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Veröffentlicht am 10.04.2023

Poetisch durch vier Generationen

Die Unschärfe der Welt
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Der Roman beginnt im rumänischen Banat der 1970er Jahre und erzählt die Geschichte einer Familie und die Lebenswege von sieben Personen über vier Generationen hinweg. Alles spielt sich vor dem Hintergrund ...

Der Roman beginnt im rumänischen Banat der 1970er Jahre und erzählt die Geschichte einer Familie und die Lebenswege von sieben Personen über vier Generationen hinweg. Alles spielt sich vor dem Hintergrund des zusammenbrechenden Ostblockes ab.

Ich wusste vor dem Lesen nicht viel über den Inhalt von "Die Unschärfe der Welt" und auch jetzt fällt es mir schwer, diesen wiederzugeben. Denn ehrlichweise gibt es keine große Handlung, das Buch besteht aus Momentaufnahmen und Erinnerungsfetzen von sieben verschiedenen Personen. Jede dieser Personen ist Mittelpunkt eines Kapitels und so bekommt man als LeserIn einen Einblick in sieben verschiedene Lebensweisen. Nach und nach offenbart sich eine geschickt gewobene Verbindung zwischen all diesen Figuren und man erfährt, welche Spuren jeder im Gedächtnis der anderen hinterlassen hat.

Iris Wolff erzählt mit einer tiefen Ruhe und Nachdenklichkeit, die sich auf die Lesenden übertragen. Ihr Blick ist auf die kleinen Momente im Leben gerichtet, die in Erinnerung bleiben. Sie schreibt dabei sehr poetisch und metaphorisch.
Sehr einprägsam gelingt es ihr, die jeweilige Stimmung durch eine sorgfältig getroffene Wortwahl wiederzugeben.
Viele Stellen fand ich so schön und klug, dass ich sie mehrfach gelesen habe.

Ich mochte, dass gewöhnliche Menschen hier ihre Geschichte erzählen durften, dass der Fokus in der Erzählung auf den kleinen Dingen liegt und wie alles miteinander verstrickt ist.
So ganz ist der Funke bei mir allerdings nicht übergesprungen, für mich hätte alles noch ein bisschen ausführlicher erzählt werden dürfen, um den Charakteren gerecht zu werden. Aber vielleicht ist das genau der Punkt: So bleibt alles etwas verschwommen, eben unscharf.

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Veröffentlicht am 03.04.2023

Stimmungsvoller historischer Krimi

Der treue Spion
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München, 1896: Major Gryszinski wird mit dem Vermisstenfall eines französischen Diplomaten betraut. Als dann noch eine Leiche, eine brisante technische Erfindung und ein russisches Hochstaplerpaar auftauchen, ...

München, 1896: Major Gryszinski wird mit dem Vermisstenfall eines französischen Diplomaten betraut. Als dann noch eine Leiche, eine brisante technische Erfindung und ein russisches Hochstaplerpaar auftauchen, begibt sich der Ermittler auf eine Reise quer durch ganz Europa.
Zwanzig Jahre später stößt Gryszinskis Sohn Fritz mitten im ersten Weltkrieg auf neue Indizien zum Fall. Kann er endlich zu Ende führen, was sein Vater begonnen hat?

"Der treue Spion" ist bereits Uta Seeburgs dritter Kriminalroman rund um Major Gryszinski, man kann ihn jedoch gut ohne Vorkenntnisse lesen. Für mich war es das erste Werk der Autorin.

In den Schreibstil musste ich mich erst einmal hineinfinden. Alles wird sehr genau und detailliert beschrieben, insbesondere die jeweiligen Schauplätze. Sobald ich mich daran gewöhnt hatte, fühlte ich mich aber gut ins Europa Ende des 19. Jahrhunderts versetzt und konnte die Umgebung ganz genau vor mir sehen.
Die Spannung baut sich nur langsam und subtil auf, was ich als sehr angenehm empfand. Die Erzählart ist unaufgeregt, es gibt keine reißerischen Phrasen, keinen hektischen Showdown o.Ä., es ist ein eher ruhiger, dafür stimmungsvoller Krimi.
Die beiden unterschiedlichen Zeitstränge werden abwechselnd erzählt und nach und nach verknüpft Seeburg sie auf geschickte Weise miteinander, sodass sie gemeinsam ein Bild ergeben.
Die Auflösung war nicht vollkommen verblüffend, dennoch zufriedenstellend.

Insgesamt mochte ich die ruhige Grundstimmung, die Atmosphäre und die klassische Ermittlungsarbeit Gryszinskis sehr gerne, die historischen Fakten wurden erstklassig recherchiert und obwohl die Spannung an keinem Punkt Übermaß annimmt, ist "Der treue Spion" durchgehend kurzweilig. Die Mischung aus Fiktion und Historie ist hervorragend gelungen.

Für mich war es kein Highlight, aber definitiv ein unterhaltsamer Krimi. Das Lesen der beiden Vorgänger werde ich auf jeden Fall noch nachholen.

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Veröffentlicht am 28.03.2023

Intensive Biografie mit sehr privaten Einblicken

Ich, ein Sachse
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Samuel Meffire wurde 1970 als Afrodeutscher in Leipzig geboren und wuchs in der DDR auf. Er schaffte es, erster Schwarzer Polizist Ostdeutschlands zu werden, fiel dann tief und landete im Gefängnis.
In ...

Samuel Meffire wurde 1970 als Afrodeutscher in Leipzig geboren und wuchs in der DDR auf. Er schaffte es, erster Schwarzer Polizist Ostdeutschlands zu werden, fiel dann tief und landete im Gefängnis.
In diesem Buch erzählt er im Rückblick seine bisherige Lebensgeschichte über Aufstieg, Fall und der Suche nach sich selbst.

Die Erzählung beginnt im Juli 2021: Meffires Tochter findet eine Kiste mit Erinnerungen. Daraufhin beginnt dieser, seinen Kindern aus seinem Leben zu erzählen.
Dabei gibt es immer wieder kurze Gegenwartssequenzen, die das Ganze auflockern und die Möglichkeit geben, einmal kurz aufzuatmen.
Denn in der Vergangenheit hatte der Autor es alles andere als leicht: Rassismus, Gewalt und Ablehnung gehörten zu seinem Alltag.

Meffire hat einen sehr ungezwungenen Schreibstil, man hat das Gefühl, man säße ihm gegenüber und er erzähle einem seine Geschichte persönlich.
Man erfährt schonungslos, offen und ehrlich von seinen intimsten Gedanken. Dabei hat man nicht das Gefühl, dass er sich in ein heroisches Licht stellen will; Meffire berichtet auch ganz klar von seinen negativen Seiten und inneren Dämonen.
Trotz all der ernsten Themen gibt es auch immer wieder Stellen, die einen schmunzeln lassen.

Ein kleiner Kritikpunkt ist für mich die massige Flut an Informationen und Details, mit denen man auf jeder Seite überhäuft wird: Es fiel mir ab und an schwer, nicht den Faden zu verlieren und ich musste sehr konzentriert lesen, um alles aufzunehmen.

Insgesamt ist es eine sehr lesenswerte, wichtige Biografie über Rassismus in Deutschland und einen Mann, der in seinem Leben so viele ungewöhnliche Erfahrungen gemacht hat, wie nur wenige andere.

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Veröffentlicht am 24.02.2023

Eine geheimnisvolle Siedlung von Einzelgängern

Wolfskinder
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"Wer in der Stadt lebt, vergisst leicht, wie dunkel eine Nacht sein kann. Dass es Nächte gibt, die Straßen fressen, indem sie den Asphalt auflösen."

Eine kleine Siedlung, abgeschottet von der modernen ...

"Wer in der Stadt lebt, vergisst leicht, wie dunkel eine Nacht sein kann. Dass es Nächte gibt, die Straßen fressen, indem sie den Asphalt auflösen."

Eine kleine Siedlung, abgeschottet von der modernen Welt, die vielleicht gar nicht so religiös ist, wie sie vorgibt.
Eine Lehrerin aus der Stadt, die die falschen Fragen stellt.
Und eine junge Journalistin, die ihre verschollene beste Freundin auch nach zehn Jahren einfach nicht vergessen kann.

Vera Bucks Thriller-Debüt "Wolfskinder" hat mich direkt angesprochen und neugierig gemacht.
Sie vereint die Geschichten rund um eine sektenartige Zusammenkunft weit oben in den Bergen, die ihr eigenes Leben fernab der Bevölkerung führt und um die Aufklärung der übermäßig hohen Zahl an Vermisstenfällen in dieser Gegend.

Die Autorin schreibt dabei aus unterschiedlichen Perspektiven, sodass man als LeserIn schnell einen Einblick in die verschiedenen Charaktere bekommt und stets weiß, was sowohl auf dem Berg, als auch unten im Dorf bzw. in der Stadt geschieht.

Der Schreibstil ist leicht verständlich und gut zu lesen, man kommt problemlos in die Geschichte rein.
Buck hat eine sehr bildliche Sprache und schafft es, einen mit wenigen Worten an den jeweiligen Schauplatz zu bringen.

Die Story entwickelt sich sehr zügig und es entsteht rasch Spannung. Nach den ersten 150 Seiten weiß man immer noch nicht, wohin einen die Geschichte führt, es kommen anfangs mehr Fragen als Antworten auf.
Diese klären sich im weiteren Verlauf des Buches, vielleicht etwas zu offensichtlich, zumindest kam das Ende leider nicht sehr überraschend und ich hatte schon früh den richtigen Verdacht, wer der Täter sein könnte.
Auch gab es für meinen Geschmack etwas viele Zufälle in der Geschichte.

Nichtsdestotrotz ist es ein wirklich spannender Thriller, der einen auf über 400 Seiten den Atem anhalten und so gut wie keine Längen aufkommen lässt.
Ich empfehle das Buch jedem, der kurzweilige und nervenaufreibende Geschichten liebt, dabei jedoch keinen Tiefgang braucht.

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Veröffentlicht am 10.02.2023

Ein bedrückendes Erbe

Männer sterben bei uns nicht
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"Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. ...

"Für meine Großmutter war Nähe keine relevante Kategorie. Sie hatte kein emotionales Verständnis von Familie, sondern eher ein dynastisches, auch wenn das Wort zu pompös war für den Haufen, den wir darstellten. Sie wies jeder von uns einen Platz und eine Aufgabe zu, und wenn wir den Platz einnahmen und die damit verbundene Aufgabe erfüllten, lief alles glatt, wenn nicht, wurden wir aussortiert wie verschlossene Muscheln."

Annika Reich schafft in ihrem Roman "Männer sterben bei uns nicht" ein interessantes Familienporträt, in welchem der Anschein über allem steht; Gefühle dürfen nicht ausgelebt oder gar gezeigt werden, wichtig ist nur die Form zu wahren - und zwar jene, die Großmutter für das jeweilige Familienmitglied gewählt hat. Männer gibt es hier keine.

Erzählt wird die Geschichte aus Luisas Sicht, der vorgesehenen Erbin des Anwesens und spielt am Tag von Großmutters Beerdigung. Dabei erfahren wir durch Rückblenden nach und nach mehr über die Geschichte der "Dynastie", über die einzelnen Familienmitglieder und ihre Rollen. Nach und nach wird ersichtlich, wie jeder jedem misstraut und die jeweilige Position missgönnt.
Im Laufe des Buches dringen wir immer tiefer in die Gefühlswelten ein, die zu Lebzeiten des Familienoberhauptes nie offenbart werden durften, und erfahren, dass jeder auf seine eigene Art einsam und unzufrieden ist.
Luisa stellt sich die Frage, ob sie die Familientradition überhaupt wahren möchte.

Die Autorin hat einen wunderschönen Schreibstil, klar und doch irgendwie poetisch. Die Geschichte ist kurzweilig und zieht einen immer tiefer in ihren Sog. So kann man die etwa 200 Seiten gut an einem Stück durchlesen.

Ich empfehle das Buch jedem, der gerne Familiengeschichten liest und sich dabei besonders für die jeweiligen Personenkonstellationen interessiert. Es gibt keinen großen Plot oder ein überraschendes Geheimnis, doch die Geschichte kommt sehr gut ohne aus, weil die einzelnen Figuren und ihre Beziehungen zu Großmutter und zueinander so gut gezeichnet sind.

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