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Veröffentlicht am 15.05.2023

Der Sturm im Reagenzglas

Eine Frage der Chemie
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Im Klappentext heißt es: "Elizabeth Zott ist vergesslich, und ihre Geschichte entlässt uns mit einem Lächeln aus diesem Roman." Nein, so ist es nicht, denn ich habe am Ende auch ganz schön geheult. Hiermit ...

Im Klappentext heißt es: "Elizabeth Zott ist vergesslich, und ihre Geschichte entlässt uns mit einem Lächeln aus diesem Roman." Nein, so ist es nicht, denn ich habe am Ende auch ganz schön geheult. Hiermit reihe ich mich ein in den Strom der Zott-Fans und ich tue es so gerne. Ein wunderbares Buch, so witzig und so traurig. Das ist einfach eine ganz tolle Lektüre, die uns den Spiegel vorhält, wie unsagbar schwer es Frauen hatten, in der Wissenschaft (und in anderen Bereichen) voranzukommen und ernst genommen zu werden. Man hängt an den Lippen der Protagonistin, die eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechtes einfach nicht hinnehmen will und kann kaum glauben, was ihr alles widerfährt und welche Rückschläge sie hinnehmen muss. Von der erfolgreichen Wissenschaftskarriere als herausragende Chemikerin bleibt ihr letztlich der Brotjob als Moderatorin einer halbstündige Kochsendung am Nachmittag - aber was für eine halbe Stunde. Da Kochen auch viel mit Chemie zu tun hat und es heißt Chemie ist Veränderung, geht für Elizabeth diese geforderte Veränderung natürlich weit über das Zubereiten von Mahlzeiten hinaus.

Nicht nur eine großartige, liebenswerte, streitbare und intelligente Protagonistin hat Garmus hier in die Welt geschickt, sondern auch einen Haufen toller Nebencharaktere, die die Geschichte bereichern, spannend und lebendig machen. Mit Nachbarin Harriet und "Kollegin" Miss Frask wird ebenfalls aufgezeigt, wie sich die Frauen zu Beginn der 60er Jahre unterzuordnen hatten, beruflich und privat. Walter, der TV-Produzent der Kochsendung, ist mir der liebste Nebencharakter, seine Zusammentreffen mit Elizabeth sind der klassischen Screwball-Komödie entliehen. Seine Verzweiflung, wenn die von ihm angeworbene Forscherin das gesamte überflüssige Inventar der Fernsehküche an das Studiopublikum verschenkt oder sich nicht an die Texte der Tafeln hält, ist einfach köstlich. Insgesamt ist die Geschichte unheimlich flott, witzig und ironisch geschrieben, mit sehr gelungenen Dialogen. Oft bleibt einem aber auch das Lachen im Halse stecken, wenn die unhaltbaren Zustände geschildert werden, die der weibliche Teil der Gesellschaft damals einfach hinnehmen musste. Mir gefällt auch die Konstruktion der Geschichte, das Vor- und Zurückspringen in der Handlung, so bleibt zunächst einiges ungesagt, die Neugierde aufrechterhalten und erst am Ende klärt sich alles auf.

Lest das Buch und nehmt auch teil am Chemieunterricht von Elizabeth Zott, man lernt für's Leben und überlegt, mit dem Rudersport zu beginnen oder seinen Hund auch Halbsieben zu nennen.

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Veröffentlicht am 14.04.2023

Sprung ins Leben

Seemann vom Siebener
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Ein wunderschöner sonniger Tag in einer Kleinstadt mitten in Deutschland. Die Menschen strömen ins Freibad. Für einige wird es ein ganz besonderer Tag werden, ein Tag, der Entscheidungen, Abschiede und ...

Ein wunderschöner sonniger Tag in einer Kleinstadt mitten in Deutschland. Die Menschen strömen ins Freibad. Für einige wird es ein ganz besonderer Tag werden, ein Tag, der Entscheidungen, Abschiede und Wiederbegegnungen mit sich bringen wird. Wir plumpsen mitten rein in die Leben von Isobel, dessen Mann einst das Freibad gebaut hat und die nun fast jeden Tag dort ihre Bahnen zieht, von Bademeister Kiontke, der guten und schwer verletzten Seele des Bades. Wir begegnen der ehemaligen Fast-Professorin Joe, die eigentlich zu einer Beerdigung müsste; Renate, die mit Kreuzworträtseln bewaffnet im Kassenhäuschen sitzt; Lenny, dem Starfotograf, der nach drei Bahnen schon aus der Puste ist und dem Mädchen mit den kurzen Haaren, das auf den Sprungturm will.

Das Buch ist in drei Abschnitte eingeteilt. Zunächst begleiten wir alle auf dem Weg ins Freibad und verfolgen die Vorbereitungen vor dem Öffnen der Tore. Im nächsten Teil tummeln sich die Figuren zwischen Liegewiese, Schwimmbecken, Kiosk und Sprungturm. Der dritte Abschnitt lässt alle Fäden zusammenlaufen und entlässt die Charaktere in ein verändertes Leben.

Was für ein Tag! Trotz der Kürze (234 Seiten) hat Arno Frank ein großes Kaleidoskop von Menschen in einer Kleinstadt geschaffen. Zunächst bleibt einiges im Ungewissen, aber durch Rückblicke der einzelnen Figuren erfahren wir immer mehr und können Lücken selbst schließen. Mich hat die Geschichte, fokussiert auf einen Tag und einen Ort, fasziniert und begeistert. Trotz der traurigen Elemente und des Unglücks, das über allem schwebt, habe ich das Buch wahnsinnig gerne gelesen und wäre den Charakteren gerne noch weiter gefolgt. Renate in ihrer Kratzbürstigkeit ist ebenso eine Freude, wie Kiontke - für mich der heimliche Star des Romans -, der so behäbig daherkommt und schließlich überraschend mit absoluter Kompetenz überzeugt. Alle Figuren sind liebevoll erdacht und gestaltet, mit spannenden Lebensgeschichten und Schicksalen, mit Witz und Tragik; Figuren, für die der Autor jeweils eine eigene Sprache gefunden hat.

Genau das richtige Buch für die wärmer werdenden Tage, mit einem ganz großartig gelungenen Cover versehen.

Lesen, eintauchen und auf dem Grund des Springerbeckens sitzen bleiben.

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Veröffentlicht am 27.03.2023

Und der Schnee deckt alles zu

Der Morgen (Art Mayer-Serie 1)
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Die Tom Babylon-Reihe hatte mir gut gefallen, daher hatte ich natürlich auch hohe Erwartungen an die neue Serie von Marc Raabe. Und ich wurde nicht enttäuscht.

Im verschneiten Berlin wird auf spektakuläre ...

Die Tom Babylon-Reihe hatte mir gut gefallen, daher hatte ich natürlich auch hohe Erwartungen an die neue Serie von Marc Raabe. Und ich wurde nicht enttäuscht.

Im verschneiten Berlin wird auf spektakuläre Weise eine Frauenleiche gefunden. Sie ist keine Unbekannte. Was jedoch den gesamten Polizeiapparat in Aufruhr versetzt, ist die Adresse, die auf den Körper der Toten geschrieben wurde: Ein großes Grundstück mit Villa im Westend und dort wohnt kein Geringerer als der Bundeskanzler. Artur Mayer, kurz Art genannt, wird zur Ermittlungsgruppe des BKA hinzubeordert. Typ einsamer Wolf und keinem Widerwort abgeneigt, muss er sich mit einer jungen Kommissar-Anwärtin zusammentun. Nele Tschaikowski hat als Nichte des Polizeipräsidenten ohnehin einen schwierigen Stand innerhalb des BKA, da kommt ihr der aufmüpfige Mayer gerade recht. Gemeinsam versuchen sie Licht in den Todesfall zu bringen, der nicht der einzige bleiben wird und immer wieder stößt Nele auf Hinweise, dass Arts Vergangenheit irgendwie eine Rolle in diesem ganzen Chaos spielen könnte.

Wie schon bei der vorherigen Tetralogie, spielt die Vergangenheit der Protagonisten eine große Rolle. Die aktuelle Handlung wird immer wieder durch Kapitel aus der Kindheit der Charaktere unterbrochen. Da zunächst alle nur mit Spitznamen versehen werden, ist lange unklar, wer wer ist. Das ist richtig gut gemacht und sorgt für so manche Überraschung. Dieses Eintauchen in die Psyche der Figuren, was bestimmte Ereignisse in ihnen auslösen und wie sie in ihrem späteren Leben damit umgehen, scheint schon eine Art Spezialität des Autors zu sein. Neben diesem spannenden Aspekt spielt die Welt der Politik eine große Rolle und die Macht von Social Media. Insgesamt eine gelungene Mischung aus lebendigen und einnehmenden Protagonisten, berührenden Schicksalen und einem sehr guten Schreibstil, der sich auch besonders in den Dialogen zeigt. Diese interessant, informativ und "echt" zu Papier zu bringen, gelingt nicht jedem. Zudem kommt Raabe in seinem Thriller ohne allzu viel Blut und Gemetzelszenen aus.

Mich hat dieser Reihenauftakt auf die folgenden Bände sehr neugierig gemacht. Denn obwohl der Fall aufgeklärt wird, bleiben einige Fäden in der Luft schweben, die noch eingefangen werden müssen. Es wurde eine Gruppe von Nebencharakteren eingeführt, die neben Art und Nele sicherlich in den nächsten Thrillern auch eine Rolle spielen werden. Auf Teil zwei ("Dämmerung" 2024) freue ich mich schon, auch wenn es noch etwas dauern wird.

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Veröffentlicht am 24.03.2023

Eine unpersönliche Autobiografie

Die Jahre
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Da mich "Der Platz" erst kürzlich beeindruckt hat, habe ich nun auch "Die Jahre" gelesen und es hat mir sogar noch besser gefallen. Der spröde, eher sachliche Ton im Schreibstil bleibt, dennoch schwingt ...

Da mich "Der Platz" erst kürzlich beeindruckt hat, habe ich nun auch "Die Jahre" gelesen und es hat mir sogar noch besser gefallen. Der spröde, eher sachliche Ton im Schreibstil bleibt, dennoch schwingt immer Melancholie und ein wenig Nostalgie mit. Ernaux schreibt sich durch die Jahrzehnte ihres Lebens, sieht und beschreibt Fotos von sich selbst. Welche Gefühle, Wünsche und Hoffnung damals in ihr steckten, wie sich dies in die jeweilige Zeitstimmung und die gesellschaftliche Entwicklung einfügte. Ihre individuellen Erinnerungen sind oft Kleinigkeiten oder alltägliche Begebenheiten, die aber konzentriert betrachtet werden und mit dem großen Ganzen, der französischen Geschichte und dem politischen Weltgeschehen verschmelzen. Filme, Bücher und Musik, die Ernaux und ihre Altersgenoss*innen zu bestimmten Zeiten geprägt haben, werden ebenso genannt, wie die voranschreitende Emanzipation. Nie spricht die Autorin von "ich", sondern sie nimmt sich selbst im "man" und "wir" zurück und schreibt daher die Erinnerungen einer ganzen Generation.

"Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird." (S.256)

Das Buch muss in Frankreich noch stärker beeindruckt haben, weil es viel Allgemeingültiges enthält. Wenn Ernaux z.B. über die Schullektüre schreibt, mit denen Kinder seit Jahrzehnten in bestimmten Altersstufen traktiert werden, dann betrifft das ganz Frankreich, den dort ist das Bildungssystem zentralistisch geregelt.

Mir haben diese Erinnerungen sehr gut gefallen. Trotz der episodenhaften Anlage liest es sich flüssig und es war viel zu schnell zu Ende. Ich werde es sicherlich noch öfter zur Hand nehmen. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 09.02.2023

Das Rundhaus

Das Haus des Windes
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Das alte Rundhaus (The Round House, so auch der Originaltitel) ist das Zentrum des Reservats in North Dakota. Es wurde gebaut, um zu helfen, die Angelegenheiten der Menschen dort zu regeln; es ist also ...

Das alte Rundhaus (The Round House, so auch der Originaltitel) ist das Zentrum des Reservats in North Dakota. Es wurde gebaut, um zu helfen, die Angelegenheiten der Menschen dort zu regeln; es ist also eine Art Gerichtshaus. Genau dort geschieht ein schreckliches Verbrechen. Geraldine, die Mutter des 13jährigen Joe, wird brutal überfallen. Joe und sein Vater Antone, ein Stammesrichter des Reservats, versuchen Licht die Angelegenheit zu bringen, wälzen alte Gerichtsakten und stellen Nachforschungen an. Geraldine zieht sich immer weiter von ihrer kleinen Familie zurück. Sie weiß etwas, davon ist Joe überzeugt. Als seine Mutter endlich über den Vorfall spricht, fasst Joe einen folgenschweren Plan.

Was für eine prall erzählte Geschichte, die im Jahr 1988 spielt. Im Zentrum steht der furchtbare Überfall auf die indigene Geraldine und die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der strafrechtlichen Verfolgung, die schier unglaublichen Hürden, die per Gesetz die Täter schützen. Diese juristische Thematik ist in eine wunderbar erzählte Familien- und Jugendgeschichte eingebunden. Eine Geschichte über eine weit verzweigte Familie, uralte indigene Rituale und Traditionen, die Verbundenheit zur Natur, über bedingungslose Freundschaft und Ausgrenzung.

In Louise Erdrichs Roman verschmelzen der Erzählstrange der Haupthandlung mit Einschüben aus der Geschichte der indigenen Bevölkerung zu einem unglaublich interessanten Stoff. Man erfährt viel über den Alltag im Reservat, wie die Traditionen am Leben erhalten werden, weil sie immer noch wichtige Bestandteile im Leben der Menschen dort sind. Die Geschichte wird aus der Sicht von Joe im Rückblick erzählt und er trägt die Handlung. Seine Gefühle, besonders seine Wut werden unmittelbar und echt geschildert. Seine Freundschaft zu Zack, Angus und vor allem Cappy hat mich an "Stand by me" erinnert, da gibt es Parallelen. Trotz des schweren Themas hat das Buch auch viele humorvolle Passagen, die ausgleichend wirken und es ist insgesamt dramatisch, lebendig und mitreißend.

Eine Lesempfehlung von ganzem Herzen.

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