Entwurzelte Menschen folgen den Spuren ihrer Vergangenheit und suchen nach Heimat
Die UngleichzeitigenEntwurzelte Menschen folgen den Spuren ihrer Vergangenheit und suchen nach Heimat
Was Philipp Brotz mit seinem aktuellen Roman "Die Ungleichzeitigen" abliefert war für mich persönlich ganz großes Kino ...
Entwurzelte Menschen folgen den Spuren ihrer Vergangenheit und suchen nach Heimat
Was Philipp Brotz mit seinem aktuellen Roman "Die Ungleichzeitigen" abliefert war für mich persönlich ganz großes Kino gewesen.
Rein nur nach dem doch sehr kurzen Klappentext, wusste ich persönlich nicht, auf was ich mich bei diesem Buch dann wirklich einlassen werde.
Frau Träuble, ein urwüchsiges Schwarzwaldmädel aus dem Roman, würde dem Autor Brotz wohl folgenden Satz über den Zaun rufen.
"Ned gschimpft isch globt gnua!"
Das würde dem sehr tiefgründigen und auch sehr emotionalen Roman aber in keinerlei Hinsicht gerecht werden.
Ich versuche einfach das größte schwäbische Lob von Frau Träuble dann hier zu übersetzen.
Der kurze Teasertext lässt einen sehr engen Einblick in die gesamte Thematik des Buches zu und doch präsentierte mir die Geschichte dann während dem Lesen selbst unzählig viel mehr Facetten, als ich zunächst dachte.
Die Besetzung der unterschiedlichen Charakteren könnte besser nicht sein. Auch wenn mir persönlich nicht alle wohlgesonnen waren sind sie unheimlich realistisch angelegt und man sieht sich quasi mittendrin in der Geschichte als Teil davon. Manchmal möchte man Hagen vielleicht kurz schütteln oder kaltes Wasser ins Gesicht schütten, damit er endlich aufwacht, aber so ist es eben, wenn man schnell in die Handlung ein- und tief abtaucht und mit den Protagonisten mitfühlt.
Das Buch brauchte nicht viele Seiten, um auf mich persönlich eine richtige Sogwirkung zu entfalten. Die überwiegend kurzen Kapitel tun dann ihr Übriges und bringen den gewissen Kurzweil in die Geschichte rein.
Den äußerst bildhaften Schreibstil von Philipp Brotz mochte ich sehr gerne, da man hier mit den unterschiedlichen Szenerien quasi fast komplett verschmilzt. Im gesamten Handlungsstrang findet der Autor für die leichten wie auch schweren Themen immer die richtigen Worte.
Das im Roman beschriebene Szenario wirkte auf mich einerseits sehr verstörend aber auch erschreckend real.
Eine Story die den aktuellen Zeitgeist exzellent trifft und zwar im Schwarzwald ihren Ursprung nimmt aber bis hin zum Irak dann Strahlkraft hat und beispielsweise das unvorstellbare Leid der Jesiden dann sehr eindrücklich schildert.
Hagen und Adana stehen dann wohl sinnbildlich für entwurzelte Menschen unserer aktuellen Zeit, die in ihren Gedanken den Spuren ihrer Erinnerungen nachgehen und sich dabei auf die Suche nach der Heimat machen.
Was bedeutet Heimat dann für all diejenigen, welche dieselbige verlassen mussten oder aufgegeben haben?
Adana gibt darauf im Buch dann eine mögliche Antwort.
"Manchmal ist es schön, von früher zu erzählen. Unsere Geschichten sind der einzige Ort, an dem das Untergegangene lebendig bleibt."
Insbesondere die Verwebung der Rückkehr des Dauerstudenten Hagen mit der emotionalen Achterbahnfahrt rund um die Erlebnisse der Jesidin Adana waren für mich dann wirklich besonders lesenswert. Mir persönlich blieb beim Lesen von Adanas Schicksal dann echt die Spucke weg und ich hatte schnell anhaltende Gänsehaut. Brotz verleiht dem Stamm der Jesiden eine starke Stimme, die hoffentlich nie verstummen und klärt dabei, mitunter auch schonungslos, über die menschlichen Schicksale auf.
Philipp Brotz hält uns und unserer ganzen Gesellschaft mit dem Buch aber auch schön den Spiegel vor. Kein Wunder, wenn man sich hier und dort vielleicht auch selbst erkennt oder auch über manche Szenerie erschreckt oder schmunzelt.
Das offene Ende ist so seine Sache für sich. Mich lässt es arg nachdenklich zurück und der ganze Plot hallt dann bestimmt noch sehr lange in mir nach. Ich persönlich hätte mir vielleicht bereits hier noch ein "Muggeseggele" mehr Erzählung zum Schluss hin gewünscht. Es gibt meiner Meinung nach noch so viel zu erzählen und ich hoffe inständig darauf, dass Brotz die Charakteren nicht in der Schublade verschwinden sondern sie zu gegebener Zeit dann weiter ihre Geschichte erzählen lässt.
Summa summarum ein richtig tolles Buch mit starken Charakteren und einer Story, die man nicht so schnell vergessen wird.
Der Roman "Die Ungleichzeitigen" ist bereits jetzt eine meiner Buchperlen, die ich im Jahr 2023 dann aus dem fast unerschöpflichen Büchermeer fischen konnte.