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Veröffentlicht am 15.04.2023

Die Ungleichheit spüren

Die spürst du nicht
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Daniel Glattauers Roman „Die spürst du nicht“ überrumpelt, schüttelt durch und entlässt einen fassungslos sowie hoffentlich auch im Inneren verändert. Dieses zunächst mit recht einfacher Sprache und stilistisch ...

Daniel Glattauers Roman „Die spürst du nicht“ überrumpelt, schüttelt durch und entlässt einen fassungslos sowie hoffentlich auch im Inneren verändert. Dieses zunächst mit recht einfacher Sprache und stilistisch auffällig berichtartig daherkommende Werk entpuppt sich mit der Zeit zu einem schmerzhaft wahrhaftigen Sittengemälde unserer aktuellen Zeit.

Wir bekommen zu Beginn die Familienmitglieder zweier gehobener, österreichischer Familien - ja man könnte fast sagen – geschildert, welche zusammen in die Toskana in den Urlaub gefahren sind. Da ist die Winzerfamilie mit dem überdreht optimistischen Winzer und seiner Frau, die mal Ambitionen zur Schauspielerin hatte, es aber nur zur Marillen-Königin geschafft hat, und ihrem gemeinsamen, zurückgezogenen Sohn. Da ist die Politikerinnen-Familie mit der viel beschäftigten Grün-Politikerin, dem besserwisserischen Akademiker, der unkontrollierbaren kleinen Tochter und der 14-jährigen dauergelangweilten Tochter, deren Lebensinhalt ihr Social Media Auftritt zu sein scheint. Ach ja, und da ist ganz ruhig und fast kaum wahrnehmbar auch noch eine Schulkameradin der Tochter mit im Urlaub dabei. Aayana, ein somalisches Flüchtlingsmädchen, welches auf Drängen der Tochter, um ihrer eigenen Langeweile entgegenzuwirken, mit in den Urlaub genommen wurde. Fast wie in der Regieanweisung zu einem Theaterstück oder – wenn man es heftiger formulieren möchte – wie in einer Versuchsanordnung zu einem Experiment, wird die Ausgangssituation mit all ihren Elementen und Variablen eingangs geschildert, nur um dann alle in einer Villa in der Toskana aufeinandertreffen zu lassen. Was herauskommt ist ein dramatisches Unglück, welches den Fortgang des gesamten Buches bestimmen wird.

Was verwundert: Dieses Unglück geschieht schon ziemlich zügig im Verlauf des Buches und in der Hauptsache sind wir nun Rezipienten der Auswirkungen dieses schweren Unglücks. Mit verschiedenen Stilmitteln arbeitet sich nun Glattauer an der Reaktion einer (Medien-)Gesellschaft auf die Geschehnisse vom Beginn des Buches ab. Mit präziser Sprache und authentisch wirkenden Medienreaktionen entwirft der Autor ein Sittengemälde unserer modernen Welt, in dem so gut wie niemand gut dasteht und alle letztlich Verlierer sind. Er scheint zunächst die Personalliste mit stereotypen Figuren zu bestücken, nur um sie im Verlaufe des Buches mitunter (nicht immer) die antizipierten Annahmen der Leser:innen über den Haufen zu werfen und sie ganz anders als erwartet handeln zu lassen. So einfach die Sprache wirkt, so brillant nutzt sie Glattauer, um in wahnwitzigen Dialogen große Fragen nach Moral und ethisch richtigem Handeln zu stellen. Der Text liest sich dabei leichtfüßig und kurzweilig, obwohl er inhaltlich keinesfalls ein Leichtgewicht darstellt. Denn es handelt sich um eine eindeutige Gesellschaftskritik, die recht offensichtlich das haarsträubende Verhalten von selbstsüchtigen Personen herausstellt, soziale Ungerechtigkeiten anprangert aber auch zwischen den Zeilen und manchmal in einem kurzen Internetkommentar verpackt die Abgründe heutiger Einstellungen aufzeigt. Letztlich geht es darum, denen eine Stimme zu geben, die unserer Sprache nicht mächtig sind und sich dadurch in unserer westlichen Gesellschaft nicht wahrnehmbar machen geschweige denn ihr Recht durchsetzen können.

So sagt eine von Glattauers Figuren an einer der vielen mitreißenden Stellen: „Sie sind darunter. Unter unserer Wahrnehmung. Unter unserem Interesse. Ihre Geschichte will hier keiner hören. Und sie können sie auch nicht erzählen. Sie werden nicht danach gefragt. Und von sich aus schaffen sie es nicht, sich zu Wort zu melden. Ihnen fehlen die Mittel. Ihnen fehlt unsere Kultur. Ihnen fehlt unsere Bildung, auf die wir uns so viel einbilden. Und es fehlt ihnen vor allem an unserer Sprache. Ohne Sprache kein Verständnis. Ohne Sprache keine Geschichte.“

Dadurch, dass die somalische Familie von Aayana im Buch über weite Strecken nicht zu Wort kommt, sie gar nicht gespürt wird und untergeht, spielt der Autor genau das durch, was auch in der realen Welt millionenfach geschieht. Mit seinem zunächst locker daherkommenden, dann aber schnell zunehmend berührenden Drama frisst sich das Anliegen einer scharfen Gesellschaftskritik tief in das Denken und Fühlen der Lesenden. Mich hat der Roman ergriffen und lange nicht wieder losgelassen, weshalb ich ihn nur eindringlich für eine Lektüre weiterempfehlen kann. Um eine Urlaubslektüre handelt es sich keinesfalls, hier sollte man sich nicht täuschen lassen.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 28.03.2023

In 22 Bahnen zum Highlight

22 Bahnen
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Im Debütroman der 1995 geborenen Autorin Caroline Wahl schwimmt eine junge Frau gegen ihre schwierigen Familienverhältnisse an und einem unabhängigeren Leben entgegen.

Die Ich-Erzählerin Tilda ist Mitte ...

Im Debütroman der 1995 geborenen Autorin Caroline Wahl schwimmt eine junge Frau gegen ihre schwierigen Familienverhältnisse an und einem unabhängigeren Leben entgegen.

Die Ich-Erzählerin Tilda ist Mitte Zwanzig, studiert Mathematik und hat einen Nebenjob, um etwas hinzuzuverdienen und geht zum Ausgleich jeden Abend 22 Bahnen ins Freibad schwimmen. Klingt erst einmal ganz durchschnittlich. Ganz so durchschnittlich sieht ihr Leben bei genauerer Betrachtung gar nicht mehr aus. Denn Ihre Mutter ist Alkoholikerin und schon seit vielen Jahren nicht mehr fähig die Familienangelegenheiten am Laufen zu halten. Die 10jährige Halbschwester Ida lebt in sich zurückgezogen, malt Bilder von Mensch-Tier-Monstern und hat nur ihre große Schwester, die sie beschützt. Der Vater von Tilda verließ die Familie früh, Idas Vater ist nicht bekannt, war noch nie anwesend. Mit dem Nebenjob finanziert Tilda nicht nur ihr Studium sondern auch noch ihre Familie, welche am unteren Existenzminimum lebt.

Nun könnte man meinen, dass es sich hierbei um eine weitere stereotypische Betrachtung einer bildungsfernen Familie in der untersten sozioökonomischen Schicht handelt. Aber weit gefehlt, die Mutter stand kurz vor ihrem Magisterabschluss im Literaturstudium, als sie mit Tilda schwanger wurde, das Studium abbrach und seitdem die meiste Zeit zu Hause blieb; zunächst für das Kind, später aufgrund des Alkohols. Der Vater war damals Doktorand im Germanistischen Seminar und ist mittlerweile Professor. Trotzdem lässt er sich in seiner ersten Familie nicht mehr blicken, seit er eine neue Familie mit neuen Kindern hat. Tilda lernte schnell den Unterschied zwischen ihrer Familie und der Familie ihrer besten Freundin Marlene, die aus der gut situierten Mittelschicht stammt, denn bei ihnen gab es immer einen Abendbrottisch, an dem alle zusammen aßen und sich unterhielten. Diese intakten Familien nennt sie seitdem nur noch „Abendbrottisch-Familien“.

Wirklich unglaublich mitreißend inszeniert Caroline Wahl nun Tildas und Idas Leben, ihren Zusammenhalt und auch ihre Abhängigkeit voneinander, die Tilda daran hindert mit ihrem eigenen Leben voranzukommen. Das macht die Autorin über eine klare Sprache mit Bildern, die hängen bleiben, wie eben die „Abendbrottisch-Familie“ und Sätzen, die sich einbrennen. Zunächst ist man erst einmal verwundert, wenn die Autorin alle Zahlwörter als Ziffern schreibt. Man fragt sich, ob sich hier nun die neumodische Kurznachrichtenschreibweise eingeschlichen hat, wenn die Erzählerin zum Beispiel meint, dass sie 3-mal jemanden getroffen hat. Aber dann wird es klar, die Ich-Erzählerin ist Mathematikstudentin, seit sie ein Kind ist, denkt sie in Zahlen und Ziffern, zählt alles und jeden ab, rechnet automatisch zusammen, stellt Analysen aufgrund dessen her. So auch, wenn sie an der Supermarktkasse sitzt, nicht aufsieht und die Artikel auflistet, die sie gerade über den Scanner zieht, dann entwirft sie im Kopf einen kurzen Steckbrief zur vermuteten Person und überprüft ihre Hypothese dann durch Anschauen der Person. Meist liegt sie richtig.

In der Quintessenz geht es im Familie und vor allem Schwesternschaft in diesem Buch. Die Liebe zwischen diesen beiden Halbschwestern ist so wunderbar, dass sie die Lesenden über die schrecklichen Passagen, in welchen die Mutter mal wieder beweist, was für eine miese Mutter sie ist, wenn sie gewalttätig wird und von Tilda nur noch „das Monster“ genannt wird, hinwegrettet. Aber auch die Protagonistin und ihre Schwester rettet diese Liebe. Einmal sagt Tilda über ihre Beziehung zu Ida:

„Wir sind eine Familie. Wir sind ein intakter Organismus, wir funktionieren zusammen. Gestört werden wir nur durch den letzten Teil unserer Familie [die Mutter]. Also eigentlich sind wir eine überwiegend intakte Familie. Zu 66,67 Prozent. Wir sind intakte Schwester. Zu 100 Prozent.“

Dadurch lastet aber auch schon seit Jahren eine große Verantwortung auf Tilda und wie sie damit im Laufe des Buches lernt umzugehen und sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse dabei nicht zu vergessen, darum geht es hier auch.

Mich hat das Buch vollkommen in seinen Bann gezogen. Ich bin diesem Schwesternpaar so unglaublich gern gefolgt, obwohl hier alles andere als Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung herrscht. Bei folgender Gleichung kann es nur eine logische Schlussfolgerung geben: Wenn ich nichts am Buch auszusetzen habe + es innerhalb von einem Tag gespannt eingesogen habe + mich die Geschichte sowie die Figuren emotional sehr berührt haben + ich kaum abwarten kann zu lesen, was die Autorin nach diesem starken Debüt schreibt = 5,0 Sterne. Zu 100 Prozent sicher.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 06.03.2023

Ein erschütternd eindrücklicher Roman über die Liebe und das Leben

Liebewesen
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Mit ihrem Debüt legt die 1992 geborene Caroline Schmitt einen eindrücklichen Roman zur Bindungsfähigkeit von Menschen mit Kindheiten in dysfunktionalen Familien vor, das wie ein Leichtgewicht beginnt und ...

Mit ihrem Debüt legt die 1992 geborene Caroline Schmitt einen eindrücklichen Roman zur Bindungsfähigkeit von Menschen mit Kindheiten in dysfunktionalen Familien vor, das wie ein Leichtgewicht beginnt und mit zunehmenden Verlauf zu einem echten Schwergewicht wird.

Lio wird von ihrer besten Freundin Mariam über eine Dating-App mit Max verkuppelt. Zunächst scheint die ansonsten fast zwanghaft auf ihr Studium und ihre darauffolgende Forschungsarbeit als Biologin fixierte Lio mithilfe dieser frischen und gleichzeitig ihrer ersten Liebesbeziehung immer mehr aufzutauen. Locker leicht gehen die Verliebten miteinander um, passen zusammen, können sich eloquent in Gesprächen die Bälle zuspielen. Nur zeigt sich mit der Zeit, dass Max immer wieder depressive Phasen und Lio eine Kindheit und sexuelle Erfahrung hat, die einem einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Als die dreißigjährige Lio schwanger wird, muss sie nicht nur entscheiden, ob es dafür der richtige Zeitpunkt in ihrem Leben ist, sondern auch ob sie überhaupt mit Max zusammen ein Kind haben möchte, ob sie überhaupt eine Mutter seine möchte.

Caroline Schmitt lässt uns durch ihren direkten, ungeschönten und mitunter lakonischen Erzählstil ganz entgegen der Erwartung, die solche Beschreibungen eines Schreibstils aufkommen lassen, sehr nah an ihre Protagonistin und ihr soziales Umfeld herankommen. Zunächst wird man durch die lockere Art, wie Lio mit ihrer Freundin Mariam und dann auch mit ihrem Partner Max umgeht, auf die falsche Bahn geleitet. Denkt man doch, dass sie eine witzige, unbedarfte junge Frau ist. Aber umso tiefer fällt man, wenn man dann durch Rückblicke Details aus ihrer Vergangenheit erfährt. Und umso verständlich wird es den Lesenden gemacht, warum diese Frau mit dem in ihr wachsenden Leben und auch der Beziehung zu Max hadert.

So kommt die Ich-Erzählerin Lio immer wieder in ihren Gedanken, an denen wir teilhaben dürfen, zu Feststellungen, die ihre Prägung und ihre Beziehungsschwierigkeiten mit Max auf den Punkt bringen, wie: „Als wäre es in der Geschichte von Beziehungen jemals eine gute Idee gewesen zusammenzubleiben, um einander in Krisen beizustehen, die man ohne die andere Person nicht hätte.“ Oder auch die alles sagende Frage: „Wie konnte irgendjemand, der dort aufgewachsen, wo ich herkam, guten Gewissens Kinder bekommen?“. Psychologisch vollkommen nachvollziehbar und korrekt leitet die Autorin die entstandenen Probleme in der Liebe von Lio und Max mithilfe der erlernten Muster und gemachten Erfahrungen her. Die Figuren handeln schlüssig und wirken mit all ihren Problemen trotzdem insgesamt äußerst authentisch. Die Autorin schafft es nicht nur in diese Liebesbeziehung hineinzuziehen, sondern auch die Verbindung zu den Eltern sehr gut herauszuarbeiten. Der Stil von Schmitt pack zu und kann gleichzeitig die eigenen Erinnerungen und Gefühle berühren.

Ich bin schlussendlich von diesem Roman überrollt und mitgerissen worden, wie es nur eine Welle von gekonnter Schonungslosigkeit und klarer Aussprache von Zusammenhängen vermag. Deshalb bekommt dieses ganz hervorragende Debüt eine klare Leseempfehlung von mir. Ein weiteres Highlight aus dem Bereich der jungen, deutschsprachigen Autor:innen, die kein Blatt vor den Mund nehmen und gleichzeitig nie auf Krawall gebürstet sind sondern Sichtbarkeit und Aufklärung mit viel Empathie für ihre weiblichen Figuren erreichen. Das grandiose Cover des Buches mutet wie eine Kampfansage an, soll aber sicherlich - ebenso wie der Roman - aufrütteln und einen Perspektivwechsel anstoßen. Es zeigt ein Gemälde des 1950 geborenen, amerikanischen Künstlers Mark Tennant, nicht etwa einer jungen feministischen Malerin. Soll heißen: Hier wird mit Erwartungen gebrochen. Ein rundum tolles Paket, welches daran erinnert, dass wir nicht nur Lebewesen sondern auch Liebewesen sind, die das Wesen der Liebe, sowohl zwischen Partner:innen als auch zwischen Eltern und ihren Kindern, immer wieder ergründen müssen.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 24.02.2023

Immer mehr geben als nehmen

Wovon wir leben
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In Birgit Birnbachers neustem Roman geht es nicht nur darum wie wir leben, sondern eben vor allem wovon wir leben. Wir leben nicht nur von der Erwerbsarbeit, sondern müssen auch mit einer erzwungenen Arbeitslosigkeit ...

In Birgit Birnbachers neustem Roman geht es nicht nur darum wie wir leben, sondern eben vor allem wovon wir leben. Wir leben nicht nur von der Erwerbsarbeit, sondern müssen auch mit einer erzwungenen Arbeitslosigkeit leben. Und - besonders Frauen – müssen auch noch zusätzlich mit der ihnen auferlegten Care-Arbeit leben. Welche Auswirkungen das auf die eigene Gesundheit, den Lebensentwurf und letztlich das eigene Ich haben kann, damit beschäftigt sich Birnbacher verdichtet auf nur knapp 190 Buchseiten.

Julia ist Mitte Dreißig und war bis vor kurzem noch Krankenschwester auf der Inneren Station eines Kreiskrankenhauses in Österreich. Nach einem fatalen Fehler kann sie nicht mehr atmen, im übertragenen wie auch wörtlichen Sinne. Sie wird arbeitsunfähig und steht zu Beginn des Romans vor ihrer Entlassung. Da sie in einer Betriebswohnung lebt, zieht sie kurzerhand zurück in ihren Heimatort zu den Eltern. Nur erwarten sie dort neben der Nachricht, dass die Mutter gar nicht mehr zuhause lebe, noch weitere Neuigkeiten und Neulinge. Die nahegelegene Schokoladenfabrik hat geschlossen und nun ist der halbe Ort arbeitslos, hinzu gesellt sich der Städter Oskar, der kürzlich einen kleinen Herzinfarkt erlitt, einen sogenannten „Luxusinfarkt“, aber Glück im Unglück hatte und ein einjähriges Grundeinkommen gewonnen hat. So treffen nun diese verschiedenen Welten aufeinander und es entsteht des Bild einer Gesellschaft, die sich durch Arbeit definiert, in dieser Arbeit die sogenannte Care-Arbeit aber gar nicht mitgedacht wird. Julia muss einen Weg und ihren Weg finden, sich neu zu definieren, und trifft dabei auf diverse Widerstände in der Gemeinschaft aber auch in sich selbst.

Durch ihre nüchterne, mitunter lakonische Sprache erschafft Birnbacher in ihrem Roman das realitätsnahe Bild einer Dorfgemeinschaft mit den ganz individuellen Nöten der dort lebenden Menschen. Während sie ganz präzise Beschreibungen findet, schwingen in den meist einfach anmutenden Sätzen, tiefgründige Erkenntnisse mit. Gleich auf der ersten Seite lese von wir von der Ich-Erzählerin, dass sie aufgrund ihrer schweren asthmatischen Erkrankung, durch welche sie „nur knapp am Sauerstoff vorbei“ geschrammt ist (soll heißen, der Sauerstoffflasche zur Erleichterung der Atmung), die „vollständige Atmung“ hat erlernen müssen: Immer mehr aus als ein. Ziemlich einfach zu merken: immer mehr geben als nehmen.“ Dieses „immer mehr geben als nehmen“ scheint die Überschrift über dem Leben so vieler Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft zu sein und auch dem von Julia und ihrer Mutter. Zu ihrem Vater und seiner Rolle in der Familie macht sie sich folgende Gedanken (S. 151):

„Wie hat er sich das eigentlich vorgestellt, damals bei der Familiengründung? Er macht eine Skizze, einen Grundriss vom Haus, der Werkstatt und dem Garten, das reicht. Fürs Fleisch und Blut, fürs Gebären, fürs Großziehen, die Sauberkeit und den Dreck, für die Exkremente, die Tränen und den Schweiß waren immer die Frauen zuständig.“

Julia hadert aber auch mit ihrer Rolle und versucht einen eigenen Weg zu finden. Der gesamte Roman ist überzeugend, was mich aber schlussendlich vollends für diese unglaublich realitätsnahe Zeichnung der Gefüge innerhalb der Familie, ja innerhalb der Gesellschaft, eingenommen hat, ist das Ende des Romans. Weder ein Happy noch ein Sad Ending ist es geworden. Nein, ein allzu realistisches Ende hat Birgit Birnbacher ihrem Roman gegeben. Nach dem Zuklappen der Buchdeckel ist man ob der präsentierten Wahrheiten, die man doch eigentlich schon zur Genüge kennt, sprachlos. Hier handelt es sich beileibe nicht um einen happy-go-lucky-Aussteigerroman, aber auch nicht um ein belehrendes Buch, sondern ein nüchternes Abbild der Realität inklusive der Innenansicht einer ganz normalen Frau, die ihr Schicksal nicht hinnehmen kann und will, und gleichzeitig mit sich und den Umständen zu kämpfen hat. Das ist grandios gemacht und damit eins meiner diesjährigen Highlights. Klare Leseempfehlung!

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 18.02.2023

Entlarvend tiefgründige Milieustudie

Die Mütter
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Mit nur 26 Jahren veröffentlichte die afroamerikanische Autorin Brit Bennett ihren überzeugenden Debütroman „Die Mütter“. Darin zeichnet die Amerikanerin das entlarvende Bild einer Gesellschaft, die hohe ...

Mit nur 26 Jahren veröffentlichte die afroamerikanische Autorin Brit Bennett ihren überzeugenden Debütroman „Die Mütter“. Darin zeichnet die Amerikanerin das entlarvende Bild einer Gesellschaft, die hohe moralische Standards propagiert, während sie diese selbst nicht einzulösen vermag.

Die afroamerikanische Nadia Turner ist gerade einmal 17 Jahre alt als sie von ihrem Freund schwanger wird. Die Beziehung zu ihm stellte für sie einen Fluchtpunkt dar, nachdem sich ein halbes Jahr zuvor ihre eigene Mutter mit der Pistole des Vaters das Gehirn weggeschossen hat. Für Luke, Kindsvater und Pastorensohn, sollte eigentlich schon die Beziehung zu Nadia geheim bleiben, eine öffentliche Schwangerschaft wäre somit eine Katastrophe für ihn aber vor allem für das Pastorenehepaar. Die einzige Lösung scheint eine Abtreibung. Diese zerstört die Liebesbeziehung der beiden jungen Leute vorerst, und doch wird sich ihr Lebensweg in den nächsten Jahren immer wieder kreuzen. Und immer wieder wird das nicht ausgetragene Kind mal trennend, mal verbindend zwischen diesen beiden Menschen stehen. Nadia verlagert ihren Wunsch nach Nähe auf eine Mädchenfreundschaft mit Aubrey, ein eifriges Kirchengemeindemitglied. Das Geheimnis um die Abtreibung, die Freundschaft der beiden jungen Frauen sowie Liebesverflechtungen mit Luke machen den Plot des Romans nun fast zu einer griechischen Tragödie.

Aber nicht nur der Plot legt den Vergleich mit der griechischen Tragödie nahe. Auch die grandiose Struktur des Romans lässt daran denken und gibt ihm eine weitere Dimension. So beginnt der Roman quasi mit einem „Chorgesang“, denn die ältesten Damen der Kirchengemeinde, genannt „Die Mütter“, kommentieren durch ihren Klatsch und Tratsch, welcher immer in der Pluralform „Wir“ formuliert wird, die Geschehnisse um die drei jungen Leute. Über das gesamte Buch hinweg vervollständigen die Kommentarszenen die Handlungsszenen des Romans, ohne in die Handlung als solche einzugreifen.

Die Handlung ist nicht nur spannend und präzise konstruiert, sondern auch doppelbödig und entlarvend für die amerikanische Gesellschaft. Wenn wir durch die Mütter erfahren, dass die Kirchengemeinde damals bei der Eröffnung der Abtreibungsklinik vor zehn Jahren massiven Protest angewendet hat und gleichzeitig auf der Handlungsebene Lukes Eltern als Pastorenehepaar dieser Gemeinde die Kosten für die Abtreibung übernehmen, um ihrem Sohn „aus der Patsche“ zu helfen, wird das Ausmaß der Perfidität erst so richtig deutlich. Auch deckt Bennett durch das Aufeinandertreffen verschiedenster Figuren mit verschiedenen ethnischen Hintergründen nicht nur den Alltagsrassismus der Weißen gegenüber den Schwarzen auf, sondern auch gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen sowie dieser Minderheiten untereinander. All das verbindet Bennett durch ihren hervorragenden, gelassenen, nicht übermäßig dramatisierenden Schreibstil, der auf den Punkt genau die gewünschten Erkenntniseffekte erzielt.

So entspinnt sich nicht nur eine Geschichte um Verrat und Lügen auf persönlicher Ebene, sondern auch um die Emanzipation einer Frau aus ihrem Milieu in einem Kaff in San Diego County, welches außer einer Laufbahn auf dem nahen Militärstützpunkt oder als Football-Nachwuchs kaum Aufstiegschancen für eine Person aus einer marginalisierten Gruppe bietet, erst recht nicht für eine weibliche (!). Ein ganz großartiger Roman, welchen ich vorbehaltlos für eine aufschlussreiche Lektüre empfehlen kann.

5/5 Sterne

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