Bewegend
Die spürst du nichtZwei bessergestellte Familien fahren zusammen in den Urlaub in die Toskana. Tochter Sophie Luise darf ihre Schulfreundin Aayana mitnehmen. Diese ist ein Flüchtlingskind aus Somalia und völlig anders aufgewachsen, ...
Zwei bessergestellte Familien fahren zusammen in den Urlaub in die Toskana. Tochter Sophie Luise darf ihre Schulfreundin Aayana mitnehmen. Diese ist ein Flüchtlingskind aus Somalia und völlig anders aufgewachsen, als SoLu. Wie anders, wird sich dramatisch herausstellen und Dinge in Gang setzen, die alles verändern.
Uff! Da hat Glattauer eine gigantische Geschichte ersonnen, die leider viel zu nah an der Wahrheit ist. Auch wenn die Wahrheit unbequem ist, aber ganz genau so sind die Menschen. In jeder Hinsicht. Miteinander, mit anderen, in der eigenen Familie, im Umgang mit anderen Familien und vor allem im Schutz der digitalen und anonymen Welt. Die eingeschobenen Postings in Foren sind genauso, wie ich sie schon so oft gelesen habe. Da wird alles und jeder zerfleischt, da werden Behauptungen in den Raum gestellt, da wird gelästert, was das Zeug hält.
Nach und nach erfährt nicht nur der Leser, sondern auch SoLus Familie, die Geschichte einer Familie. Ein Schicksalsschlag jagt den nächsten, eine Ungerechtigkeit folgt auf die andere. Und weil alle immer schon ein fixes Bild von anderen, besonders Fremden, im Kopf haben, hat keiner jemals danach gefragt und somit im Grunde zur Katastrophe beigetragen.
Mich hat „Die spürst du nicht“ unbeschreiblich bewegt und auch schockiert. Doch nicht, was andere taten und sagten, nimmt mich so mit, sondern dass ich das kenne und mich nicht davon ausnehme, dass ich zwar Empathie für Flüchtlinge habe, aber auch eine Art Vorurteil in mir trage. Das Vorurteil zu wissen, dass sie Schlimmes erlebt haben und man nicht nachfragen muss, sie in Deutschland (oder wie im Buch in Österreich) in Sicherheit sind, versorgt werden und doch bitte glücklich sein sollen. Aber jeder einzelne dieser Menschen hat seine eigene Geschichte und selbst, wenn sich viele ähneln, so müssen sie doch erzählt und gehört werden. Erst dann helfen wir tatsächlich.
Doch Glattauer urteilt nicht. Er erzählt und überlässt dem Leser / Zuhörer, daraus etwas mitzunehmen. Dabei ist durchaus auch Humor vorhanden, der die Wahrheit und Aussage der Story nur noch unterstreicht. Dies ist Sozialkritik vom Feinsten, brandaktuell zu jedem Zeitpunkt, nicht nur jetzt. Die Figuren sind sehr glaubwürdig und lebensnah gezeichnet, verhalten sich manchmal dumm, aber genau das ist so real, machen Fehler, fallen hin, stehen auf oder auch nicht, verarbeiten ihre Traumata auf ganz eigene Art.
Als Hörbuch mit den Sprechern Tessa Mittelstaedt und Steffen Groth wirkt die Story sehr heftig. Die beiden schaffen es, die Illusion entstehen zu lassen, dass all dies tatsächlich gerade geschieht. Sie legen weder zu viel Gefühl in ihre Stimme, noch sind sie zu distanziert. Ganz besonders gelungen finde ich Tessa Mittelstaedts Version von Pierre.
Die Aussage ist hart, aber das Buch ist wunderbar. Ich gebe fünf Sterne und werde versuchen, mir ab sofort erst dann ein Bild von einem Menschen zu machen, wenn ich seine Geschichte von ihm selbst erfahren habe.