Sprachlich überzeugende, eindringliche Einblicke in Obsession und Depression
Idol in Flammen Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
Für die psychisch kranke Schülerin Akari ist ihr J-Pop-Idol Masaki ihr einziger Lebensinhalt – alles, was zählt. In über 20 Ordnern hat sie feinsäuberlich alles transkribiert, ...
Spoilerfreie Rezension!
Inhalt
Für die psychisch kranke Schülerin Akari ist ihr J-Pop-Idol Masaki ihr einziger Lebensinhalt – alles, was zählt. In über 20 Ordnern hat sie feinsäuberlich alles transkribiert, was der Sänger je gesagt hat – der Rest ihres Zimmers versinkt im Chaos. Als plötzlich berichtet wird, dass Masaki einen Fan geschlagen haben soll, bricht für sie eine Welt zusammmen…
Übersicht
Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählweise: Ich-Erzählweise, Präsens
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: keine Kapitel, durchgehender Text
Inhaltswarnung: Gewalt gegen Kinder, psychische Krankheiten, Depression, Suizidgedanken, Obsession, Messie-Syndrom, toxische Eltern-Kind-Beziehung, Essstörung, sich übergehen, Leistungsdruck
Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: --- ♥
Diese Geschichte solltest du lesen, wenn dir folgende Themen/Dinge in Büchern gut gefallen (dieser Abschnitt ist inspiriert von @sassthxtic auf Lovelybooks):
- psychische Erkrankungen im Fokus
- Schulsetting
- ruhige Bücher
- deprimierende Grundstimmung
- Fankultur
- J-Pop
- soziale Medien
- Leistungsdruck
- toxische Eltern-Kind-Beziehung
Meine Rezension
„Mein Idol steht in Flammen. Er soll einen Fan geschlagen haben. Noch ist kein einziges Detail bekannt.“ E-Book, Position 22
Bei „Idol in Flammen“ hat mich vor allem das erfrischend andere Thema interessiert, über das ich noch nie zuvor ein Buch gelesen hatte. Als Jugendliche war ich selbst ein großer Fan von Bands wie „Mumford & Sons“ und „Panic! at the Disco“ – die obsessive Fanliebe vieler K-Pop-Fans konnte ich trotzdem nie richtig nachvollziehen. Von Rin Usami erhoffte ich mir daher einen Einblick in eine fremde Welt.
Doch konnte mich dieser Roman in Novellenlänge (unter 130 Seiten) denn überzeugen? Hier kann ich euch versichern: Ja, das konnte er – auch wenn er stellenweise ganz anders war als erwartet. Denn: Es gibt sie zwar, diese Einblicke in die obsessive Fankultur – Akaris J-Pop-Idol ist der Mittelpunkt ihres Lebens (oder „ihre Wirbelsäule“, wie sie es ausdrückt). Das zeigt sich folgendermaßen: In über 20 Ordnern hat sie feinsäuberlich alles transkribiert, was ihr großes Vorbild je gesagt hat. Auf einem Blog analysiert sie jeden seiner Auftritte im Detail. Sie überlegt sogar, aus seiner Handschrift eine neue Schriftart zu kreieren. Jede DVD von ihm kauft sie sich dreimal, ihr ganzes Geld, das sie mit ihrem Nebenjob verdient, investiert sie in Fanartikel und CDs – und in der Zeitung liest sie nicht einmal ihr eigenes Horoskop, sondern das von Masaki. Ihre ganze Existenz ist auf ihr Idol ausgerichtet, beruht praktisch darauf.
„Ich finde es nicht richtig, nur verheiratet zu sein, wenn es gerade gut läuft, und so halte ich es auch mit meinem Dasein als Fan, also tippe ich:
Doch das alles ist eben nur die eine Hälfte des Buches, denn Akari ist auch: psychisch krank. Was genau sie hat, wird nicht näher thematisiert, nur dass es zwei Diagnosen gibt, dass sie ihre Medikamente abgesetzt hat und Termine mit Psychotherapeut:innen schwänzt, weiß man. Ihr Zimmer versinkt im Chaos, ihre schulischen Leistungen sind im Keller, ihre Mutter gibt ihr ständig das Gefühl, dass sie eine Belastung und Versagerin ist und nie genug sein wird. Masaki ist demnach das Einzige in ihrem Leben, das Akari Sinn, Kraft und Antrieb gibt. Deshalb bricht auch ihre Welt zusammen, als ein Shitstorm über ihm niedergeht und berichtet wird, dass er angeblich einen Fan geschlagen haben soll. Obwohl ich nur 2 Tage an diesem Roman gelesen habe, hat er mich nicht kaltgelassen, sondern mich richtig runtergezogen und deprimiert. Man fiebert mit Akari mit, wenn es zum Beispiel um die Beliebtheitswahl geht, aber man durchlebt mit ihr eben auch diese Abwärtspirale, in der sie sich befindet. Wer sich psychisch gerade nicht stabil fühlt, sollte dieses Buch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Auch als Lektüre für den Urlaub kann ich es nicht empfehlen, weil es das Potential und die Macht hat, euch nachhaltig die Stimmung zu ruinieren. Für mich selbst war es jedenfalls eine Erleichterung, als ich die letzte Seite umgeblättert hatte und mich wieder anderen, fröhlicheren Lektüren zuwenden konnte.
„Sie wechselt ihre Gesichtsausdrücke wie Emojis und spricht nur in knappen Sätzen. Bei ihr wirkt das nicht falsch oder aufgesetzt, vermutlich will sie sich selbst bloß so stark wie möglich vereinfachen.“ E-Book, Position 38
Ansonsten hat mir „Idol in Flammen“ von Rin Usami, die 2020 mit nur 21 Jahren in Japan den rennomierten Akutagawa-Literaturpreis als jüngste Preisträgerin der Geschichte (!) gewann, aber wirklich gut gefallen. Ich mochte den einfachen Schreibstil mit den kreativen Metaphern (ich habe mir viele schöne Stellen rausgeschrieben!) und den seltsamen Beobachtungen, ich mochte es, dass ernste Themen wie Leistungsdruck, Depression, das Leben in einer toxischen Familie, Fankultur und Obsession relativ tiefgründig behandelt werden, und auch die beklemmende, lähmende Atmosphäre, die beim Lesen durch Akaris von Passivität geprägtes Leben aufkommt, hat mich überzeugt. Zudem war mir die Protagonistin sympathisch, ich konnte mich gut in sie hineinversetzen und mit ihr mitfühlen, ihr Verhalten war für mich nachvollziehbar. Aus feministischer Sicht gibt es ebenfalls nur Kleinigkeiten auszusetzen (wie z. B., dass man ausschließlich Männer in Führungspositionen antrifft), ansonsten überzeugt das Buch mit seinem „Female Gaze“ (dt. weiblichem Blick) und den vielfältigen, starken Frauenfiguren.
„Beim Schwimmen ist mir das nie aufgefallen, aber vom Rand aus wirkt das Wasser, das über dem gefliesten Wasser Wellen schlägt, irgendwie schleimig. Nicht Schmutz oder Sonnencreme, sondern etwas Abstrakteres, Fleischähnliches scheint sich darin aufzulösen.“ E-Book, Position 59
Doch warum ist „Idol in Flammen“ trotzdem kein Lieblingsbuch geworden? Das liegt vor allem daran, dass sich der Mittelteil streckenweise etwas gezogen hat. Es passiert einfach zu wenig, es gibt dort einen gewissen handlungstechnischen und das Tempo betreffenden Stillstand. Fans ruhiger Bücher wird das nicht stören, aber mir war das nicht genug Spannung. Dass viele Dinge auch offen bleiben und man als Leser:in genauso wenige Antworten wie Akari auf drängende Fragen bekommt, ist zwar realistisch, aber ließ mich auch unbefriedigt zurück. Bei den Nebencharakteren hätte ich mir zudem eine etwas tiefergehende Figurenzeichnung und mehr Farbe gewünscht. Das Ende wird polarisieren – ich selbst fand es etwas inkonsequent, aber ich kann damit leben.
Mein Fazit
„Idol in Flammen“ ist ein Roman, der interessante und tiefgründige Einblicke in obsessive Fankulturen und den Alltag mit einer unbehandelten psychischen Krankheit gibt. Sprachlich und thematisch hat er mir wirklich gut gefallen. Nicht unterschätzen sollte man hier allerdings, wie negativ sich diese Geschichte aufs Gemüt schlagen kann. Durch den Mangel an Spannung und Tempo im Mittelteil ist das Buch hauptsächlich etwas für Liebhaber:innen ruhiger Geschichten mit einem Fokus auf das Innenleben der Figuren. Für mich ist „Idol in Flammen“ ein Roman, den man durchaus lesen kann, den man aber nicht unbedingt gelesen haben muss.
Bewertung
Cover / Aufmachung: 4 Sterne
Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Sterne
Umsetzung: 4 Sterne
Worldbuilding: 4 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Ende: 4 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 4 Sterne
Figuren: 3 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Tempo: 3 Sterne
Wendungen: 3 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: 4 Sterne
Einzigartigkeit: 4 Sterne
Insgesamt:
☆★☆★ Sterne
Dieses Buch bekommt von mir vier Sterne!