erzählt Tom viele Geschichten, vor allem welche über Melody. Doch was davon ist wahr?

Auf eine gewisse Weise hat Martin Suter eine sehr konservative Art zu erzählen. Man könnte sie auch klassisch nennen: mit allmählichem Spannungsaufbau, bei dem die Kurve erst allmählich ansteigt und dann ziemlich lange ganz oben bleibt. Fast bis zum Schluss, muss man sagen, wobei das nicht jeder Leser so sehen mag.

Ich weiß diese konservative Art, die von einer Kritikerin als "geschmeidiger Erzählstil" bezeichnet wird, durchaus zu schätzen. "Süffig" wäre ein weiterer passender Begriff: man liest einfach so weiter, mit viel Genuss, will gar nicht aufhören. Allerdings sollte man aufpassen, dass man dem Autor nicht auf den Leim geht. Denn nicht alles ist so, wie es zu sein scheint. Martin Suter beherrscht das Spiel mit der Wahrheit einfach meisterhaft.

Veröffentlicht am 02.04.2023

Lesen unter der Erde

Die Bibliothek der Hoffnung
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Und noch viel mehr war im London des Zweiten Weltkrieges möglich, wie wir durch diesen Roman erfahren. Denn der basiert auf der Wahrheit: es gab tatsächlich eine Bibliothek in der U-Bahn-Station Bethnal ...

Und noch viel mehr war im London des Zweiten Weltkrieges möglich, wie wir durch diesen Roman erfahren. Denn der basiert auf der Wahrheit: es gab tatsächlich eine Bibliothek in der U-Bahn-Station Bethnal Green. Und nicht nur das: wie heute in der Ukraine, zogen die Leute dorthin, um sich vor den - damals deutschen - Bomben zu schützen, es gab regelrechte Stockbetten, um die die Ratten huschten.

Hier stehen die beiden Freundinnen Clara und Ruby im Mittelpunkt, die die Bibliothek "wuppen". Und mehr als das: die ausgebildete Kinderbibliothekarin Clara organisiert eine Menge Events nicht nur für Kinder. Es ist eine Menge los dort unter der Erde und auch über die Bibliothek hinaus. Wir erfahren von geflüchteten Kindern, heißen und dramatischen Liebesbeziehungen, wie auch solchen, die sich auf leisen Sohlen entwickeln . Kurzum - stellenweise geht es ziemlich kitschig zu, was mir auch schon mal deutlich zu viel wurde.

Weswegen sich das Buch jedoch unbedingt lohnt: hier wird ganz klar aufgezeigt, wie Menschen im Krieg an ihre Grenzen stoßen, wie sie nicht mehr können, einknicken, Erlebtes nicht mehr verarbeiten können, auch noch lange nach dem Krieg. Ein Roman, der die Menschen so zeigt, wie sie sind bzw. sein können: stark, aber auch sehr, sehr schwach. Und das ist - neben den historischen Details - aus meiner Sicht die eigentliche Stärke dieses Buches!

Veröffentlicht am 28.03.2023

Ein ungewöhnliches Buch über gewöhnliche Menschen

Leonard und Paul
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Oder auch gerade nicht: denn Leonard und Paul sind zwei durchaus eigenwillige Typen, die einander bereits seit frühester Kindheit freundschaftlich verbunden sind. Auch, wenn wir ihr Alter nicht ...

Oder auch gerade nicht: denn Leonard und Paul sind zwei durchaus eigenwillige Typen, die einander bereits seit frühester Kindheit freundschaftlich verbunden sind. Auch, wenn wir ihr Alter nicht genau erfahren, gibt es sie schon einige Zeit - sicher sind beide so um die Dreißig.

Sie leben noch im jeweiligen Elternhaus, wobei Leonards Mutter vor kurzem verstarb, so dass er nun alleine im Haus der Familie lebt. Paul hingegen lebt bei seinen Eltern und wird zudem von seiner älteren Schwester Grace, die kurz vor ihrer Hochzeit steht, mitbetreut - und das bereits, seit er auf der Welt ist.

Die Mitglieder beider Familien sind ausgesprochen sympathische Typen, einander eng verbunden, die Atmosphäre von Warmherzigkeit geprägt.

Jeder wird so genommen, wie er eben ist - zumindest weitestgehend und bei neuen Lebenswegen soweit möglich unterstützt.

Die beiden Männer und die Menschen um sie herum lohnt es sich durchaus kennenzulernen, zumal Autor Ronan Hession über einen ganz besonderen, auf jeden Fall eher stillen Humor verfügt. Wenn es auch im Buch nicht immer nur leise zugeht. Denn auch die Stillen können ganz schön laut werden, wenn es gerade passt, nur muss es nicht die ganze Welt erfahren. Der Umgang miteinander rührt stellenweise zu Tränen, mich jedenfalls und ich bin nicht eine, die bei jedem emotionaleren Buch weint.

Was mich so gefesselt hat, das ist das warmherzige Interesse aneinander, der Wille, dem anderen Gutes, Unterstützendes angedeihen zu lassen.

Ein bisschen erschreckt hat mich die (potentielle) Partnerinnenwahl des Autors für Leonard, eine im Gegensatz zu beiden Familien sehr komplexe Person, die ihm das Leben auf Dauer ganz schön anstrengend werden lassen könnte. Wenn es denn mit beiden überhaupt klappt. Was ich Ihnen natürlich nicht verrate.

Aber man muss ja nicht jedes kleinste Detail im Buch mögen, ich empfehle es für Sie und Ihre Lieben als eine Ode auf die guten Dinge, die den Menschen so im Leben zuteil werden und die man oft viel zu wenig beachtet. Nicht so Ronan Hession!

Veröffentlicht am 27.03.2023

Die Hippies des 19. Jahrhunderts

Mary & Claire
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Als solche erscheinen mir Mary Shelley, ihr Mann Percy und ihre Stiefschwester Claire Clairemont. Vor allem Mary ist sehr frei erzogen worden und ist bereit für ein offenes Leben. Womit sie nicht gerechnet ...

Als solche erscheinen mir Mary Shelley, ihr Mann Percy und ihre Stiefschwester Claire Clairemont. Vor allem Mary ist sehr frei erzogen worden und ist bereit für ein offenes Leben. Womit sie nicht gerechnet hat, ist dass Percy und Claire zusätzlich die sexuelle Befriedigung aneinander suchen und zwar dauerhaft.

Zu dritt begegnen sie einem eitlen Pfau und Gecken, nämlich Lord Byron, einem Genie, in dem der Wahnsinn wohnt. Er wird zu Claires Objekt der Begierde, sie stalkt ihn richtiggehend. Er hingegen bedient sich an ihr, nimmt sie bei Bedarf, wie gewissermaßen auch Percy, der ihr jedoch längst nicht so viel bedeutet. Und doch eher Familie für sie ist - zusammen mit Mary, auch wenn sie eher zerstörend auf diese wirkt.

Doch eine Nacht zu viert am Genfer See wird zum Schicksal für die, die wirklich schreiben wollen - nämlich Mary und Lord Byron. In der Nacht brütet Mary den Titel ihres Schauerromanes aus, "Frankenstein" nämlich. Geboren wird das Epos erst Jahre später, als sie fast alle anderen bereits verloren hat.

Markus Orths präsentiert dem Leser vier junge Menschen, die ihrer Zeit voraus waren und/oder sich vom Leben nahmen, was sie wollten. Zumindest Mary musste es teuer bezahlen, sie blickte zurück auf einen ganzen Reigen an Toten, der sie immer wieder aufsuchte - jeder Einzelne auf seine Art.

Ein ebenso ungewöhnlicher wie lohnenswerter Roman, der uns mitnimmt auf einen wilden Parcours durch einen Teil des frühen 19. Jahrhunderts. Mary und Claire, Zeitgenossinnen von Annette von Droste-Hülshoff, doch mit ganz anderen Wertvorstellungen - so erscheint es zumindest nach diesem Buch!

Veröffentlicht am 21.03.2023

Marie geht ihren Weg

Die Reporterin - Zwischen den Zeilen
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Der nicht gerade frei von Steinen ist : diese werden Marie Louise Graf zunächst einmal von den sie von Herzen liebenden Eltern in den Weg gelegt. Vor allem der Vater wünscht sich, dass sie seinen Berufswunsch, ...

Der nicht gerade frei von Steinen ist : diese werden Marie Louise Graf zunächst einmal von den sie von Herzen liebenden Eltern in den Weg gelegt. Vor allem der Vater wünscht sich, dass sie seinen Berufswunsch, Apotheker zu werden, realisiert - ihm kam der zweite Weltkrieg und ein abgeschossener Unterschenkel dazwischen. Marie hingegen wollte schon von Kindesbeinen an Journalistin werden - ihr Großonkel bestärkt sie in dieser Zielsetzung. Aber es ist - wie gesagt - ein überaus steiniger Weg, wir schreiben immerhin erst die frühen 1960er Jahre. Nicht nur er glaubt an sie und stärkt ihr den Rücken, nein, auch ihre Freundin Roxy steht hinter ihr und Marie traut sich Dinge, die sie sich selbst nie zugetraut hätte. Und so wird aus Marie die Reporterin Malou Graf.

Ein eindringlicher Roman, bei dem für meinen Geschmack zeitweise die Liebe und andere Unwägsamkeiten etwas zu sehr im Vordergrund standen. Doch wie immer überzeugt Autorin Theresa Simon, selbst promovierte Historikerin, durch punktgenaue Sachkenntnis auch kleinster Details und macht gerade dadurch diesen Roman so spannungsreich, dass ich ihn nicht mehr aus der Hand legen wollte! Ein Roman, mit dem man herrlich in vergangene Zeiten reisen kann!