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Veröffentlicht am 20.04.2023

Von Eva zu Eva

Eva
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In ihrem zweiten Roman nach „Die Gespenster von Demmin“, in dem es unter anderem um die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ging, befasst sich Verena Keßler (Jahrgang 1988) nun mit einem Thema, mit ...

In ihrem zweiten Roman nach „Die Gespenster von Demmin“, in dem es unter anderem um die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen ging, befasst sich Verena Keßler (Jahrgang 1988) nun mit einem Thema, mit welchem sicherlich viele Frauen aus ihrer Generation derzeit hadern: dem Kinderkriegen. Nun liegt hier keine Geschichte vor, die man in den vergangenen Jahren schon zuhauf auf den Veröffentlichungslisten vorgefunden hat. Es geht nicht um die Innenansicht einer einzelnen Frau, die das Für und Wider der Mutterschaft abwägt, während sie versucht bestmögliche Work Life Balance zu halten.

In „Eva“ betrachtet Keßler vier Frauen in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen und mit ganz unterschiedlichen Einstellungen zum Thema Mutterschaft. Da ist Sina, eine Journalistin, die zusammen mit ihrem Partner verzweifelt versucht schwanger zu werden, während in ihrem sozialen Umfeld gerade jede Frau entweder einen prallen Babybauch oder das schon geschlüpfte Küken vor ebenjenem stolz herumträgt. Da ist Eva, eine Lehrerin, die sich herausgenommen hat, einen provokativen Artikel zu veröffentlichen, in welchem sie darlegt, warum es für das Weltklima das Beste wäre, erst gar nicht mehr ein Kind in die Welt zu setzen, und dafür stark angefeindet wird, vor allem nach einem plakativ inszenierten Interview durch Sina. Da ist Mona, die Schwester von Sina, welche sich unverhofft und überrumpelt in einem anstrengendem Leben mit drei Kindern wiederfindet. Und die vierte Protagonistin, welche einem unsagbaren Verlust gegenübersieht.

Alle vier Protagonistinnen bekommen episodenhaft zusammenhängend in ihrem eigenen Kapitel den Raum, den sie benötigen, um als Leser:in ihrer Geschichte und ihren Einstellungen näher zu kommen. Wobei alle bis auf Eva aus der Ich-Perspektive heraus erzählen dürfen. Ausnahmslos allen Figuren kommt man durch den ungekünstelten und klaren Erzählstil Keßlers unglaublich nahe, ob man nun ihre Lebensentwürfe und Einstellungen grundsätzlich befürworten würde oder nicht. Es entsteht ein tiefes Verständnis und eine Nachvollziehbarkeit für sie und man fiebert mit jeder von ihnen mit. Die äußerst authentische Darstellung der Personen sorgt dafür, dass man unvoreingenommen ihre Geschichten erleben kann, ohne dass von Seiten der Autorin eine moralische Wertung vermittelt wird.

Der Facettenreichtum dieses Romans hat mich sehr begeistert, wenngleich mir zum Ende hin die Fäden zu stark auseinanderdrifteten, sodass ich das Gefühl hatte, es fehlt noch irgendetwas. Letztlich gibt es keine eindeutigen Lösungen für die angesprochenen Probleme, mit einer konkreteren Nachverfolgung der vier Leben hätte sich hier vielleicht ein runderes Bild ergeben. Ich weiß es nicht genau. Letztlich handelt es sich für mich um ein äußerst gelungenes Buch, welches sprachlich sehr solide geschrieben ist, in welchem ich mir aber auch keine ganz, ganz besonderen Sätze markiert habe, bei welchen ich dachte: „Mensch, da steckt jetzt so unglaublich viel in diesen wenigen Worten drin. Den Satz muss ich einer Freundin vorlesen.“ Zuletzt empfand ich es als nicht wirklich nachvollziehbar, warum Eva als einzige Protagonistin ein Kapitel aus der personalen Erzählperspektive heraus bekommen hat. Nahe kommt man ihr unzweifelhaft trotzdem, aber literarisch wurde mir die Entscheidung der Autorin hier nicht ganz klar.

Wenn verschiedene Generationen im Debütroman der Autorin schon eine wichtige Rolle spielten, so tauchen diese auch im vorliegenden Roman – thematisch in anderer Weise – wieder auf, wenn sie in Evas Kapitel schreibt:

„Wenn sie ehrlich war, gefiel ihr die Vorstellung sogar: eine Ahnenkette, die sich über Millionen von Jahren fortgesetzt hatte und nun endete – mit ihr. Sie würde sich nicht einreihen, sie bildete den Schlusspunkt, sie war diejenige, auf die alles hinausgelaufen war. Von Eva zu Eva.“

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 16.04.2023

Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.

Kleines Land
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Der Rapper und Autor Gaël Faye schreibt in seinem ersten Roman über die eigene Kindheit und beginnende Jugend in Burundi, einem kleinen Nachbarstaat von Ruanda, auf den sich der Konflikt und später Völkermord ...

Der Rapper und Autor Gaël Faye schreibt in seinem ersten Roman über die eigene Kindheit und beginnende Jugend in Burundi, einem kleinen Nachbarstaat von Ruanda, auf den sich der Konflikt und später Völkermord zwischen Hutu und Tutsi ebenso katastrophal auswirkte, wie auf den bekannteren Nachbarn Ruanda.

Wir begleiten den Ich-Erzähler Gabriel, kurz Gaby, der das Alter Ego von Gaël Faye darstellt, in seine Kindheit, die zunächst von sehr alltäglichen Beobachtungen geprägt ist. Seine Mutter ist als Tutsi vor vielen Jahren mit ihrer Familie aus Ruanda geflohen, der Vater ist Franzose, der als weltoffener junger Hippie in das kleine afrikanische Land Burundi reiste, sich in Gabys zukünftige Mutter verliebte und blieb. Schritt für Schritt drängt sich in den unbeschwerten Alltag des Jungen der Konflikt zwischen den Bevölkerungsgruppen, immer stärker radikalisieren sich Personen im sozialen Umfeld Gabys. Mit unserem heutigen Wissen sehen wir die politisch-gesellschaftliche Katastrophe herannahen und müssen miterleben wie Gaby und seine Familie davon überrollt wird, bis er dann zusammen mit der Schwester ins französische „Mutterland“ ausgeflogen wird.

Äußerst eindrücklich erzählt Faye in seinem autobiografisch inspirierten Roman wie eine unbeschwerte Kindheit mit der Weltpolitik kippen kann und Kinder durch äußere Einwirkungen viel zu schnell erwachsen werden müssen, um in der gewalttätigen Welt um sich herum überleben zu können. Sprachlich ist der Roman jedoch mitunter eine Hängepartie. So gibt der Autor dem Jungen zu Beginn eine sehr naiv-kindliche Sprache, obwohl durch ein einleitendes Kapitel klar wird, dass der Ich-Erzähler als Mitte 30jähriger Mann auf sein Leben zurückblickt. Die Ausdrucksformen erscheinen dadurch zunächst nicht konsistent. So sind die Schilderungen aus der Ich-Perspektive heraus so kindlich, Gespräche zwischen den Erwachsenen mit politischem Inhalt werden jedoch haargenau in eloquenter, informierter Erwachsenensprache wiedergegeben. Das stößt stilistisch beim Lesen auf, erscheint es doch so, dass Faye die Gespräche zwischen den Erwachsenen eher ungeschickt einbaut, um die Lesenden davon in Kenntnis zu setzen, worum sich der Konflikt damals drehte. Auch haben die Erwachsenen sehr viel Wissen, was zu diesem Zeitpunkt politisch hinter den Kulissen geschieht und sehen in ihren Gesprächen politische Entscheidungen und Abläufe voraus, die wir zwar aus der heutigen Sicht kennen, aber sehr wahrscheinlich nicht den Menschen im Land vor der Eskalation bekannt waren. Es wird der Eindruck vermittelt, die Menschen hätten bereits zwei Jahre vor dem Völkermord genau gewusst, dass Frankreich indirekt Partei ergreifen wird, dass die Blauhelme mit Beginn eines bewaffneten Konflikts abgezogen und nicht eingreifen werden, dass ausländische Regierungen ihre Mitarbeiter abziehen werden und dass der Großteil der Tutsi von den Hutu flächendeckend abgeschlachtet werden wird. Hier hat sich Faye scheinbar dazu hinreißen lassen, seine Protagonist:innen mehr wissen zu lassen, als sie hätten wissen können. Aber vielleicht irre ich mich und für die Bevölkerung war ihr Schicksal damals tatsächlich so genau vorhersehbar. Um auf die Sprache zurückzukommen, so ist noch anzumerken, dass trotz der zunächst sehr kindlichen Wortwahl Gabys, er in Briefen an seine französische Brieffreundin übermäßig eloquent und poetisch schreiben kann. Das verwirrt und schafft eine noch größere Kluft zwischen den erzählten Passagen. Im Verlauf des Buches wird dann auch die Wortwahl Gabys reifer, was sicherlich seiner vorgezogenen Reifung durch die konfliktreiche Lage des Landes entsprechen soll. Dass er dann wiederum als 11Jähriger recht knifflige psychologische Überlegungen anstellt, wirkt schon wieder too much. Es hätte demnach schlüssiger gewirkt, wenn sich Faye dazu entschieden hätte, durchgängig die Erinnerungen als Erzählung eines erwachsenen Gabys anzulegen. Auch erscheint die Übersetzung von Brigitte Große und Andrea Alvermann in der ersten Hälfte des Romans noch ein wenig holprig. Idiome aus dem französischen Sprachraum werden mitunter direkt Wort für Wort ins Deutsche übersetzt und wirken dadurch störend.

Nichtsdestotrotz habe ich mit großer Sympathie die Geschichte von Gaby/Gaël verfolgt und wurde gerade in der zweiten Hälfte des Romans tief berührt und dadurch auf stark erschüttert durch die Beschreibung der Gräueltaten der Hutu an den Tutsi (und auch umgekehrt aus Rachegefühlen heraus, etwas, was Faye nicht unter den Teppich kehrt). Vieles erklärt Faye mithilfe der Worte Gabys, vieles kann aber auch nicht erklärt werden.

So sagt Gaby an einer Stelle: „Ich hatte keine Antwort auf die Frage meiner kleinen Schwester. Ich hatte keine Erklärung für den Tod der einen und den Hass der anderen. Vielleicht ist das Krieg: wenn man nichts versteht.“

Ein eindrucksvolles Buch, welches ich trotz sprachlicher Schwächen definitiv für eine Lektüre empfehlen kann, um sich durch einen hautnahen, zutiefst menschlichen Einblick in den verheerenden Konflikt zwischen Hutu und Tutsi und dem daraus hervorgegangenem Völkermord anzunähern.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.03.2023

Räume der Unabhängigkeit aber auch einer massiven Überforderung

Räume des Lichts
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Mit „Räume des Lichts“ hat die 1947 geborene und 2016 verstorbene, japanische Schriftstellerin Yuko Tsushima 1979 einen für diese Zeit sicherlich hochmodernen und gleichermaßen schonungslosen Roman über ...

Mit „Räume des Lichts“ hat die 1947 geborene und 2016 verstorbene, japanische Schriftstellerin Yuko Tsushima 1979 einen für diese Zeit sicherlich hochmodernen und gleichermaßen schonungslosen Roman über eine alleinerziehende Mutter, deren Unabhängigkeit aber auch großer Überforderung veröffentlicht.

Die Ich-Erzählerin betritt zu Beginn des Romans ihre neue Wohnung. Eine Dachgeschosswohnung in einem Geschäftshaus in Tokio, welche durch die vielen Fenster lichtdurchflutet und strahlend hell erscheint. Man beginnt sofort zu hoffen, dass diese Frau mit ihrer knapp gerade noch zweijährigen Tochter in diesen Räumen einer frohen, leuchtenden Zukunft entgegensieht. Denn ihr Ehemann, der sie bereits mehrfach betrogen hat und auf finanzieller Ebene nichts auf die Reihe bekommt, hat sich von ihr getrennt, um mit der neuen Freundin zusammen sein zu können. Das Sorgerecht will sich die Erzählerin nicht mit ihm teilen, allein sucht sie sich diese Wohnung aus für einen Neustart. Nur leider gelingt ihr dieser Neustart nicht so gut, wie sie es sich vielleicht erhofft hat. Sie geht ihrer Arbeit in einem Archiv weiterhin nach, muss sich um den Haushalt und vor allem um die kleine Tochter kümmern, welche zunehmend unter den zerrütteten Familienverhältnissen zu leiden scheint; an Alpträumen und Wutausbrüchen leidet.

Auf dem Weg des etwas mehr als ersten Jahres als alleinerziehende Mutter begleiten wir nun die Protagonistin und ihre Tochter. Dabei lässt uns Yuko Tsushima ungefiltert an allen vorteilhaften wie auch unvorteilhaften Gedanken der Mutter teilhaben. Wir bekommen zunehmend die Überforderung der Mutter zu spüren, ihre Einsamkeit innerhalb der Zweisamkeit mit der infantilen Tochter. Eine Auszeit ist so gut wie nie möglich und wenn diese, zum Beispiel in Form von einem Barbesuch am Abend passiert, so nur dadurch, dass sie ihre Tochter alleinlassen muss. Obwohl sich die Mutter Mühe gibt, den Ansprüchen dieses Lebens gerecht zu werden, driftet sie immer mehr hin zu einer Vernachlässigung der Tochter ab. Auch erfahren wir, was in ihren Träumen vonstattengeht, nicht selten träumt sie vom Tod ihrer Tochter. Auch in den Wachphasen scheint sie immer mehr der Tod zu begleiten. Im Umfeld nimmt sie immer mehr Todesfälle wahr.

Auch wenn die eben genannte Beschreibung so klingt, als ob es sich hierbei um einen Psychothriller handeln könnte, so trifft dies gar nicht auf den Roman zu. Vielmehr ist er ein knallhartes Psychogramm einer alleinerziehenden Mutter in einer Gesellschaft, welche dieses Konzept (noch) nicht für die einfachen Menschen umsetzbar gemacht hat. Wir bekommen hier nicht die Erfolgsgeschichte einer perfekten Mutter und Powerfrau präsentiert, sondern viel eher die einer fehlbaren Mutter, die trotzdem ihr Bestes gibt. Eines ist diese Frau aber allemal: modern, was man nicht nur an ihrer Entscheidung zum Alleinleben und -erziehen merkt, sondern auch daran, dass sie sich immer mal wieder ein Bier oder einen Whiskey gönnt, dann sich auch erlaubt ausschweifend und laut zu werden. Das ist ein Bild, welches so gar nicht passen will zu dem Bild der stereotypen, immer leisen und höflichen japanischen Frau, welches häufig andernorts vermittelt wird. Mit dieser vollkommenen Offenheit kann der Roman definitiv überzeugen.

Leider endet der als Episodenroman damals in einer japanischen Literaturzeitschrift veröffentlichte Text sehr abrupt und wenig nachvollziehbar in seinen letzten beiden Kapiteln. Als hätte die Autorin gemerkt, dass sie ja nun nur noch zwei Abschnitte veröffentlichen kann und den Sack schnell zumachen muss. Dies ist der einzige Punkt, der das Lektüreerlebnis dieses ansonsten äußerst lesenswerten Romans ein wenig mindert. Sehr aufschlussreich hingegen ist das ergänzende Nachwort der Übersetzerin Nora Bierich, welche nicht nur den Roman hervorragend in ein zeitgemäßes Deutsch überführt, sondern auch die schicksalhafte Verquickung des Romans mit dem Lebensweg der Autorin herausgestellt hat. Eine insgesamt wirklich gelungene Veröffentlichung des Arche Verlags, welcher für uns damit einen japanischen Klassiker für die Wiederentdeckung vorbereitet hat.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 23.02.2023

Religionskritischer Spannungsroman

Kathedralen
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Die argentinische Autorin Claudia Pineiro greift in ihrem 2020 erschienen Roman „Kathedralen“ wichtige Themen aus der damals heiß geführten Debatte in der argentinischen Gesellschaft auf: Abtreibungen ...

Die argentinische Autorin Claudia Pineiro greift in ihrem 2020 erschienen Roman „Kathedralen“ wichtige Themen aus der damals heiß geführten Debatte in der argentinischen Gesellschaft auf: Abtreibungen und die Rolle der katholischen Kirche in diesem Zusammenhang.

Vor 30 Jahren ist das 17jährige Mädchen Ana auf schreckliche Art und Weise ums Leben gekommen. Ihr Körper wurde verkohlt und zerstückelt auf einem verlassenen Grundstück gefunden. Nun 30 Jahre später erkunden wir zusammen mit Akteuren rund um das Geschehen von damals die Hintergründe der Tat und entdecken menschliche Abgründe.

Durch einen multiperspektivischen Ansatz beleuchtet Pineiro das Geschehen und die Persönlichkeiten um Ana herum aus sieben verschiedenen Perspektiven. So tauchen wir ein in die Gedankenwelt nicht nur ihrer beider älteren Schwestern, sondern auch einer sehr engen Freundin, Marcela, einem damaligen Ermittler oder den Männern der Familie, Vater, Schwager und Neffe von Ana. Zeigt sich dadurch eindrücklich bei den beiden Schwestern, dass diese unterschiedlicher nicht sein könnten, vor allem in ihrer Position der katholischen Kirche gegenüber, ist vor allem die Perspektive von Marcela, welche im Rahmen der Geschehnisse ein gedecktes Schädel-Hirn-Trauma erlitt und nun an einer anterograden Amnesie leidet, äußerst interessant umgesetzt. Die verschiedenen Figuren bekommen alle ihre Eigenheiten zugesprochen und unterscheiden sich nicht nur in ihrer Wahrnehmung der Ereignisse, Einstellungen, Glaubenssätze sondern auch ihrem Ausdruck und Form. Das macht das Buch sehr abwechslungsreich und spannend. Nach und nach bekommen wir Hinweise, was damals wirklich zum brutalen Tod von Ana geführt hat. Dass man schon früh alle Puzzleteile zusammensetzen kann und kaum Überraschungen bezogen auf die Tat an sich auftreten, hat mich nicht weiter gestört. Vielmehr ist der Blick in die Köpfe der Figuren hier spannend. Denn es werden durch die einzelnen Personen die Wut der Autorin auf die Zustände in ihrem Heimatland klar verdeutlicht. Auch dass es hier eine klare Einteilung in gute und böse Figuren gibt, die sich auch während der Lektüre wenig wandelt, ist für mich als Anregung zur Diskussion über die Themen der Bigotterie fanatisch-katholischer Gläubigen, einer ins Gesellschaftssystem über die Maßen eingreifenden katholischen Kirche sowie dem patriarchalen Machtgefüge mit (jungen) Frauen als Leidtragenden eines scheinheiligen sozialen Umfelds im Rahmen des Romans gut zu rechtfertigen.

Pineiro schreibt unglaublich süffig und man verschlingt die Seiten nur so. Dabei greift sie auf Mittel des unterhaltenden Spannungsromans zurück, weniger bis gar nicht auf literarisch anspruchsvolle Stilmittel. Das Denken wird den Leser:innen dieses Romans größtenteils abgenommen und Überlegungen fast immer vollständig ausformuliert. Damit muss man sich arrangieren, wenn man den vorliegenden Roman gewinnbringend lesen möchte. Für mich persönlich war dieser Roman informativ und spannend zugleich. Trotz des tonnenschweren Themas liest er sich leicht, wenngleich auch äußerst brutale Verstümmelungen geschildert werden, auf die ich im Zweifel in ihrer Ausführlichkeit hätte verzichten können. Da merkt man der Autorin die Nähe zum Krimi- oder Thriller-Genre sehr stark an.

Die bringt Autorin die gesellschaftlich äußerst relevanten Themenfelder der religiös motivierten Gewalt und Gewalt an Frauen detailliert recherchiert zu einem sehr guten Spannungsroman zusammen. Mir hat es zur Abwechslung wirklich sehr gefallen, einfach einmal ein Buch schön süffig „weglesen“ zu können, ohne noch zwei bis drei weitere Bedeutungsebenen innerhalb eines Satzes herausfinden zu müssen. Ich wurde gut unterhalten, auch wenn ich sonst i.d.R. literarisch anspruchsvollere Sachen lese. Somit komme ich unter der Prämisse "Spannungsroman" auf 4 Sterne.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Über Einsamkeit und den unkonventionellen Weg in eine Gemeinschaft

Oben Erde, unten Himmel
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Die in einer größeren japanischen Stadt lebende Suzu ist gerade nicht nur aus ihrem Job als Kellnerin in einem Familienrestaurant gefeuert worden, sondern auch „geghostet“, das heißt ein Liebhaber hat ...

Die in einer größeren japanischen Stadt lebende Suzu ist gerade nicht nur aus ihrem Job als Kellnerin in einem Familienrestaurant gefeuert worden, sondern auch „geghostet“, das heißt ein Liebhaber hat von jetzt auf gleich vollständig den Kontakt zu ihr abgebrochen und Suzu wie eine heiße Kartoffel fallengelassen. Sie selbst zog eigentlich vor fünf Jahren in die Stadt, um zu studieren, brach das Studium jedoch nach nur kurzer Zeit wieder ab. Nun treibt sie durch ihre einsames Leben und trifft unvermittelt durch ein nebulöses Stellenangebot auf ihren neuen Chef Herrn Sakai, sowie einige neue Kollegen und zukünftige Freunde. Ihre neue Arbeit ist nichts Alltägliches – zumindest für uns Europäer:innen – , denn die ist nun Leichenfundortreinigerin. Im Japanischen gibt es eigenes ein Wort für den „einsamen Tod“ von Menschen, die in sozialer Isolation leben und mitunter erst Wochen später nach ihrem Versterben in den eigenen vier Wänden gefunden werden. Dieses Wort ist „Kodokushi“ und ein einsamer Verstorbener ist ein sog. „Kodokusha“.

Flašar entwirft nun eine reizende Geschichte um die Mitte Zwanzig Jährige Suzu und die vielen, toll ausgeleuchteten Nebenfiguren um sie herum. Es geht um die Vereinsamung in den städtischen Häuserblocks, aber eben auch um den Weg hin in eine neue Gemeinschaft. Vom Allein- und Einsamsein hin zum Zusammensein mit anderen, selbst wenn einen mit diesen zunächst nicht viel verbindet.

Sprachlich schreibt die Autorin sehr solide, nutzt ab und an Anglizismen, die ich persönlich manchmal als etwas störend empfand, führt aber letztlich ganz sanft durch diese Welt der Verstorbenen und vor allem der Lebenden. Ganz präzise Beobachtungen und Formulierungen bleiben dabei im Gedächtnis, wie zum Beispiel „Mit Beziehungen war es wie mit Weihnachtsbäumen. Es war schön, einen zu haben, andererseits auch egal, wenn man keinen hatte. Problematisch wurde es eher dann, wenn man unbedingt einen haben wollte und keinen bekam.“ Will Suzu zu Beginn noch unbedingt eine Beziehung und sieht sich auf den entsprechenden Dating-Online-Portalen um, rückt dies mit dem Einzug der realen menschlichen Gemeinschaft in ihre Leben immer mehr in den Hintergrund. Sie entwickelt sich und ihre Wahrnehmung weiter und bemerkt, was viele als selbstverständlich annehmen würden: „Wir lachten. Menschen waren seltsam, dachte ich. Unberechenbar, kompliziert und zutiefst komisch waren sie.“ Suzu entdeckt soziale Kontakte und damit das Soziale in sich selbst. Dabei hilft ihr vor allem der herzliche neue Chef Sakai, eindeutig meine Lieblingsfigur in diesem Roman. Durch seine unkonventionelle Art, sich mit immer neuen Menschen in seinem Umfeld anfreunden zu wollen und sie damit von einem Roboter zu einem Menschen zu machen, ist einfach herzerwärmend.

Beim Verstehen des Textes und seinen vielen Bezügen zu Japan helfen die Worterklärungen in alphabetischer Reihenfolge im Anhang. Wie immer hätte ich mir gewünscht, dass die entsprechenden Begriffe schon im Romantext auf irgendeine Weise hervorgehoben worden wären. Aber sei es drum. Insgesamt handelt es sich um eine wunderschöne Veröffentlichung des Wagenbach Verlags, die sich optisch ebenso schön in die vorangegangen Romane der Autorin einordnet.

Somit ist „Oben Erde, unten Himmel“ ein äußerst lesenswerter Roman, der zwar zum Thema Einsamkeit und Gemeinschaft im Allgemeinen nicht mehr allzu viel Neues beitragen kann, aber dafür im Speziellen mit Blick auf die japanischen Kultur und das Kodokushi wirklich sehr wissenswert und erhellend ist. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und wünsche ihm sowie dem behandelten Themenbereich viel Aufmerksamkeit.

4/5 Sterne

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