Ein raffiniertes, stilistisch grandios gewebtes Geschichtennetz
In „Hotel Shanghai“ entwirft Vicki Baum ein beeindruckend vielschichtiges Netz von Schicksalen, die nach und nach ineinandergreifen und auf ihr gemeinsames Verderben in der Schlacht um Shanghai zutaumeln. ...
In „Hotel Shanghai“ entwirft Vicki Baum ein beeindruckend vielschichtiges Netz von Schicksalen, die nach und nach ineinandergreifen und auf ihr gemeinsames Verderben in der Schlacht um Shanghai zutaumeln. In der ersten Hälfte lernen wir die Vorgeschichte der einzelnen Protagonisten kennen, nicht als unmittelbarer Zeuge der Handlung, sondern wie ein Leser eines Berichts. Es ist mutig, mehrere hundert Seiten auf diese Art – die leicht steril und leblos wirken könnte – und mit stetig wechselnden Schicksalen zu füllen, aber es funktioniert. Das liegt vor allem an Vicki Baums herrlichen Umgang mit Sprache und ihrem Talent für psychologisch feine Charakterentwicklung. Mühelos führt sie uns von China ins Deutsche Reich des späten 19. Jahrhunderts, bis zur Nazizeit und dem Exil, wechselt danach elegant ins Leben russischer Flüchtlinge nach der Revolution und zur englischen Aristokratie, bevor wir uns im Mittelklasse-Amerika finden und zurück nach Asien reisen. Wie die Autorin das jeweilige Umfeld, sowohl geographisch wie auch gesellschaftlich, einfangen kann, wie informations- und farbreich sie es jeweils darstellt, ist absolut bewunderungswürdig. Auch füllt sie die Lebensberichte trotz nüchterner Erzählweise mit so viel Gefühl und Bewegendem, daß ich sie größtenteils geradezu verschlungen habe.
Im zweiten Teil begegnen wir diesen sehr unterschiedlichen Protagonisten im Shanghai des Jahres 1937 und die Erzählweise wechselt vom Berichtartigen zum direkten Geschehen. Wir begleiten die Charaktere auf ihren jeweiligen Erlebnissen und finden auch hier wieder eine bemerkenswerte Vielfalt, während sich die einzelnen Wege immer mehr annähern. Nicht alles ist interessant, es gibt durchaus viele langatmige Passagen, in der Mitte des Buches verlor ich die Leselust vorübergehend, weil das Zusammenführen einiger Charaktere ohne wirkliche Substanz geschah und sich zäh hinzog. Auch gibt es viele trockene, geschichtsbuchartige Passagen, die so voller Informationen sind, daß man als Leser zu überwältigt ist, um diese vollends aufzunehmen, und die für einen Roman schlichtweg zu lang und sachlich sind. Zum Ende hin war ich von den Geschehnissen aber wieder gebannt und fand hier auch erneut die psychologische Finesse, die ich so genoss. Man weiß um den tragischen Ausgang der Geschichte, denn er wird schon am Anfang erwähnt, und so liest man atemlos, während das Grollen der Geschütze immer lauter, das Verhalten in Stadt und Hotel immer fiebriger wird. Das Ende wirkt dann gerade in seiner Knappheit fulminant. „Hotel Shanghai“ ist ein so reichhaltiges Panorama, wie man es wohl selten in einem Roman findet, so kunstvoll gewebt und erzählt, daß man voller Berührung und auch Bewunderung für eine solche schriftstellerische Leistung ist.