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Veröffentlicht am 04.05.2023

(Vielleicht zu) Wholesome

Die Tage in der Buchhandlung Morisaki
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„Das Leben ist lang. Zwischendurch muss man auch mal innehalten, Pause machen. Du ankerst hier nur ein Weilchen, und wenn du dich wieder erholt hast, stichst du wieder in See.“

Eigentlich sind in „Die ...

„Das Leben ist lang. Zwischendurch muss man auch mal innehalten, Pause machen. Du ankerst hier nur ein Weilchen, und wenn du dich wieder erholt hast, stichst du wieder in See.“

Eigentlich sind in „Die Tage in der Buchhandlung Morisaki“ gleich zwei Geschichten versteckt. Die erste handelt von Takako, deren Leben aus den Fugen gerät, als ihr Freund sich verlobt – aber nicht mit ihr. Sie kündigt, zieht sich zurück, bis ihr Onkel anbietet, über seinem Antiquariat zu wohnen. Der Buchhandlung Morisaki. Die zweite Novelle schließt anderthalb Jahre später an, lässt sich aber wenig beschreiben, ohne zu spoilern.

Satoshi Yagisawas Erzählungen sind, in einem Wort beschrieben, wholesome. Die Figuren erleben traurige Momente und schaffen es, mit der Hilfe anderer und etwas Zeit für sich, ihr Leben in eine positive Bahn zu lenken. Beide Novellen lassen sich in einem Rutsch durchlesen, die perfekte Lektüre also für eine längere Bahnfahrt, einen Abend auf dem Balkon oder eingemümmelt mit Tee unter einer Sofadecke. Aber!

Mir persönlich war das manchmal etwas zu flach. Zu gut, zu nett, zu schön, zu lieb, zu, ja, wholesome. Nicht, dass ich Feel-Good-Storys nicht mag, aber dennoch verschenkt der Autor hier das Potenzial, das er gelegentlich aufblitzen lässt, wenn er die Protagonistin durch Klassiker der japanischen Frühmoderne blättern lässt. Vielleicht sind hier ein paar Anspielungen versteckt, die europäische Leser:innen nicht ganz greifen können, wenn sie diese Romane kennen. Aber hier hätte ich, besonders im ersten Teil, gerne mehr erfahren, mehr gelesen, denn asiatische Romane schaffen es häufig, unbekannte Welten zu öffnen, neues aus fremden Kulturen zu lernen.

Gelegentlich klappt dies sehr gut, wenn zum Beispiel Takaros Onkel das Viertel Jimbōchō ganz liebevoll beschreibt und sie sich irgendwann doch entschließt, aus ihrem Zimmer heraus die Welt neu zu entdecken, ins Café zu gehen und andere Antiquariate zu durchstöbern. Wenn es im zweiten Teil des Buches hinaus geht aus der Stadt, in die Berge, in einen Schrein. Doch leider sind diese Momente ein bisschen zu rar gesät, genau wie der Tiefgang der Geschichten. Ja, da sind Dramen in beiden Teilen, doch durch die Erzählweise sind diese nicht so emotional, wie sie sein könnten, vielleicht auch müssten.

Das macht „Die Tage in der Buchhandlung Morisaki“ zu keinem schlechten Buch, im Gegenteil. Aber auch zu einem Doppelroman, der mehr hätte sein können. Aber vermutlich muss das auch nicht immer sein. Schließlich fühlt man sich nach der Lektüre weniger betrogen oder um etwas gebracht, sondern eigentlich ausnahmslos … gut.

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Veröffentlicht am 03.04.2023

Fast verkitschte Naturentspannung

Kleine und große Wunder der Natur
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Meditativ oder esoterisch? Das ist ja eh ein schmaler Grat, wobei geneigte Leser:innen hier eher an Apps oder YouTube Tutorials denken und weniger an Kinderbücher. Aber: Bei „Kleine und große Wunder der ...

Meditativ oder esoterisch? Das ist ja eh ein schmaler Grat, wobei geneigte Leser:innen hier eher an Apps oder YouTube Tutorials denken und weniger an Kinderbücher. Aber: Bei „Kleine und große Wunder der Natur“ ist man hier gar nicht so weit weg. Ein entspanntes Vorlesevergnügen, das gelegentlich droht, ins Kitschige abzurutschen.

Gabby Dawnay nimmt uns mit in die Wälder, zu Rehen und Hirschkäfern, Bienen und Pilzen. Sie beschreibt in einfachen Worten, mit welchen Phänomen die Natur begeistert, wie Bäume miteinander interagieren oder was die Photosynthese ist. Ziemlich anschaulich, schon für kleine Kinder ab 4 Jahren, und wunderschön von Mona K illustriert.

Dawnay selbst bezeichnet sich auf ihrer Instagram Seite als Poetin (nicht direkt, sie beschreibt sich zunächst als Kinderbuchautorin und Kritzelerin und, recht sympathisch, als Bummlerin und Prokrastinateurin). Und ja, poetisch sind ihre Texte, aber, so ist das eben mit der Poesie – sie ist oft nah am Kitsch gebaut. Daher ist „Kleine und große Wunder der Natur“ kein Kinderbuch für jede:n. Man muss sich darauf einlassen, dass es plötzlich zu solchen Gedanken und Liedern wie hier bei Motte und Mond kommt:

„O Mond, lieber Mond, mit so lieblichem Schein, ich möchte verliebt sein und nicht länger allein. Aber wie soll das nur gehen? Stumm und klein, wie ich bin. Ohne Stimme zum Rufen … Wo flieg ich nur hin?“

Puh? Ja schon, ein bisschen. Ein bisschen schön aber auch. Und, jetzt sind wir wieder am Anfang: auch schön entspannend. Dawnay schreibt keine aufregenden, mitreißenden Geschichten über die Faszination Natur, sondern entspannte kleine Episoden, die die Fantasie anregen und gleichzeitig alles ein bisschen runterfahren. Ein Kinderbuch als Meditation vor dem Schlafgehen, eine kleine Traumreise durch das Leben eines Hirschkäfers oder den Pollensammeltag der Biene und dann eine gute Nacht und süße Träume von der Natur.

Ist so schlecht nicht und sieht dabei fantastisch aus. Auch dank der Haptik des Hardcovers mit Goldprint, der schönen Farben und der schon genannten Illustrationen. Und ein bisschen lehrreich ist es auch, denn jedes Kapitel schließt mit einer kleinen Zusammenfassung, einer Art Übersichtsblatt, deutlich sachlicher. Sollte man vor dem Schlafen nicht mehr vorlesen, das wirkt dann wie ein Werbespot nach der YouTube Traumreise - ein Rausreißer aus der Ruhe danach. Und die Eingangsfrage? Immer noch ein schmaler Grat – aber vermutlich ist das Buch eher meditativ. Entscheiden müsst ihr das selbst.

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Veröffentlicht am 29.03.2023

Keine perfekte Geschichte

Dein Taxi ist da
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„Aber das ist keine perfekte Geschichte. Das war sie von Anfang an nicht.“ (Seite 150)

Aber eine gute, das schon. Vielleicht nicht für die Figuren von Priya Guns‘ „Dein Taxi ist da“. Aber durchaus für ...

„Aber das ist keine perfekte Geschichte. Das war sie von Anfang an nicht.“ (Seite 150)

Aber eine gute, das schon. Vielleicht nicht für die Figuren von Priya Guns‘ „Dein Taxi ist da“. Aber durchaus für die Leser:innen ihres Debütromans. Vielschichtig ist er, vielleicht zu vielschichtig, zu voll, zu übertrieben manchmal, und daher nicht perfekt. Aber er ist launig, rasant, emotional, verwirrend und am Puls der Zeit.

Damani ist Fahrerin für RideShare, eine Taxi-Unternehmen, das ihren Fahrer:innen immer weniger zahlt – im Buch ist an einer Stelle von 25 % einer 120 Dollar-Fahrt für Damani die Rede – und so die Wut, den Protest von Damanis Freund:innen entfacht. Das ist ein Teil der Geschichte. Der vielleicht interessanteste, politisch brisanteste und stärkste, wenn sich die Fahrer:innen mit Demonstranten anderer Bewegungen auf die Straße begeben, aber auch eigene Aktionen planen. Was schade ist: Dieser Aspekt verliert sich irgendwann, zumindest in seiner Wichtigkeit.

Es geht um Armut und Existenzängste, Damani und ihre Mutter fürchten ständig, ihre Wohnung aufgrund von Mietrückständen verlassen zu müssen, seit ihr Vater gestorben ist. Und trotz abgeschlossenen Studiums ist kein „richtiger“ Job für sie in Aussicht. Es ist auch eine queere Liebesgeschichte, die rasant beginnt und in einer Katastrophe endet, um am Ende – tja nun, da setzt eine weitere Geschichte ein.

Denn das Auseinanderbrechen von Damani und Jolene, gefolgt von Stalking(ängsten), Verfolgungsjagden und Spendensammlung ist insofern verwirrend, dass nicht ganz aufgelöst wird, ob wir hier eine unzuverlässige Erzählerin haben oder eine Ex, die an paranoider Schizophrenie leidet, ohne hier eine tiefere Ebene zu erreichen.

Etwas anstrengender sind die Einschübe einer Vloggerin und – immerhin nur in einem späteren Kapitel auftauchenden – Tweets, die auf die Handlung anspielen. Das lässt sich aber verzeihen, denn Priya Guns hat in ihrem Debüt tolle Figuren entwickelt, nicht nur mit der Hauptperson, sondern auch mit den weiteren Charakteren wie Miss Patrice, Shereef und eben jener Jolene.

„Dein Taxi ist da“ bündelt Zukunfts- und Existenzängste, Rassismus, Familie und Liebe zu einer spannenden, leicht konfusen, aber grundsympathischen Geschichte. Nicht perfekt. Aber lesenswert. Und wichtig.

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Veröffentlicht am 03.03.2023

Theater im Wald

Grimmwald: Teds und Nancys total verrücktes Abenteuer – Band 1
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Kopflos geht es zu in Grimmwald. Erst erwischt es den guten Binky, dann … ach nein, das wäre ein Spoiler zu viel. Aber: Wer Kinderbücher nicht schätzt, in der Tiere anderen Tieren den Kopf abbeißen, für ...

Kopflos geht es zu in Grimmwald. Erst erwischt es den guten Binky, dann … ach nein, das wäre ein Spoiler zu viel. Aber: Wer Kinderbücher nicht schätzt, in der Tiere anderen Tieren den Kopf abbeißen, für den ist Grimmwald nichts. Alle anderen könnten viel Spaß haben auf dem Land. So wie Ted. Nicht so wie Nancy.

Ted und Nancy sind zwei Fuchsgeschwister. Sie leben in der großen Stadt, ihre Eltern sind weg und sie haben Beef mit den Katzen. Besonders mit einer: Prinzessin Pinöckel. Dieses gar nicht mal so reizende Exemplar einer Mieze will die Herrschaft über die Mülltonnen der örtlichen Imbissbude an sich reißen und verliert dabei ihren Schwanz, als Ted ihn mit einem Hot Dog verwechselt. Kann ja mal passieren. Die Fuchs-Geschwister müssen jedenfalls vor Prinzessin Pinöckels Zorn untertauchen – in Grimmwald.

Ein wenig erinnert das an den umgedrehten Plot von Jörg Isermeyers Reihe „Dachs und Rakete“, nur ist es brachialer, lauter und mitunter ein bisschen weniger herzlich. Very british eben, könnte man sagen, allerdings weiß die Zielgruppe vermutlich noch zu wenig damit anzufangen. Die Füchse werden in Grimmwald herzlich aufgenommen, mit verlassenem Fuchsbau und frischen Smoothies versorgt und sogar auf einen Kaffee eingeladen, was Nancy zumindest ein kleines Lächeln abringt, während ihr Bruder den Spaß seines Lebens hat und zum ersten Mal überhaupt Freunde findet.

Wer zunächst vermutet, dass hier ein Unheil mitschwingt, sich die Bewohner Grimmwalds als fuchsfressende Sekte oder der Wald als verwunschener Gruselforst entpuppen wird, der … naja, ist entweder furchtbar enttäuscht oder ziemlich erleichtert, denn in Grimmwald passiert nichts Böses. Es gibt eine Menge Theater, aber nur auf der Bühne, einen etwas durchgeknallten Vogel, siehe Kopflosigkeit, ansonsten ist die Geschichte harmlos, bis Prinzessin Pinöckel mit ihrer Katzenbande auftaucht.

Nadia Shireens „Grimmwald“ ist durchaus gefällig, aber leider fehlt doch ein bisschen der Charme, die Herzlichkeit und vielleicht auch ein gewisser Plottwist, der über Prinzessin Pinöckels Auftauchen in Ted und Nancys neuer Heimat hinausgeht. Immerhin: Dies ist erst der erste Band von einigen – da kann also noch einiges in Grimmwald passieren. Denn so viel kann verraten werden: Ted und Nancy zieht es nicht zurück in die Stadt. Warum auch?

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Veröffentlicht am 13.02.2023

Zwischen Tradition und Leben

Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen
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Hoodie Rosen ist eigentlich ein typischer Jugendlicher. Er kabbelt sich mit seinen Freunden, diskutiert vergnügt mit seinen Lehrern und ist von 0 auf 100 in ein Mädchen verknallt, das er vor dem Schulfenster ...

Hoodie Rosen ist eigentlich ein typischer Jugendlicher. Er kabbelt sich mit seinen Freunden, diskutiert vergnügt mit seinen Lehrern und ist von 0 auf 100 in ein Mädchen verknallt, das er vor dem Schulfenster sieht. Auf der anderen Seite ist Hoodies Leben gar nicht ganz so normal. Sein Leben spielt sich größtenteils in der jüdischen Community ab – kein öffentliches College, keine nicht-jüdischen Freude, dafür kritische bis antisemitische Schilder in den Gärten auf dem Schulweg und Hakenkreuze auf dem Friedhof. Das Mädchen, in das sich Hoodie verguckt hat, lädt ihn ein, diese gemeinsam zu entfernen. Was Hoodie in ziemliche Bedrängnis bringt – schließlich ist Anna Marie die Tochter der populistischen Bürgermeisterin, die gegen die jüdische Community hetzt.

Isaac Blum ist mit „Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen“ ein starkes Jugendbuch gelungen, das den aufkeimenden Antisemitismus in den USA, aber auch in anderen westlichen Ländern in den Mittelpunkt rückt, aber auch mal augenzwinkernd, mal kritisch mit den jüdischen Traditionen ins Gericht geht. Gefühlt unfassbar, wenn auch historisch nachvollziehbar und gut erklärt, wie sehr sich die Gemeinde abschottet, aus Angst und Erfahrung, und die Gräben dadurch eher noch tiefer werden – und wie Hoodie alleingelassen in der Mitte steht und sich entscheiden muss, zwischen Familie, Tradition, Freundschaft oder aber der Liebe seines noch jungen Lebens.

Dass es hier und da an Tiefe fehlt und manche Figuren am Ende etwas blass bleiben, ist eher dem Genre und der jungen Zielgruppe geschuldet und zu verzeihen. Verschont wird auch diese nicht, das Finale ist brutal, aber mit Blick auf die vielen Gewalttaten in Amerika leider auch sehr realistisch. Und doch schwingt auch eine gewisse Versöhnlichkeit und Hoffnung mit.

Ein kleiner Wermutstropfen: Für nicht-jüdische Leser:innen ist „Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen“ ein spannender Einblick in den teils ultraorthodoxe Lebens- und Glaubensalltag – aber häufig wird vieles vorausgesetzt, das einfach zu unbekannt ist. Ein Glossar mit Begriffserklärungen von jüdischen Feiertagen, Bräuche und, ja, auch Lebensmittel wäre ein schöner Bonus gewesen. Andererseits: Gerade die aktuelle Jugendbuch-Zielgruppe ist ja definitiv bekannt als Generation Second Screen – und Google kennt schließlich alles. Selbst Schnurkäse.

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