Die Frage nach der Schuld
REZENSION – Mit ihrem Roman „Josses Tal“, im März beim Pendragon Verlag erschienen, hat Angelika Rehse (74) ein beeindruckendes Debüt veröffentlicht, das sich durch seine ganz eigene Art wohltuend von ...
REZENSION – Mit ihrem Roman „Josses Tal“, im März beim Pendragon Verlag erschienen, hat Angelika Rehse (74) ein beeindruckendes Debüt veröffentlicht, das sich durch seine ganz eigene Art wohltuend von anderen Romanen über die Jahre des Nazi-Regimes unterscheidet. Hintergrund ihres historisch wie psychologisch interessanten Buches sind Erzählungen ihrer aus Schlesien stammenden Eltern sowie in ihrer Kindheit von Heimatvertriebenen gehörte Geschichten. Daraus entstand ihr Schicksalsroman um den Dorfjungen Josef Tomulka. Dessen Entwicklung begleitet die Autorin über dreizehn Jahre vom fünfjährigen Vorschulkind bis zum fast 18-jährigen Wehrfähigen.
Josefs Geschichte beginnt 1930 mit dem Umzug der Familie ins dörfliche Dorotheenthal im niederschlesischen Landkreis Reichenbach. Für Großvater Fritz Tomulka ist die uneheliche Geburt seines Enkels eine unverzeihliche Familienschande, die er den Fünfjährigen täglich mit Schlägen spüren lässt. Josef wächst in ständiger Angst und mit Schuldgefühlen auf. Auch seine vom Schicksal gebrochene Mutter Helene vermag nicht, ihrem Sohn im Haus der Großeltern Nähe und Geborgenheit zu geben. Allein der Nachbarsohn Wilhelm Reckzügel, Student der Medizin in Berlin, erweist sich als Josefs Schutzengel, gibt ihm das Gefühl von Freundschaft und Zuneigung. Als Josefs Mutter bald stirbt, nimmt die Familie Reckzügel den kleinen Josef als Pflegesohn auf. Wilhelm beschützt den Jungen weiterhin, macht ihm großzügige Geschenke, fördert nicht nur, sondern – wie sich bald herausstellt – manipuliert dessen Persönlichkeit und Selbstbewusstsein: „Eines Tages werde ich wichtiger sein als der Großvater. Dann ... werden sich alle vor mir ducken.“ Bei Wilhelm hat Josef den Halt gefunden, der dem Kind bisher fehlte. Ein für ihn entscheidendes Ereignis ist 1935 seine durch Wilhelm vermittelte Aufnahme als Pimpf „in einer schicken Uniform“ ins Jungvolk der Hitler-Jugend: „Es war genauso, wie Wilhelm es angekündigt hatte. Ab heute würde ihn keiner mehr spöttisch ansehen.“
Endlich ist für Wilhelm Reckzügel – längst ein überzeugter Nazi mit Verbindung zu hohen Parteikreisen – der richtige Zeitpunkt gekommen, Josef als willfährigen Gehilfen vollends für die Nazis einzunehmen. Er soll die Dorfbewohner bespitzeln: „[Josef] hatte kein schlechtes Gewissen dabei. Alles, was er tat, tat er für seinen Wilhelm, und auch ein bisschen für den Führer.“ Sogar vor der eigenen Familie macht Josef nicht Halt und handelt „gegen sein eigenes Blut“ – eine Notiz Wilhelms, deren doppelter Wortsinn später im Roman deutlich wird. Erst 1940 bekommt der inzwischen 15-Jährige nach einer aufrüttelnden Entdeckung und Kontakt mit verbotener Literatur, Musik und Malerei moralische Zweifel: „Hier saß er also, in Reckzügels Küche, … und log sie an. Einen Lügner zu beherbergen, das hatten sie nicht verdient.“
Rehses Roman „Josses Tal“ überzeugt vor allem durch das Fehlen intellektueller Abgehobenheit. Gerade das Bodenständige, die Schilderung des schlichten Lebens im abgeschiedenen Dorotheenthal, fernab der großen Politik und Propaganda-Maschinerie, lässt ihre Geschichte so wahrhaftig werden. Berlin ist weit weg. Entsprechend ist von großen zeitgeschichtlichen Ereignisses nur punktuell zu lesen. Im Vordergrund stehen die Bewohner von Dorotheenthal. Die Autorin zeigt uns am Beispiel eines einzelnen, völlig unschuldigen Kindes, des arglosen Josef, wie leicht Kinder und Heranwachsende – von Misstrauen und Skepsis noch unberührt – in ihrer Sehnsucht nach persönlicher Wertigkeit manipulierbar sind und damals in gutem Glauben, recht zu handeln, für die Ideologie der Nazis gewonnen werden konnten. Dieses Verständnis will Rehse aber nicht als Entschuldigung verstanden wissen. Auch ihr Protagonist Josef erkennt sein Handeln als unrecht, allerdings erst sehr spät: Als 17-Jährigem gelingt es ihm endlich, sich vollständig aus den manipulativen Fängen Wilhelms zu befreien. Mit ihrem leicht zu lesenden Roman wirft Angelika Rehse erneut die schon oft an Angehörige der Kriegsgeneration gerichtete schwierige Frage auf: Wie konntet ihr damals nur mitmachen? Mit Josefs Kindheits- und Jugendgeschichte scheint die 74-jährige Autorin, vielleicht für sich selbst eine mögliche Antwort gefunden zu haben.