Erschreckend realistisch
Nach der Trennung von Gust kümmert sich Frida immer dreieinhalb Tage pro Woche allein um Baby Harriet. Momentan ist das Kind ständig unruhig und quengelig, gleichzeitig muss Frida pünktlich einen Text ...
Nach der Trennung von Gust kümmert sich Frida immer dreieinhalb Tage pro Woche allein um Baby Harriet. Momentan ist das Kind ständig unruhig und quengelig, gleichzeitig muss Frida pünktlich einen Text an ihren Arbeitgeber abliefern. Ein wichtiger Ordner mit Unterlagen steht aber noch im Büro. Was liegt also näher, als das Baby in sein Spielcenter zu setzen und schnell die Dokumente abzuholen? Nur kurz dem Stress und Kinderlärm entkommen, fährt die junge Mutter nicht nur ins Büro, sondern gönnt sich auch noch einen Kaffee, als schon die Polizei bei ihr anruft. Ein Nachbar hat sie angezeigt, nach wenigen Wochen verliert Frida vorübergehend das Sorgerecht und soll in einer Anstalt ein Jahr lang lernen, eine gute Mutter zu werden.
Erschütternd realistisch erzählt Jessamine Chan die Situation von Frida. Ihre Schreibweise ist klar und schnörkellos, fast nüchtern zu nennen, aber dennoch geht die Geschichte der knapp vierzigjährigen Mutter unter die Haut. Wie schnell eine vermeintliche Kleinigkeit das Leben völlig auf den Kopf stellen kann, wird hier ersichtlich. Das Vergehen, ein Kleinkind für zwei Stunden alleine zu lassen, ändert alles. Baby Harriet kommt zum Vater und dessen neuer, junger Lebensgefährtin, Frida wandert in eine staatliche Besserungsanstalt. Mittels Puppen mit künstlicher Intelligenz sollen dort schlechte Mütter zu guten umerzogen werden. Ein straffes Programm lehrt richtiges Verhalten in allen Belangen der Kindererziehung. Es stellt sich allerdings die Frage, wer festlegt, was richtig und was falsch ist. Die Autorin regt zum Nachdenken an: wie weit ist Kindererziehung Privatsache, ab wann dürfen sich staatliche Stellen einschalten? Was ist insbesondere für ein Kind das Beste? Welche Unterstützung brauchen Eltern? Die Aussicht, nach diesem Jahr der strengen Erziehungsmaßnahmen das eigene Kind wieder in die Arme schließen zu dürfen, lässt Frida und die anderen „schlechten Mütter“ mehr erdulden als man glauben möchte. Die zwölf Monate, während der der Leser die „unfähigen Frauen“ begleitet, sind sehr glaubwürdig dargestellt, ihre Gedanken und Empfindungen in angemessene Worte gefasst. Auch wenn die Handlung fiktiv ist, so kann ich mir sofort vorstellen, dass all dies überall und jederzeit möglich ist.
Institut für gute Mütter zeigt ein hervorragendes Sittenbild einer Gesellschaft mit unglaublichen Moralvorstellungen. Jassemine Chan versteht es ausgezeichnet, Verzweiflung und Hoffnung spürbar werden zu lassen und Fridas Mutterinstinkt darzustellen. Aufrüttelnd, berührend und beängstigend. Leseempfehlung!
Titel Institut für gute Mütter
Autor Jessamine Chan
ASIN B0BJW57SJ8
Sprache Deutsch
Ausgabe ebook, ebenfalls erhältlich als Gebundenes Buch (433 Seiten) und Hörbuch
Erscheinungsdatum 1. April 2023
Verlag Ullstein
Originaltitel The School for Good Mothers
Übersetzer Friederike Hofert