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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.09.2023

Sprachlich überzeugende, eindringliche Einblicke in Obsession und Depression

Idol in Flammen
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Für die psychisch kranke Schülerin Akari ist ihr J-Pop-Idol Masaki ihr einziger Lebensinhalt – alles, was zählt. In über 20 Ordnern hat sie feinsäuberlich alles transkribiert, ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Für die psychisch kranke Schülerin Akari ist ihr J-Pop-Idol Masaki ihr einziger Lebensinhalt – alles, was zählt. In über 20 Ordnern hat sie feinsäuberlich alles transkribiert, was der Sänger je gesagt hat – der Rest ihres Zimmers versinkt im Chaos. Als plötzlich berichtet wird, dass Masaki einen Fan geschlagen haben soll, bricht für sie eine Welt zusammmen…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: keine Kapitel, durchgehender Text

Inhaltswarnung: Gewalt gegen Kinder, psychische Krankheiten, Depression, Suizidgedanken, Obsession, Messie-Syndrom, toxische Eltern-Kind-Beziehung, Essstörung, sich übergehen, Leistungsdruck
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥

Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen (dieser Abschnitt ist inspiriert von @sassthxtic auf Lovelybooks):

- psychische Erkrankungen im Fokus
- Schulsetting
- ruhige Bücher
- deprimierende Grundstimmung
- Fankultur
- J-Pop
- soziale Medien
- Leistungsdruck
- toxische Eltern-Kind-Beziehung

Meine Rezension

„Mein Idol steht in Flammen. Er soll einen Fan geschlagen haben. Noch ist kein einziges Detail bekannt.“ E-Book, Position 22

Bei „Idol in Flammen“ hat mich vor allem das erfrischend andere Thema interessiert, über das ich noch nie zuvor ein Buch gelesen hatte. Als Jugendliche war ich selbst ein großer Fan von Bands wie „Mumford & Sons“ und „Panic! at the Disco“ – die obsessive Fanliebe vieler K-Pop-Fans konnte ich trotzdem nie richtig nachvollziehen. Von Rin Usami erhoffte ich mir daher einen Einblick in eine fremde Welt.

Doch konnte mich dieser Roman in Novellenlänge (unter 130 Seiten) denn überzeugen? Hier kann ich euch versichern: Ja, das konnte er – auch wenn er stellenweise ganz anders war als erwartet. Denn: Es gibt sie zwar, diese Einblicke in die obsessive Fankultur – Akaris J-Pop-Idol ist der Mittelpunkt ihres Lebens (oder „ihre Wirbelsäule“, wie sie es ausdrückt). Das zeigt sich folgendermaßen: In über 20 Ordnern hat sie feinsäuberlich alles transkribiert, was ihr großes Vorbild je gesagt hat. Auf einem Blog analysiert sie jeden seiner Auftritte im Detail. Sie überlegt sogar, aus seiner Handschrift eine neue Schriftart zu kreieren. Jede DVD von ihm kauft sie sich dreimal, ihr ganzes Geld, das sie mit ihrem Nebenjob verdient, investiert sie in Fanartikel und CDs – und in der Zeitung liest sie nicht einmal ihr eigenes Horoskop, sondern das von Masaki. Ihre ganze Existenz ist auf ihr Idol ausgerichtet, beruht praktisch darauf.

„Ich finde es nicht richtig, nur verheiratet zu sein, wenn es gerade gut läuft, und so halte ich es auch mit meinem Dasein als Fan, also tippe ich: “ E-Book, Position 61

Doch das alles ist eben nur die eine Hälfte des Buches, denn Akari ist auch: psychisch krank. Was genau sie hat, wird nicht näher thematisiert, nur dass es zwei Diagnosen gibt, dass sie ihre Medikamente abgesetzt hat und Termine mit Psychotherapeut:innen schwänzt, weiß man. Ihr Zimmer versinkt im Chaos, ihre schulischen Leistungen sind im Keller, ihre Mutter gibt ihr ständig das Gefühl, dass sie eine Belastung und Versagerin ist und nie genug sein wird. Masaki ist demnach das Einzige in ihrem Leben, das Akari Sinn, Kraft und Antrieb gibt. Deshalb bricht auch ihre Welt zusammen, als ein Shitstorm über ihm niedergeht und berichtet wird, dass er angeblich einen Fan geschlagen haben soll. Obwohl ich nur 2 Tage an diesem Roman gelesen habe, hat er mich nicht kaltgelassen, sondern mich richtig runtergezogen und deprimiert. Man fiebert mit Akari mit, wenn es zum Beispiel um die Beliebtheitswahl geht, aber man durchlebt mit ihr eben auch diese Abwärtspirale, in der sie sich befindet. Wer sich psychisch gerade nicht stabil fühlt, sollte dieses Buch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Auch als Lektüre für den Urlaub kann ich es nicht empfehlen, weil es das Potential und die Macht hat, euch nachhaltig die Stimmung zu ruinieren. Für mich selbst war es jedenfalls eine Erleichterung, als ich die letzte Seite umgeblättert hatte und mich wieder anderen, fröhlicheren Lektüren zuwenden konnte.

„Sie wechselt ihre Gesichtsausdrücke wie Emojis und spricht nur in knappen Sätzen. Bei ihr wirkt das nicht falsch oder aufgesetzt, vermutlich will sie sich selbst bloß so stark wie möglich vereinfachen.“ E-Book, Position 38

Ansonsten hat mir „Idol in Flammen“ von Rin Usami, die 2020 mit nur 21 Jahren in Japan den rennomierten Akutagawa-Literaturpreis als jüngste Preisträgerin der Geschichte (!) gewann, aber wirklich gut gefallen. Ich mochte den einfachen Schreibstil mit den kreativen Metaphern (ich habe mir viele schöne Stellen rausgeschrieben!) und den seltsamen Beobachtungen, ich mochte es, dass ernste Themen wie Leistungsdruck, Depression, das Leben in einer toxischen Familie, Fankultur und Obsession relativ tiefgründig behandelt werden, und auch die beklemmende, lähmende Atmosphäre, die beim Lesen durch Akaris von Passivität geprägtes Leben aufkommt, hat mich überzeugt. Zudem war mir die Protagonistin sympathisch, ich konnte mich gut in sie hineinversetzen und mit ihr mitfühlen, ihr Verhalten war für mich nachvollziehbar. Aus feministischer Sicht gibt es ebenfalls nur Kleinigkeiten auszusetzen (wie z. B., dass man ausschließlich Männer in Führungspositionen antrifft), ansonsten überzeugt das Buch mit seinem „Female Gaze“ (dt. weiblichem Blick) und den vielfältigen, starken Frauenfiguren.

„Beim Schwimmen ist mir das nie aufgefallen, aber vom Rand aus wirkt das Wasser, das über dem gefliesten Wasser Wellen schlägt, irgendwie schleimig. Nicht Schmutz oder Sonnencreme, sondern etwas Abstrakteres, Fleischähnliches scheint sich darin aufzulösen.“ E-Book, Position 59

Doch warum ist „Idol in Flammen“ trotzdem kein Lieblingsbuch geworden? Das liegt vor allem daran, dass sich der Mittelteil streckenweise etwas gezogen hat. Es passiert einfach zu wenig, es gibt dort einen gewissen handlungstechnischen und das Tempo betreffenden Stillstand. Fans ruhiger Bücher wird das nicht stören, aber mir war das nicht genug Spannung. Dass viele Dinge auch offen bleiben und man als Leser:in genauso wenige Antworten wie Akari auf drängende Fragen bekommt, ist zwar realistisch, aber ließ mich auch unbefriedigt zurück. Bei den Nebencharakteren hätte ich mir zudem eine etwas tiefergehende Figurenzeichnung und mehr Farbe gewünscht. Das Ende wird polarisieren – ich selbst fand es etwas inkonsequent, aber ich kann damit leben.

Mein Fazit

„Idol in Flammen“ ist ein Roman, der interessante und tiefgründige Einblicke in obsessive Fankulturen und den Alltag mit einer unbehandelten psychischen Krankheit gibt. Sprachlich und thematisch hat er mir wirklich gut gefallen. Nicht unterschätzen sollte man hier allerdings, wie negativ sich diese Geschichte aufs Gemüt schlagen kann. Durch den Mangel an Spannung und Tempo im Mittelteil ist das Buch hauptsächlich etwas für Liebhaber:innen ruhiger Geschichten mit einem Fokus auf das Innenleben der Figuren. Für mich ist „Idol in Flammen“ ein Roman, den man durchaus lesen kann, den man aber nicht unbedingt gelesen haben muss.

Bewertung

Cover / Aufmachung: 4 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Ende: 4 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Tempo: 3 Sterne
Wendungen: 3 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: 4 Sterne
Einzigartigkeit: 4 Sterne

Insgesamt:

☆★☆★ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.05.2023

Mutiger, tiefgründiger, nachdenklich machender Gedichtband!

Wenn aus Tränen Worte und aus Worten Gedichte werden
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Klappentext (Ausschnitt)

Traust du dich, dich all dem zu stellen? Meine Worte zu lesen, meinen Schmerz zu teilen und sie zu einem Teil von dir werden zu lassen?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: ...


Klappentext (Ausschnitt)

Traust du dich, dich all dem zu stellen? Meine Worte zu lesen, meinen Schmerz zu teilen und sie zu einem Teil von dir werden zu lassen?

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählerin, Du-Erzählerin
Perspektive: weibliche Perspektive
Gedichtlänge: kurz bis mittel

Inhaltswarnung: Mobbing, Stalking, Gewalt gegen Frauen, Gaslighting, toxische Beziehung
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥


Meine Rezension

„Wirst du mich weiterhin immer weiter quälen […]?
Was gibt dir das?
Macht es dich glücklich,
mich zerbrechen zu sehen?“ Seite 86

Da ich der lieben Andrea schon seit Ewigkeiten auf Instagram folge und ihre Texte immer schon berührend fand und sie als unglaublich sympathischen, empathischen, lieben Menschen kennengelernt habe, habe ich natürlich sofort zugesagt, als sie mit anbot, mir ein Exemplar eines ihrer Gedichtbände zukommen zu lassen. Schließlich hatte ich mir schon lange vorgenommen, einmal etwas von ihr zu lesen. Danke an dieser Stelle übrigens an Andrea für ihre Engelsgeduld, da sich der neue Job als stressiger als erwartet herausgestellt hat und mir lange Zeit die Ruhe für ein lyrisches Werk (das man ja genießen und auf sich wirken lassen sollte) fehlte. Hier ist sie nun endlich, die Rezension, auf die du so lange warten musstest. ♥

Wenn ich an die Lektüre zurückdenke, ist ein Gefühl ganz zentral, denn ich war vor allem eines: beeindruckt. Beeindruckt von der Ehrlichkeit, mit der die Autorin über ihre (auch dunkelsten) Gefühle und ihre schmerzhafte Vergangenheit spricht, von dem Mut, der dazugehört, wenn man seine Leser:innen so nah an sich heranlässt (den ich übrigens niemals aufbringen könnte), und von der Kraft, die diese starke Frau in ihrem Leben immer wieder bewiesen hat und erneut beweisen muss. Wie erwartet (bei einer Lektorin) sind die biographischen Texte fehlerlos, aber sie sind noch so viel mehr: tiefgründig, nachdenklich machend, anklagend, versöhnlich, düster, hoffnungsvoll, teilweise richtig philosophisch. Eine große Bandbreite von Gefühlen wird hier beim Lesen abgedeckt, sodass hier garantiert für jede:n etwas dabei ist!

„Hat dein Albtraum einen Namen?
Oder bist du für jemanden der Albtraum?
Hast du das jemals in Erwägung gezogen?“ Seite 60

Gut gefallen hat mir (neben den sehr gelungenen Illustrationen) auch, dass es zu jedem Gedicht einen Song gibt, den man sich anhören kann, damit man noch tiefer in die beschriebene Stimmung eintauchen kann. Hier hätte ich mir allerdings gewünscht, dass die Lieder gleich am Beginn des Gedichts angeführt sind und dass man nicht bis zum Ende blättern muss und dadurch vielleicht schon gespoilert wird. Ich vergebe für den Gedichtband 4 gute und zufriedene Sterne – für den 5. hat es nur deshalb nicht gereicht, weil ich persönlich Lyrik, die sich reimt und rhythmisch nicht ganz so frei ist, noch eine Spur lieber mag. Doch das ist eine reine Geschmackssache.


Mein Fazit

Wen düstere Themen und seelische Abgründe nicht abschrecken (Inhaltswarnungen bitte ernst nehmen!) und wer offen ist für freie Rhythmen und moderne Lyrik, die sich nicht reimt, dem sei der mutige, tiefgründige, nachdenklich machende und ziemlich beeindruckende Gedichtband „Wenn aus Tränen Worte und aus Worten Gedichte werden“ von Andrea Benesch hiermit wärmstens ans Herz gelegt!


Bewertung

Cover / Aufmachung: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4 Sterne
Sprache: 4 Sterne
Illustrationen: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Feminismus: 4 Sterne

Insgesamt:

❀❀❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier zufriedene Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.04.2023

Intelligent geschriebene Genremischung (Roman, Dystopie, Gesellschaftskritik), die zum Nachdenken anregt!

New York Ghost
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Candace, Angestellte in einem Verlagshaus, arbeitet auch dann noch hingebungsvoll weiter, als immer mehr Leute aufgrund einer tödlichen und hochansteckenden Pilzinfektion ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Candace, Angestellte in einem Verlagshaus, arbeitet auch dann noch hingebungsvoll weiter, als immer mehr Leute aufgrund einer tödlichen und hochansteckenden Pilzinfektion krank werden oder aus Angst aus der Stadt fliehen. Irgendwann ist sie die einzige Überlebende im ganzen Bürokomplex - vielleicht sogar in der ganzen Stadt. Das Einzige, was ihr Halt gibt: ihr Blog „NY Ghost“, auf dem sie den Verfall der Metropole dokumentiert…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählerin, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: kurz bis mittel

Inhaltswarnung: Tod von Menschen, Liebeskummer, Trauer, Suizid, Medikamentenmissbrauch, Alkoholmissbrauch, Blut, Gewalt, Schwangerschaft
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥

Meine Rezension

„Alles andere konnte den Bach runtergehen, aber nicht New York. Seine glänzenden, reflektierenden Oberflächen und die geldgetränkte Umgebung erschienen unverwundbar.“ E-Book, Position 3722

Der Klappentext (Dystopie, Großstadt, Pilzinfektion wie bei einem meiner absoluten Lieblingsvideospiele, „The Last of Us“ ♥) hat mich in Kombination mit den begeisterten Rezensionen der Buchkritik sehr neugierig gemacht. Zuerst dachte ich trotzdem noch, der Roman wäre ein absoluter Geheimtipp, weil er in einem kleinen Verlag erschienen ist und ich ihn nur selten auf Bookstagram gesehen habe. Dann wurde ich aber mit einem gewissen Nachdruck darauf hingewiesen, dass „New York Ghost“ ein absolutes Hype-Buch gewesen ist und ich wahrscheinlich die Einzige bin, die es noch nicht gelesen hat. Spätestens jetzt führte für mich kein Weg mehr an diesem Werk vorbei!

Lasst uns zuerst die wichtigste Frage klären: Habe ich das bekommen, was ich mir erhofft habe – eine tiefgründige, literarische Dystopie? Leider nicht wirklich, denn irgendwie ließ der Klappentext gemeinerweise unter den Tisch fallen, dass dieses Buch zu ca. 75% aus Rückblenden von VOR der Pandemie besteht. Die Lektüre gestaltete sich also ganz anders als erwartet und ich hätte sicher nicht zu diesem Werk gegriffen, wenn ich das gewusst hätte. Aber war das Buch trotzdem gut? Ja, zum Glück!

„New York Ghost” hat bereits einige Preise abgeräumt und wurde von vielen Zeitschriften zu einem der besten Bücher des Jahres (2018/2019) ernannt – und schon auf den ersten Seiten wird klar, warum: Dieser Roman ist sprachlich elegant, sehr intelligent, tiefgründig und stellenweise auch fordernd geschrieben, enthält teils satirisch verpackte Gesellschafts- und Kapitalismuskritik und beleuchtet auf einfühlsame und treffende Weise sowohl Migration als auch unsere Konsumgesellschaft und das Leben junger Erwachsener in einer Großstadt.

„Sie spendeten an Non-Profit-Organisationen, die sich gegen Niedriglohnfabriken in südostasiatischen Ländern einsetzten, obwohl sie diese nutzten. Ein Vorgehen, das ein raffiniertes Verständnis der globalen Wirtschaft zeigte.“ E-Book, Position 2230

Besonders interessant fand ich Ling Mas Entwurf der „Zombies“ – es sind hier keine blutrünstigen Monster, sondern friedliche Geschöpfe, die ohne Unterlass altbekannte Routinen ausführen, die zum Beispiel immer wieder den Tisch decken, immer wieder die Wäsche zusammenlegen oder die Blumen gießen, während sie langsam körperlich verfallen, weil sie nichts mehr essen und sich nicht mehr um sich selbst kümmern. Vermutlich eine Anspielung auf unseren oft „hirnlosen“, gierigen Konsum und den immergleichen Alltag im Hamsterrad. Wer sich die Zeit nehmen will – zu analysieren gäbe es hier jedenfalls genug! Mich überzeugten die dystopischen Passagen in der Gegenwart jedenfalls auf ganzer Linie, da die Autorin hier nichts beschönigt und dort knallhart und grausam gelitten und gestorben wird. Gerade deshalb finde ich es schade, dass diese Abschnitte nur so wenig Raum im Buch einnehmen. Auch die Protagonistin konnte mich mit ihrer unerschütterlichen, nachdenklichen, irgendwie seltsamen Art (zu der sie steht, was ich wundervoll finde!) für sich einnehmen. Ich fand sie sehr sympathisch und habe sie gerne durch die Geschichte begleitet – gerne hätte ich das auch noch länger getan, aber dazu später mehr.

„Es ist so still, ich könnte durch die Risse einer solchen Stille fallen.“ E-Book, Position 3917

Probleme hatte ich (neben den etwas blass bleibenden Figuren) vor allem mit den langen Rückblenden voller Arbeitsalltag, Shopping-Orgien und Hautpflegeprodukte. Ich bin ohnehin kein großer Fan von Rückblenden und da ich mich für diese Themen einfach so gar nicht interessiere, habe ich mich bei diesen Passagen dann schon manchmal gelangweilt; ich fand sie einfach langatmig und kam nur schleppend voran. Trotzdem gab es auch hier immer wieder interessante Stellen, die mich zum Nachdenken gebracht haben. Richtig interessant wurde es für mich erst dann wieder, als die Menschen nach und nach New York verlassen und Candace atmosphärisch beschreibt, wie sich die eigentlich so volle und laute Metropole immer weiter leert – bis sie das Gefühl hat, der letzte Mensch dort zu sein. Eine unheimliche Vorstellung, die sich beim Lesen einfach so falsch anfühlte!

Aus feministischer Sicht bin ich mit diesem Buch leider auch nicht rundum zufrieden, weil es eine sehr klischeehafte Rollenverteilung in der Gegenwart gibt – wohl auch bedingt durch den konservativen, religiösen Anführer der Gruppe Überlebender, aber trotzdem. Warum bekommen die Männer die Waffen und die Frauen sammeln dann in gesichterten Häusern die Waren ein? Das geht 2023 besser! Etwas besänftigt haben mich dafür die auf ihre eigene Art starke, intelligente Hauptfigur und die fehlenden sexistischen Beleidigungen. Das Ende würden manche vielleicht als „eigenwillig“ oder „gewagt“ bezeichnen – ich nenne es „Frechheit“! ;) Ich habe nichts gegen offenere Enden, aber was uns da serviert wird… Gerade als es richtig spannend wird, bricht die Geschichte abrupt ab – als Leser:in wird man ziemlich unhöflich im Regen stehen gelassen. Vielen Dank auch!

Mein Fazit

„New York Ghost” ist ein intelligent geschriebener Roman, der ganz anders war, als ich ihn mir vorgestellt hatte – aber trotzdem auf seine Weise gut und unterhaltsam. Das Buch ist ungeschönte Dystopie, tiefgründige Gesellschafts- und Kapitalismuskritik und literarische Milieustudie (Großstadtleben, junge Erwachsene, Migration) in einem. Ling Ma hat ein Werk geschrieben, das zwar keine Hochspannung bietet, uns aber dafür zum Nachdenken anregt – und ist das nicht viel wichtiger? Schließlich ist es doch genau das, was uns von den Zombies in der Geschichte unterscheidet…

Bewertung

Cover / Aufmachung: 2 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Ende: 2 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Wendungen: 2 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 3 Sterne
Einzigartigkeit: 5 Sterne ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier zufriedene Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 03.04.2023

Sehr hilfreiches Buch im Kampf gegen die Klimakrise und das Leugnen!

Erste Hilfe für die Erde
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Klappentext

Wie können wir unseren Planeten retten und das 21. Jahrhundert überleben? Wie argumentiert man mit Leugnern des Klimawandels? Wie können wir hier und jetzt die Klimawende schaffen? Dieses ...

Klappentext

Wie können wir unseren Planeten retten und das 21. Jahrhundert überleben? Wie argumentiert man mit Leugnern des Klimawandels? Wie können wir hier und jetzt die Klimawende schaffen? Dieses ungewöhnlich gestaltete Buch nennt die Fakten: kurz und kompakt, wissenschaftlich fundiert und nachprüfbar. Der bekannte Klimaexperte Prof. Mark Maslin entwirft keine Utopien, sondern liefert stichhaltige Argumente und gibt konkrete Tipps, was jeder von uns im Alltag beitragen kann. Wir haben allen Grund zum Optimismus, denn unsere Zukunft liegt ganz allein in unseren Händen. Zeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken und unsere Erde vor und für uns zu retten!

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Sachbuch, Einzelband
Kapitellänge: mittel

Rezension

„Wir stehen am Abgrund. Die Zukunft unseres Planeten liegt in unseren Händen.“ E-Book, Position 63

Ich lese nur selten Sachbücher – und wenn, dann nervt es mich sehr, wenn sich die Autor:innen wiederholen und damit meine Zeit verschwenden. Dieses Buch lockte mich mit seiner Kürze, seiner Wissenschaftlichkeit und seinem brandaktuellen Thema: Klimawandel. Das ist nämlich eine Thematik, über die man gerade als Lehrerin nicht genau genug informiert sein kann. Außerdem versprach es konrete Handlungsvorschläge und dass man in jeder Situation daraus zitieren kann, sei es bei Partys oder sogar im Parlament – ganz egal eben, wo man auf Klima-Leugner:innen trifft. Daher musste ich es natürlich lesen!

Gleich am Beginn zur wichtigsten Frage: Kann das Buch wirklich alle Versprechen halten, das es auf den ersten Seiten macht? Nicht ganz! Aber ist es trotzdem eine lesenswerte Lektüre? Definitiv! Prof. Mark Maslin hat ein Sachbuch vorgelegt, das sich an (fast) alle wendet. Für wen das Thema noch komplettes Neuland ist, der:die wird langsam an das Problem herangeführt, aber auch wer sich schon etwas besser auskennt, kann hier noch einiges dazulernen. Zuerst wird kurz auf die Menschheitsgeschichte eingegangen und erklärt, wie wir überhaupt an den Punkt gelangt sind, an dem wir heute (leider) stehen (stellenweise ganz schön deprimierend, da fragt man sich schon, ob wir unseren bevorstehenden Untergang nicht vielleicht sogar verdient haben). Danach wird über die Gegenwart gesprochen und es wird uns gezeigt, wie unsere Zukunft aussehen könnte, wenn wir uns a) ab jetzt für das Klima einsetzen (friedlich, positiv, gerechter, lebenswert) oder wenn wir weiterhin b) so gut wie nichts tun (dystopisch, schlecht, das wollen wir nicht erleben, glaubt mir!).

Auch die beliebtesten Argumente der Klimawandel-Leugner:innen werden faktenbasiert widerlegt – was ich sehr praktisch und nützlich für den Alltag finde. Am Ende – und dieser Teil hat mir am allerbesten gefallen – sagt uns Mark Maslin noch ganz konkret, was unsere nächsten Schritte sein sollten und wie jede:r von uns etwas zu einer klimafreundlicheren Zukunft beitragen kann. Hier habe ich am meisten für mich mitnehmen können – endlich wurden mir nämlich die größeren Zusammenhänge klar und ich fühle mich jetzt viel kompetenter im Umgang mit der Krise. Damit hat Prof. Mark Maslin doch schon sehr viel erreicht!

Nicht so gut gefallen hat mir hingegen, dass sich das Buch – obwohl es wirklich sehr kurz ist und alles Unwichtige weglässt – trotz aller Versprechungen am Ende wiederholt, was ich etwas anstrengend fand. Stören könnte manche von euch auch, dass man nicht so richtig in einen Lesefluss kommt, weil der Schreibstil sehr nüchtern und die Absätze sehr kurz sind (manchmal nur ein prägnanter Satz). Dementsprechend bleibt auch das vermittelte Wissen eher an der Oberfläche (es geht eher darum, sich einen Überblick über das Thema zu verschaffen), was zumindest mir aber bei einem so kurzen und knackigen Buch von Anfang an klar war. Gewünscht hätte ich mir bei einem Werk, das sich so für eine fairere, gerechtere Zukunft einsetzt, allerdings schon, dass gegendert wird und so alle Geschlechter sichtbar gemacht werden, Herr Prof. Maslin! Bitte dann beim nächsten Buch!

Insgesamt überwiegen für mich jedenfalls eindeutig die Stärken – das ist mir besonders im Nachhinein klar geworden, weil ich gemerkt habe, dass ich immer wieder an die Lektüre zurückdenke, wenn ich zum Beispiel Nachrichten über den Klimawandel höre. Allerdings lösen das aktuelle Nichtstun der Politik und die negativen Berichte über Klimaaktivist:innen nun bei mir beim noch mehr Stress, Wut und Frust aus als vorher – aber das ist wohl der Preis, den man als „Wissende“ zahlt (ich zahle ihn gerne, denn was ist die Alternative?). Aus diesem Grund empfehle ich euch das Buch gerne weiter – besonders wenn auch ihr in einer Schule arbeitet oder Klimaleugner:innen in eurem Bekannten-, Freundes- oder sogar Familienkreis habt!

Mein Fazit

Wer (wie ich vorher) das Gefühl hat, beim Thema „Klimawandel“ nur lückenhaftes Wissen zu besitzen, wer sich gerne einen Überblick verschaffen und die größeren Zusammenhänge verstehen würde, wer nach einem wissenschaftlich fundierten Sachbuch ohne nerviges „Blabla“ sucht, wer im Bildungsbereich arbeitet, wem beim Argumentieren mit Klimaleugner_innen schnell die Argumente ausgehen, wer gerne ETWAS tun würde, aber nicht so recht weiß, wie und was und wo anfangen – euch allen kann ich „Erste Hilfe für die Erde“ nur wärmstens ans Herz legen! Dieses kurze und knackige Sachbuch wird euch mit wertvollem Wissen, Diskussionswerkzeugen, einer Vision und konkreten Handlungsvorschlägen versorgen, sodass ihr euch am Ende nicht nur informierter, kompetenter und motivierter im Umgang mit der Krise fühlen werdet, sondern – und das ist ganz wichtig – auch irgendwie hoffnungsvoller, dass wir es doch noch schaffen können.

Bewertung

Einstieg: 4 Lilien
Inhalt: 4 Lilien
Verständlichkeit: 5 Lilien ♥
Schreibstil: 4 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 3 Lilien
Insgesamt:

❀❀❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier zufriedene Sterne!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.02.2023

Achtung: Nur BEDINGT als Schullektüre geeignet (Sexismus, Male Gaze, schädliche Geschlechterstereotype)!

Rico, Oskar und die Tieferschatten (Rico und Oskar 1)
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Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Ein Junge, der sich selbst als „tiefbegabt“ bezeichnet, sucht auf eigene Faust nach seinem verschwundenen Freund, weil er glaubt, dass dieser vom berüchtigten Kindesentführer ...

Spoilerfreie Rezension!

Inhalt

Ein Junge, der sich selbst als „tiefbegabt“ bezeichnet, sucht auf eigene Faust nach seinem verschwundenen Freund, weil er glaubt, dass dieser vom berüchtigten Kindesentführer „Mister 2000“ gekidnappt wurde.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1/4
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präteritum
Perspektive: männliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang

Tiere im Buch: + Im Buch werden keine Tiere verletzt, gequält oder getötet.
Inhaltswarnung: Sexismus, Sexualisierung von Frauen, Krankheit, Tod, Gewalt gegen Kinder
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): nicht bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: ---

Rezension

„In meinem Kopf geht es manchmal so durcheinander wie in einer Bingotrommel.“ Seite 11

„Rico, Oskar und die Tieferschatten“ ist im Jahr 2008 erschienen, wurde mit dem Jugendliteraturpreis ausgezeichnet und gilt als beliebte. Meine Erwartungen an dieses Buch waren daher dementsprechend hoch.

Doch ist dieses Buch, das für Kinder ab 10 Jahren empfohlen wird, wirklich die perfekte Klassenlektüre und hält auch einer feministischen Analyse stand? Kurz und knapp: Nein! Leider ist dieses Buch voller Male Gaze, objektifiziert und sexualisiert Frauen, verharmlost ganz nebenbei Prostitution und enthält Bodyshaming. So erklärt zum Beispiel die Mutter des Protagonisten, wenn ihre Brüste mal zu „Hängemöpsen“ würden, dann gebe es einfach neue (= Schönheitsoperation) – und sind das nicht genau die toxischen Schönheitsideale und Körperbilder, die wir unseren Kindern (besonders den Mädchen) in diesem Alter vermitteln wollen? Genau so mag ich meine preisgekönte Schullektüre – NICHT! Wie kann man in der heutigen Zeit so etwas ernsthaft noch publizieren? Gab es da niemanden im gesamten Veröffentlichungsprozess beim Verlag, der gesagt hat: Diese 5 Stellen sind nicht mehr zeitgemäß, die streichen wir raus? Es macht mich ziemlich wütend, wenn gerade Kinderbuchautorinnen (deren Publikum sehr einfach zu beeinflussen ist) für das Thema überhaupt kein Bewusstsein haben, ja, sich scheinbar überhaupt noch nie damit beschäftigt haben und dann munter wie Elefanten im Porzellanladen schädliche Stereotype reproduzieren. Das geht einfach nicht! Gerade von Kinderbuch-Autor:innen und -verlagen erwarte ich hier mehr!

Das Schlimme ist Folgendes: Von den schädlichen Geschlechterstereotypen, den wenigen weiblichen Figuren und dem Sexismus mal abgesehen, ist dieses Buch RICHTIG gut. Deshalb bin ich gleich doppelt enttäuscht. Wir bekommen hier nämlich einen spannenden Kinderkrimi serviert, der in einem angenehmen, kindgemäßen und trotzdem nicht zu einfachen Schreibstil geschrieben ist und nicht nur liebenswürdige, komplexe Außenseiter-Figuren, sondern auch humorvolle Dialoge und wichtige Botschaften enthält. Auch die behandelten Themen (Anderssein, Freundschaft, Zusammenhalt, Familie, Mut) und die authentische Beschreibung des Settings (in Wirklichkeit ist dieses Buch eine Berliner Milieustudie) haben mich auf ganzer Linie überzeugt. Die Geschichte ist auch bei meiner Klasse sehr gut angekommen, manche lesen nun sogar in ihrer Freizeit die Fortsetzung.

Mein Fazit

Mein Fazit ist deshalb: Man kann dieses Buch durchaus noch als Schullektüre lesen, aber NUR wenn man die problematischen Stellen ordentlich begleitet, die Kinder darauf aufmerksam macht und sie kritisiert bzw. den toxischen Gedankengängen etwas entgegensetzt. In diesem Falle (auch ich habe es genau so gemacht) kann ich das Buch weiterempfehlen und vergebe 4 Sterne. Da ich aber weiß, dass die wenigsten Lehrpersonen in diesem Bereich so viel Bewusstsein für die Problematik haben, gibt es von mir keine generelle Empfehlung. Bitte weicht in diesem Fall auf zeitgemäßere, modernere Autor
innen aus!

Bewertung

Cover / Aufmachung: 2 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 4 Sterne
Ende: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne
Protagonist: 5 Sterne
Figuren: 5 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Wendungen: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: 1 Stern (!)
Einzigartigkeit: 4 Sterne

Insgesamt:

❀❀❀❀ Sterne

Dieses Buch bekommt von mir vier Sterne!

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  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere