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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.07.2023

Positive Lebenseinstellung kann man erlernen

Hotel Silence
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Jonas fühlt sich einsam wie noch nie. Seine Ehefrau hat ihn verlassen und ihm mitgeteilt, dass die mit viel Liebe großgezogene Tochter nicht von ihm ist. Sein ganzer Lebensinhalt fällt wie ein Kartenhaus ...

Jonas fühlt sich einsam wie noch nie. Seine Ehefrau hat ihn verlassen und ihm mitgeteilt, dass die mit viel Liebe großgezogene Tochter nicht von ihm ist. Sein ganzer Lebensinhalt fällt wie ein Kartenhaus zusammen. Jonas weiß zunächst nicht, wohin mit sich. Er denkt an den Freitod, doch auch gleichzeitig, was sein Suizid in seinen Liebsten auslösen würde. Ihm bleibt nur die Flucht.

Seine Reise führt ihn in ein kriegsgebeuteltes Land. Dort lernt er Mai, Fifi und Adam kennen. Seine Wahrnehmung verändert sich. Ich mochte die Konstellation aus westlichen Wohlstandsproblemen und der Challenge ums Überleben. Die eigene Sichtweise wird geerdet.

Besonders war hier die Herangehensweise an die Geschichte. Obwohl die Geschehnisse nur lückenhaft beschrieben sind, hat sich für mich ein ganzheitliches Bild ergeben. Viele offene Enden regen zum Nachdenken an. Dafür ist es allerdings erforderlich, dass man ab und zu innehält und das Gelesene auf sich wirken lässt. Da der Roman gleichzeitig sprachlich sehr angenehm weitergeleitet, ist das gar nicht so einfach. Man wird zum suchthaften Lesen in einem Stück verleitet. Die Nebenfiguren, wie der Gastwirt oder die Schauspielerin, sowie das Setting an sich blieben anonym, so dass der Fokus auf einer Hand voll Personen lag. Für mich ist dadurch ein literarisch ansprechender Roman entstanden. Darüberhinaus bringt er eine gewisse, teilweise makabre Komik mit, die immer wieder Licht in die ansonsten trübe Grundstimmung bringt.

Ansonsten hat mir der menschliche Zusammenhalt im Roman gut gefallen. Die Leute im Ort sind füreinander da, sorgen wechselseitig dafür, dass letztlich alle Gewerbetreibende von den wenigen Gästen profitieren. Empfehlungen und Anrufe bringen Gäste und Gewerbetreibende zusammen. Obwohl es nach dem Krieg bzw. während der Waffenruhe noch keine sichere gesellschaftliche Organisation gibt, gibt es einen Ausgleich und Ordnung im Ort.

Insgesamt hat mir „Hotel Silence“ gefallen, gern empfehle ich den Roman weiter.

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Veröffentlicht am 18.05.2023

Spannender Start in eine neue Serie

Der Morgen (Art Mayer-Serie 1)
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Nachdem ich alle Bände der Reihe um Tom Babylon regelrecht verschlungen hatte, wollte ich natürlich auch in die neue Reihe von Marc Raabe hinein schnuppern. Mit seinem auffälligen Buchdesign aus schwarzem ...

Nachdem ich alle Bände der Reihe um Tom Babylon regelrecht verschlungen hatte, wollte ich natürlich auch in die neue Reihe von Marc Raabe hinein schnuppern. Mit seinem auffälligen Buchdesign aus schwarzem Buchschnitt und Pink-schwarzem Cover drängt sich das Werk förmlich auf, ist ein richtiger Hingucker.

So passt die Optik perfekt zum spektakulären Start in den Thriller. Im winterlichen Berlin wird an der Siegessäule eine halbnackte Frauenleiche gefunden. Auf ihrem Körper steht etwas mit Blut geschrieben. Es ist die Adresse des Bundeskanzlers. Damit hat der Fall sofort eine politische Komponente, mehr Komplexität, wird insgesamt brenzliger.

Die Rollenverteilung ist hier recht klassisch. Artur Mayer ist der gefühlt schon gebrochene Ermittler, der eigentlich hinwerfen will. Er ist gezeichnet von den Erlebnissen der Vergangenheit, man ahnt sofort Schlimmes, weiß aber noch gar nichts. Er ist unkonventionell, dehnt geltende Regeln nach eigenem Ermessen und doch hat Art, wie ihn alle nennen, ein gutes Herz. Ihm zur Seite wird die Hochschulabgängerin Nele Tschaikowski gestellt, Frau, unerfahren und ehrgeizig. Über diese klischeehafte Konstellation bin ich kurz gestolpert, bis ich entdeckt habe, welchen modernen Drive Nele in die Story bringt. Unverfroren gendert sie, bringt sich als Frau in Position und geht ihrem Chef damit gehörig auf die Nerven.

Stilistisch bleibt sich der Autor treu und bedient sich wie auch schon bei Tom Babylon Rückblenden in die Jugend. Dadurch verfolgen wir abwechselnd Artur Mayers abenteuerliche Jugendzeit sowie den aktuellen Fall und bekommen in kleinen Häppchen potenzielle Zusammenhänge präsentiert. Dabei versteht es Marc Raabe auf unnachahmliche Weise, sein komplexes Gerüst aus roten Fäden weiterzuspinnen und die für diesen Teil entscheidenden Fäden letztlich wieder zusammen zu führen. Einige Anfänge bleiben unvollendet. Sie machen Hunger auf auf die weiteren Bände dieser neuen Serie.

Insgesamt entsteht ein richtig spannender Thriller, der zusätzlich aktuelle Themen wie Pandemie, Ukrainekrieg und FakeNews mit verarbeitet. Durch die über den Fall hinaus konstruierte Vielschichtigkeit war es zu keinem Zeitpunkt irgendwie träge, sondern sehr erfrischend und modern. Auch die Zeichnung der Charaktere fand ich gelungen. Neben dem Ermittlerteam lernen wir weitere Personen richtig gut kennen, weshalb ich sehr gespannt bin, in wie weit sie auch in den nun folgenden Bänden auftreten dürfen.

Voller Vorfreude warte ich nun auf das Erscheinen von Band Zwei und empfehle sehr gern die Lektüre dieses Auftaktes.

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Veröffentlicht am 25.04.2023

Genießen wie die Ikone

Zu Gast bei Frida Kahlo
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Die Persönlichkeit Frida Kahlo mit ihrer unglaublichen Lebensgeschichte und ihrer Leidenschaft fasziniert mich schon seit längerem. Da ich die mexikanische Küche gleichermaßen anziehend finde, musste ich ...

Die Persönlichkeit Frida Kahlo mit ihrer unglaublichen Lebensgeschichte und ihrer Leidenschaft fasziniert mich schon seit längerem. Da ich die mexikanische Küche gleichermaßen anziehend finde, musste ich das vorliegende Kochbuch unbedingt haben. Ähnlich farbenfroh wie das wunderbare Cover sind auch die Gerichte darin.

Der Einstieg in das Kochbuch gelingt mit einem kurzen Abriss über die Ikone, natürlich mit dem Fokus auf ihren Vorlieben in der Küche. Wir erfahren, wie gern Frida Kahlo Gäste im Haus hat und ihnen ihre Wertschätzung mittels aufwendig zubereiteter Speisen ausdrückt. Wir lernen etwas über die echte mexikanische Küche und die mexikanische Esskultur. Die Zusammenstellung der Einleitung hat mir gut gefallen. Die Inhalte waren interessant und gleichzeitig recht kurz gehalten, so dass es im Kontext eines Kochbuchs perfekt für mich war.

Es folgen die verschiedenen Kapitel mit den Rezepten: Basisrezepte und Salsas, Frühstück und Brunch, Streetfood und Suppen, Klassiker und Hauptgerichte, Salate von fruchtig bis deftig, Nachspeisen und süße Köstlichkeiten sowie Cocktails und Erfrischungsgetränke. Der Aufbau der einzelnen Rezepte entspricht meiner Erwartungshaltung. Es gibt eine Zutatenliste, eine Zubereitungszeit und eine gut nachvollziehbare Beschreibung der Arbeitsschritte. Zur Motivation oder zum Appetit anregen sind die Rezepte sehr ansprechend bebildert. Fast immer gibt es noch Tipps zu alternativen Zutaten, zum Servieren oder Zusatzinformationen zum Rezept. Dadurch wird dieses Kochbuch zu etwas Besonderem. Gut durchdacht sind auch die drei Inhaltsverzeichnisse. Zwei davon listen die Rezepte in alphabetischer Reihenfolge auf, einmal spanisch, einmal deutsch. Das dritte Verzeichnis verweist auf die Rezepte ausgehend von den verwendeten Zutaten.

Schon nach dem ersten Durchblättern musste ich feststellen, dass ich der mexikanisches Küche bisher mehr Fleischlastigkeit unterstellt hatte. Es gibt so viele Varianten schneller, vegetarischer Gerichte, dass ich zunächst gar nicht entscheiden konnte, was ich zuerst zubereiten wollte. Inzwischen habe ich diverse Salsas und Dips gekostet. Alle waren schmackhaft und laden zur Wiederholung ein. Mein aktueller Liebling ist geröstete Habanero-Salsa, zum Reinsetzen. Verzehrt wird das Ganze mit den originalen Maistortillas. Dafür habe ich mir extra nixtamalisiertes Maismehl besorgt. Der Geschmack dieser Tortillas ist viel intensiver im Vergleich zu gekauften Exemplaren. Extrem lecker waren auch die süßen Muschelbrötchen. Sind Kinder im Haushalt, muss man schnell sein, um selbst auch eins abzubekommen.

Ich bin regelrecht begeistert von diesem Kochbuch. Leider kann ich gar nicht so viel essen wie ich gern zubereiten möchte. Deshalb habe ich mir die aufwendigeren Menüs für die kommenden Feiertage vorgenommen, wo ich dann selbst Gäste im Haus habe. Was ich unbedingt kochen möchte, ist Hähnchen mit Mole Poblano. Das wird mit Sicherheit ein Fest.

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Veröffentlicht am 24.04.2023

Lektüre, die erdet und entschleunigt

Das Café ohne Namen
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Der Roman beginnt 1966 als sich Wien langsam von den Kriegsschrecken erholt, die Verhältnisse trotzdem noch ärmlich sind. In dieser Zeit schlägt sich Robert Simon als Gelegenheitsarbeiter auf dem Wiener ...

Der Roman beginnt 1966 als sich Wien langsam von den Kriegsschrecken erholt, die Verhältnisse trotzdem noch ärmlich sind. In dieser Zeit schlägt sich Robert Simon als Gelegenheitsarbeiter auf dem Wiener Karmelitermarkt durch und bewohnt ein Zimmer bei einer Kriegerwitwe. Doch bald schon beschließt er ein leerstehendes Café vor weiterem Verfall zu retten und neu zu eröffnen. Sein Angebot ist klein, besteht lediglich aus Schmalzstullen, Salzgurken und diversen Getränken. Eigentlich würde die Bezeichnung Schankwirtschaft viel besser passen.

Doch entscheidender ist, wer das Café besucht, mit welchen Herausforderungen die Gäste zu kämpfen haben und wie sie sich im Laufe der Zeit entwickeln. Robert Seethaler widmet seine Geschichte den einfachen Menschen. Er schenkt ihnen ein Bier ein und hört ihren alltäglichen Geschichten zu. Dadurch entsteht eine einfühlsame leidvolle Atmosphäre, die der Erzählweise meiner Großeltern und ihren Besuchern entspricht. Stundenlang saßen sie in meiner Kindheit auf der Gartenbank und haben sich was erzählt. Daran musste ich beim Lesen ganz oft zurück denken.

Bei Seethaler bekommen Menschen eine Stimme, für die sich normalerweise niemand interessiert, der Fleischermeister mit seinen Kindersorgen aus dem Laden gegenüber, der Hauseigentümer Vavrovsky, die arbeitslos gewordene Näherin Mia, der Preisboxer, der Mann mit Glasauge und einige andere mehr. Es ist schön, die einzelnen Paarungen an den Tischen aus einer Ecke des Cafés heraus zu beobachten, ihren Gesprächen und Gedanken beizuwohnen. Dieses Jahre überdauernde Stimmengewirr ergibt eine leises, sehr authentisches Spiegelbild der bescheidenen Leute seinerzeit. Eine spannende Handlung war hier nicht notwendig, um mir zu gefallen. Das Auf und Ab des Cafés und seiner Gäste waren in meiner Wahrnehmung Handlung genug. Nur so kam die Stimmung des wiedererwachenden Wiens unverfälscht bei mir an.

Es mag sein, dass der ein oder andere diese Auseinandersetzung vielleicht langatmig findet. Mich hat Robert Seethaler mit seinem Café ohne Namen tief berührt. Ein schöner Ausgleich zu unserer schnellen, undankbaren Wegwerf-Lebenswirklichkeit von heute. Ich kann diese Erdung und Entschleunigung nur empfehlen.

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Veröffentlicht am 25.03.2023

Nichts bleibt - außer Kugeln und Asche

Kremulator
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Pjotr Nesterenko ist Direktor des Moskauer Krematoriums. Tagsüber äschert er die regulär verstorbenen ein, nachts die anderen Toten. Es ist ein seltsamer Beruf, am Ofen zu stehen und quasi im Akkord Leichen ...


Pjotr Nesterenko ist Direktor des Moskauer Krematoriums. Tagsüber äschert er die regulär verstorbenen ein, nachts die anderen Toten. Es ist ein seltsamer Beruf, am Ofen zu stehen und quasi im Akkord Leichen dem Feuer zuzuführen, ein kaum zu ertragendes Geschäft. Gleichzeitig ist man Herr über die Moskauer Friedhöfe, entscheidet über die Vergabe der besten Liegeplätze, genießt ein gewisses Ansehen. Ein Beruf, den ich niemals ertragen könnte, den Pjotr Nesterenko mangels Alternativen in konzentriertem Gleichmut tagtäglich bis zu seiner Verhaftung ausübt.

Als Offizier der Weißen Armee und ehemaliger Flüchtling durch halb Europa weiß Nesterenko sofort, was ihm blüht. Es beginnt eine Zeit der Verhöre, die in Nesterenkos unausweichlichen Schicksal mündet. Sasha Filipenko kreiert ein Zwei-Personen-Stück mit Pjotr Nesterenko als Angeklagtem und dem jungen Leutnant der Staatssicherheit Perepeliza als Ermittler. Beide umschleichen sich gegenseitig wie Katz und Maus, um im richtigen Moment entweder zuzuschlagen oder zu entkommen. Dabei verbleibt Nesterenko in seiner unerschütterlichen Ruhe, gönnt sich die ein oder andere Provokation seines Gegenübers.

Das gesamte Szenario ist geprägt von einer kalten Atmosphäre des Misstrauens. Daran ändern auch manch bittersüße Gedanken Nesterenkos an seine erste und einzige Liebe Vera nichts. Obwohl die Handlung im Kontext der stalinistischen Säuberungen erzählt wird, hatte ich überwiegend das Gefühl im Heute unterwegs zu sein. Im Ergebnis drängt sich mir die gruselige Erkenntnis, dass Rehabilitation nach einer einzelnen politischen Fehlentscheidung nicht möglich ist, auf. Es bleibt ein Gefühl von Angst, Terror und Unterdrückung zurück.

Umso mehr Respekt hege ich dem Autor gegenüber für diesen Text. Da mich der Inhalt kalt erwischt und maximal schockiert, kann ich den Roman nicht unbedingt als mein Lieblingsbuch von Sasha Filipenko bezeichnen. Nichtsdestotrotz nehme ich eine literarische Steigerung im Vergleich zu seinen letzten beiden Romanen wahr. Allein schon das Wortspiel des Titels begeistert mich. Den Mut dahinter muss ich einfach anerkennen.

Ich bin ein stückweit atemlos aus dem Roman entkommen. Die gewonnenen Eindrücke sind eindringlich und sehr glaubwürdig. Ich kann die Lektüre nur empfehlen.

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