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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.04.2023

Feinfühliger Coming-of-Age-Roman

Mein Sommer mit Anja
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Steffen Schroeder ist als Schauspieler bekannt, aber er beweist mit dem Buch „Mein Sommer mit Anja“ auch sein schriftstellerisches Talent. Drei Teenager, die unterschiedlicher nicht sein könnten, halten ...

Steffen Schroeder ist als Schauspieler bekannt, aber er beweist mit dem Buch „Mein Sommer mit Anja“ auch sein schriftstellerisches Talent. Drei Teenager, die unterschiedlicher nicht sein könnten, halten viel Potenzial für diese Story bereit. Konni, der Protagonist, aus dessen Erzählperspektive die Geschichte geschrieben ist, ist mit Holger befreundet. Holger ist gehandicapt, besonders liebenswert und rettet an so mancher Stelle die Story. Und sie beide treffen auf Anja, ein aus dem Heim geflohenes Mädchen. Erzählt wird der Sommer mit Anja, in dem Konni zwölf Jahre alt ist, mitten in den 80ern.
Steffen Schroeder erzählt ganz besonders feinfühlig und sensibel, wie sich Teenager annähern, welche Besonderheiten die 80er Jahre für das Erwachsenwerden boten. Unverblümte und ungehemmte reale Schilderungen vom damaligen Verständnis der Integration behinderter Menschen bereichern diesen Roman und machen ihn zu einer authentischen Sequenz aus dem Leben der Kinder der 80er Jahre. Der Schreibstil ist flüssig und fesselnd, die Worte glaubhaft.
Ich gebe eine klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 04.04.2023

Schwermütige Geschichte zwischen Schein und Sein

Melody
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Martin Suter zieht mich mit diesem Buch in den Bann, so dass ich nicht aufhören konnte zu folgen und zu blättern und zu rätseln und mitzuerleben.

Der Nationalrat Dr. Stotz stellt Tom Elmer als Verwalter ...

Martin Suter zieht mich mit diesem Buch in den Bann, so dass ich nicht aufhören konnte zu folgen und zu blättern und zu rätseln und mitzuerleben.

Der Nationalrat Dr. Stotz stellt Tom Elmer als Verwalter seines Nachlasses ein, denn Stotz‘ Leben neigt sich dem Ende. Bei ihm im Haus wohnend hantiert Tom mit Bergen von Papieren und Kisten, ist beauftragt zu schreddern oder für die Nachwelt zu sortieren. Stotz, dem Alkohol gut zugetan, erzählt Tom redselig eine tragische Liebesgeschichte. Seine Verlobte Melody sei drei Tage vor der Hochzeit verschwunden. Überwunden hat er diese Frau nie, das Haus vom Kult um diese Frau gezeichnet. Tom begibt sich auf die Suche. Es entspinnt sich eine Geschichte zwischen Schein und Sein, zwischen Wahrheit und Fiktion. Stotz’ Nichte Laura fragt „Sind Geschichten nicht immer erfunden? Spielt es eine Rolle, ob sie Wahrheit oder Fiktion sind?“ Tom antwortet „… Für Juristen ist Fiktion der natürliche Feind der Wahrheit.“ - „Bist du sicher?“ - „Nein.“

Die Charaktere wie bspw. der befreundete Schriftsteller Bruno oder die Nichte Laura sind glaubwürdig, authentisch und ungeschönt. Martin Suter zeichnet mit Sprache plastische Bilder, die schwermütige Stimmung in Stotz‘ Villa und das Bedürfnis, in die Szenerie einzutauchen. Situationen vor dem Kamin oder beim Dinner mit Haushälterin und Pflegerin saugen beim Lesen so ein, dass ich das Buch in einem Rutsch gelesen habe. Es wirkt nach, so wie jeder Suter nachwirkt.

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Veröffentlicht am 01.04.2023

Wie Krieg, Politik und Staatsgewalt ein Leben beeinflussen

Morgen und für immer
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„Morgen und für immer“ ist ein entscheidender Ausspruch, der in zwei bedeutsamen Situationen in diesem Buch geäußert wird. Es sind letzten Worte seines Großvaters, die dem Protagonisten Kajan lebensweisend ...

„Morgen und für immer“ ist ein entscheidender Ausspruch, der in zwei bedeutsamen Situationen in diesem Buch geäußert wird. Es sind letzten Worte seines Großvaters, die dem Protagonisten Kajan lebensweisend sein sollen und die er dann am Ende des Buches in Hoffnung auf eine neue Zeit wieder ausspricht. Was dazwischen passiert, ist wendungsreich, aufregend, bewegend, berührend, tragisch, zum Teil kaum zu ertragen und vor allem spannend zu lesen.

Das Buch verarbeitet einen Teil der albanischen Geschichte in Form der autobiographischen Lebensgeschichte von Kajan Dervishi. Dessen Eltern kämpfen im Zweiten Weltkrieg als Partisanen, während Kajan mit seinem Opa in den albanischen Bergen wohnt, wo ein deutscher Deserteur auftaucht. Er kommt bei ihnen unter und bringt Kajan das Klavierspielen bei. Später wird Kajan Pianist und Klavierlehrer in Tirana, wo er seine große Liebe Elisabeta kennenlernt. Eine ereignisreiche Odyssee in die DDR, nach Amerika und von dort zurück nach Albanien werden erzählt als Agententhriller, Leidensbiographie, Familien- und Liebesgeschichte sowie als historischer Roman. Die Grausamkeit des albanischen Regimes - insbesondere durch eine Person ausgelebt - bleiben auch nach dem Lesen im Kopf.

Durch den flüssigen Schreibstil, die plastische und authentische Schilderung der Ereignisse nimmt das Buch von der ersten Seite an mit und fesselt die lesende Person. Die Geschichte geht unter die Haut und bleibt im Kopf. Klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Von der Tragik des Übersehenwerdens

Unsichtbar
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„Und der Montag bricht an für einen Jungen, der keine Lust hat, in die Schule zu gehen. Er sieht aus dem Fenster und wünscht sich, es würde so viel schneien, dass er nicht hinausgehen kann, es würde so ...

„Und der Montag bricht an für einen Jungen, der keine Lust hat, in die Schule zu gehen. Er sieht aus dem Fenster und wünscht sich, es würde so viel schneien, dass er nicht hinausgehen kann, es würde so heftig regnen, als käme das Meer direkt bis vor die Tür, es wäre so kalt, dass sogar seine Ängste einfrieren… Aber vergeblich. Die Sonne scheint.“ Unaufgeregt, nüchtern und leise erzählt Eloy Moreno die Geschichte eines namenlosen Jungen, die als Gesamtwerk zu schreien scheint. Das Buch bewegt zutiefst und ist mehr als eine Story über Mobbingopfer. Es ist ein tragisches Zeugnis über den Schmerz betroffener Seelen und ein Plädoyer für mehr Courage, Hinsehen und Handeln gegen die Unsichtbarkeit.

Die Handlung des Buches ist zunächst schwierig zu fassen, puzzelt sich dann im Laufe der kurzweiligen Kapitel zusammen. Ein Junge hatte einen Unfall, gelangt in psychologische Behandlung. Dort fällt auf, er ist absolut überzeugt davon, unsichtbar zu sein wie ein Comicheld. Erzählt wird dann das kindliche Erleben in der Schule, offensichtlich vor dem Unfall. Der Junge sagt NEIN zum Abschreiben, wird zunehmend durch Mitschüler gedemütigt, so dass er sich fühlt als hätte er „einen Igel verschluckt“ oder „ein Elefant würde auf der Brust rumtrampeln“. Die Demütigungen sind so schmerzhaft, dass sie unaushaltbar scheinen. Um überleben, ertragen und verstehen zu können, was ihm geschieht, verschmelzen die Realität der Geschehnisse mit der Fantasiewelt der Comichelden und deren Superkräften. Unter Wasser atmen zu können oder Superpower in der Faust zu haben und eben unsichtbar zu sein. Täter sind die Monster, Helfende die Drachen und die Superkräfte. Diese sind so wirksam wie im Comic, während in der Realität nur die Schwester Luna und eine ehemals selbst zum Mobbingopfer gewordene Lehrerin Kraft geben. So wird deutlich, dass Täter nicht nur der Drahtzieher MM ist, sondern auch Duldung, Hinwegsehen, Übersehen eine lange Liste von Mittätern und Mitläufern produziert. Der Junge sammelt solch eine ganze Liste von Personen und Situationen, die er als Beleg nutzt, warum Unsichtbarkeit die einzige Erklärung für seine Erlebenswelt ist.

Das Buch hat einen flüssigen Schreibstil, kurze Kapitel und liest sich in einem Ritt durch. Durch den Wechsel der Erzählperspektive wird die Sicht der Realität und die der Überlebensstrategie Fantasie geschickt schriftstellerisch nebeneinander gestellt. Der kunstvoll neutrale und schnörkellose Stil trägt nicht wenig dazu bei, die verstörenden Schilderungen so in ein tragisches Licht zu stellen, dass mir beim Lesen ein fetter Kloß im Hals sitzt. Ich verstehe plötzlich selbst, dass Unsichtbarkeit erklärt, warum zu Hause „keiner merkt, dass in seinem Körper keine Freude mehr ist, dass in seinem Gesicht nur noch gezwungen gelächelt wird, dass seine Augen fast immer ins Leere blicken.“

Das Buch sollte zur Pflichtlektüre an Schulen werden, weil es den Perspektivwechsel für die Überseher, Wegseher, Hindurchseher ermöglicht. Es kann das Thema Mobbing und die verbreitete Strategie des Übergehens, die zur Unsichtbarkeit führt, thematisieren helfen. Ein verbreitetes Problem, das alle angeht und unbedingt ins Zentrum der Gesellschaft gehört.

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Veröffentlicht am 21.02.2023

Toxische Frauendynastie, deren Darstellung mich fasziniert

Männer sterben bei uns nicht
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Vorweg sei bemerkt, dieses Buch habe ich zweimal gelesen, bevor ich es einschätzen kann. Angetrieben durch eine magische Fesselung an die bedrückende Stimmung, welche der Roman bei mir zurück ließ, blätterte ...

Vorweg sei bemerkt, dieses Buch habe ich zweimal gelesen, bevor ich es einschätzen kann. Angetrieben durch eine magische Fesselung an die bedrückende Stimmung, welche der Roman bei mir zurück ließ, blätterte ich sofort von Seite 204 zurück zum Anfang und begann erneut suchend zu lesen. Ich wollte besser verstehen, aufklären oder erfassen, konnte dies jedoch nur begrenzt. Nun blicke ich mit einem Kloß im Bauch auf eine latent paternalistische Beziehungskultur, toxische Weiblichkeit und verborgene Misandrie, die Annika Reich in ihrem Buch „Männer sterben bei uns nicht“ konstruiert.

Luise ist in den Dreißigern, als ihre Großmutter stirbt. Anlässlich der Beerdigung treffen sich die Frauen wieder, die man gemeinhin als Verwandtschaft bezeichnen würde, die Großmutter geringschätzte und gar aussortierte. In Rückblenden, die jeweils einen Ankerpunkt im angrenzenden Kapitel haben, schildert Luise Bruchstücke ihrer Erinnerungen und Beziehungen. Dazu gehört immer wieder die Erwähnung, Luise habe als Kind zweimal eine tote Frau im angrenzenden See gefunden. Ebenso wird immer wieder deutlich, dass Luise in der großmütterlichen Dynastie bevorteilt und das Anwesen erben wird. Dieses Anwesen prägt Großmutters Wesen, ihr Handeln und Steuern. Sie wird zusammen mit dem Anwesen zum Kern der Familie, eher einer Dynastie von Frauen. Eine „Großmutter“, für die „das Wahren der Form immer die Lösung für alles gewesen ist - Beziehungen, Stil, Gartengestaltung, Vergangenheitsbewältigung.“ Das führt dazu, dass in dieser Familie Gefühle vermieden werden, sie einsam machen, besiegt oder verkleidet oder betäubt werden müssen. Jede hat ihre Strategie, mit Großmutters Geringschätzung umzugehen. Männer werden frühzeitig entfernt, ignoriert oder sie fliehen, finden nur - wenn überhaupt - in Erinnerungen Platz, werden aber zum Schein von Großmutter immer mitgedacht. Zum Sterben und damit zu einem wirklich wichtigen Beitrag zur Welt, kommt es nur bei Frauen.

Das Buch ist in einem kunstvollen Stil geschrieben, der poetisch und zum Teil malerisch durch einen eher schwachen Plot führt. Es wird ein Schmetterling verscheucht wie eine schlechte Idee, Häuser schweigen und die Familie muss getrimmt werden wie ein Japanischer Garten. Solch anmutige stilistische Mittel, Allegorien und Metaphern nehmen mich mit der latent bedrückenden Stimmung in einen Bann.

Ich gebe eine Leseempfehlung für Freundinnen und Freunde poetischer Sprache, die sich gern in Stimmungen hingeben und auch mit offenen Fragen zurückbleiben können.

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