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Veröffentlicht am 22.05.2023

Porträt einer Schwarzen Frau

Maud Martha
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In 34 Kapiteln, die kleine Momentaufnahmen sind, gewährt uns Brooks einen Einblick in das Leben Maud Marthas. Es gibt auf den 140 Seiten keine zusammenhängende Handlung, die einen mitreißen würde, dennoch ...

In 34 Kapiteln, die kleine Momentaufnahmen sind, gewährt uns Brooks einen Einblick in das Leben Maud Marthas. Es gibt auf den 140 Seiten keine zusammenhängende Handlung, die einen mitreißen würde, dennoch schafft sie es, diese Fragmente zu einem Gesamtbild werden zu lassen.
Maud Martha, geb. 1917, entstammt einfachsten Verhältnissen und wächst in der South Side Chicagos auf. Die liebt Bücher, Schokolinsen und Löwenzahn.

»Gelbe Alltagsedelsteine, mit denen das geflickte Kleid ihres Hinterhofs verziert war.« S.7

Sie träumte von New York, denn was sie träumte, ging niemanden etwas an. Doch das Leben als Schwarze Frau in den 20ern bis 40ern war geprägt von Diskriminierung und Ghettoisierung. Sie hadert mit der tiefen dunklen Farbe ihrer Haut. Selbst ihr Mann würde sie nicht hübsch nennen, für ihn wäre »ein kleines cremefarbenes Ding mit krausen Haaren« hübsch. Und obwohl er von einer großartigen Wohnung träumt, reicht es nur für eine Kitchenette – eine winzige, möblierte Einheit mit Küchenzeile.
Von all diesen Dingen erzählt uns die Protagonistin, die ihre sie umgebende Welt als grau bezeichnet, sich damit arrangiert, sich nicht desillusionieren lässt und ihre Würde bewahrt. Es geht um Anstand und Selbstbestimmung, auch wenn das von der Gesellschaft für Menschen wie sie nicht vorgesehen ist. Der Alltagsrassismus ist auf jeder Seite gegenwärtig.
Es ist ein leises, aber intensives Buch, das eine enorme Kraft entwickelt. Mal humorvoll, dann nachdenklich, poetisch und sehr berührend. Ich freu mich, dass es im Manesse Verlag erstmalige auf Deutsch erschienen ist, und habe es sehr gern gelesen.
Brooks hat es 1953 geschrieben, drei Jahre nachdem sie als erste Schwarze Frau den Pulitzer Preis für Lyrik bekommen hat. Und doch blieb ihr zu Lebzeiten die große Anerkennung versagt. Mehr über die Autorin und ihr autofiktionales Werk erfahren wir in einem Nachwort von Daniel Schreiber.

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Veröffentlicht am 18.05.2023

Ein tragisch komisches irisches Märchen

Der Freund der Toten
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»Wenn die Toten versuchen, sich an etwas zu erinnern, bemühen sich die Lebenden umso mehr, es zu vergessen, das ist eine allgemein uneingestandene Wahrheit.« S. 200

Das Buch spielt überwiegend 1976 in ...

»Wenn die Toten versuchen, sich an etwas zu erinnern, bemühen sich die Lebenden umso mehr, es zu vergessen, das ist eine allgemein uneingestandene Wahrheit.« S. 200

Das Buch spielt überwiegend 1976 in dem irischen Dorf Mulderrig, in dem Fremde nicht willkommen sind. Das spürt auch der Hippie und Gelegenheitsdieb Mahony, der als junger Mann an seinen Geburtsort zurückkehrt. Er ist überzeugt, dass seine Mutter Orla hier umgebracht wurde, und will den Täter finden.
Dass sie auf grausame Weise 1956 getötet wurde, erfahren wir bereits im Prolog. Und Kidd zeichnet das kurze, harte Leben der jungen Orla in einigen Rückblicken nach.
Mahony stiftet mit seiner Ankunft reichlich Verwirrung. Jeder erkennt in ihm sofort Orlas Sohn, die Frauen verlieben sich in ihn, die anderen werden an ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit erinnert und setzen alles daran, ihn loszuwerden. Und genau wie seine Mutter kann Mahony mit den Toten reden.

Mit ihrem Debüt schafft Kidd ein düsteres, atmosphärisches gleichzeitig aber auch köstlich amüsantes Buch, in dem es um die Suche nach Herkunft, Zugehörigkeit, Liebe und Schuld geht. Ihr Schreibstil ist das, was mir zuallererst auffiel, teil poetisch, voller einmaliger Bilder, dass man sich gern Zitate aufschreiben möchte, dann wieder schnoddrig und derb. Aber genauso originell sind ihre Charaktere, allesamt skurril, einmalig und mehr oder wenig sympathisch. Und das gilt ebenso für die Toten, die ständig an Mahonys Seite sind. Das alles vermischt sie mit ihrem Sprachwitz zu einem modernen irischen Märchen, das an manchen Stellen grausam tragisch ist, dass ich mich wahrlich erschreckt habe.
Alles in allem ein sehr außergewöhnliches Buch, bei dem ich mich lange schwertat, es zu bewerten.

Zunächst brauchte ich zwei Anläufe, um es zu Ende zu lesen. Das lag auch daran, dass Kidd eine skurrile Szene an die andere reihte, gespickt mit einer Vielzahl an Charakteren, die ich mir nicht immer alle merken konnte. Das Buch verlange dann doch einige Konzentration und möglichst wenig Unterbrechung. Ich kann zwar sagen, dass ich es gern gelesen habe, auch wenn die Spannung an einigen Stellen abebbte, aber an manchen Stellen habe ich mich dann wieder schwergetan. Allerdings finde ich ihre Erzählweise, ihre originelle, bildliche Schreibweise so herausragend, dass ich wieder fasziniert war und das Buch dann doch nicht aus der Hand legen konnte. Besonders die Szenen, wenn Mahony mit den Toten spricht, haben es mir angetan.
Ich denke, dass Kidd in ihrem Debüt bewiesen hat, dass sie eine unvergleichliche Autorin ist, die außergewöhnliche Geschichten schreiben kann. Inzwischen habe ich ihren neusten Roman »Die Insel der Unschuldigen« gelesen, in dem sie bewiesen hat, dass sie eine Schippe drauflegen kann.
Wen also ein paar Tote nicht stören, wer mit schrägem, teils derben Humor umzugehen weiß und sich von einem besonderen Sprachstil überraschen lassen will, der wird sicher seine Freude an dem Buch haben. Ich für meinen Teil werde auch ihre anderen Bücher lesen, denn sie hat mich wirklich neugierig gemacht.

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Veröffentlicht am 03.05.2023

Ein typischer Bruno mit Schwachstellen

Troubadour
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Seit Jahren folge ich nun schon Bruno – Chef de police ins schöne Perigord, in sein heiles Städtchen Saint Denis. Ja, man kennt sich inzwischen im Ort und freut sich auf ein Wiedersehen. Und für alle, ...

Seit Jahren folge ich nun schon Bruno – Chef de police ins schöne Perigord, in sein heiles Städtchen Saint Denis. Ja, man kennt sich inzwischen im Ort und freut sich auf ein Wiedersehen. Und für alle, die die Reihe nicht kennen, man kann tatsächlich quereinsteigen, denn Walker stellt Brunos wichtigesten Freunde und Kollegen genauestens vor.
In seinem 15. Fall hat Bruno wieder alle Hände voll zu tun. Kurz vor dem alljährigen Sommerkonzert wird von der spanischen Regierung ein Song auf den Index gesetzt, der sich für die Unabhängigkeit Kataloniens ausspricht. Das sorgt auch in Saint Denis für einigen Wirbel, denn die Gruppe Les Troubadoures will mit diesem, ihrem, Lied auftreten und gerät ins Visier von Terroristen. Walker gibt uns tiefe Einblicke in die Kulturgeschichte der musikalischen Tradition der Troubadoure, der okzitanischen Kulturgeschichte, die sich von Spanien bis nach Frankreich ausbreitet. Geschickt verwebt er sie mit dem politischen Geschehen Westeuropas und zeigt, wie schnell internationale Konflikte dadurch entstehen können. Wieder hat Walker tief recherchiert und keinen einzigen Zusammenhang unausgesprochen gelassen.
Aber auch Brunos gute Freundin Florence benötigt seine Hilfe. Ihr gewalttätiger Exmann wird aus dem Gefängnis entlassen und will seine Kinder sehen. Er beteuert, dass er sich geändert hätte, doch sie glaubt ihm nicht und hat Angst. Bruno muss einige Hebel in Bewegung setzen, um zu einer Lösung zu finden.
Und natürlich wird wieder reichlich gekocht, Tennis gespielt und mit dem niedlichen Bassett Balzac geknuddelt.

Also alles beim Alten im schönen, beschaulichen Saint Denis. Brunos kulinarische Ablenkungen sorgen für etwas Ruhe und Beschaulichkeit, während hochrangige Offiziere versuchen, politische Verspannungen abzuwehren. Und trotzdem hat mich die Geschichte nicht so gefesselt, wie viele vorher.

Walker geht sehr detailliert, manchmal etwas langatmig und vortraghaft an seine Geschichte, um uns sämtliche Zusammenhänge und Einzelheiten mitzuteilen. Gerade die vielen Erläuterungen von Waffensystemen waren etwas zäh. Begeistert hat mich allerdings das Hintergrundwissen zum islamischen Einfluss auf die europäische Renaissance. Man sollte beim Lesen etwas Sitzfleisch haben. Als Walkers Krimis noch viel historischen Background hatten, habe ich mich wohler gefühlt. Aber das ist mein persönlicher Eindruck. Trotzdem bekommt die Reihe von mir eine Leseempfehlung, weil Walker es wie kein anderer schafft, politisches Zeitgeschehen, französische Kultur und Geschichte zu einem lesenswerten, spannenden Ganzen zu verweben. Ich wünsche mir allerdings, dass Walker zu seiner alten Form zurückfindet.

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Veröffentlicht am 26.04.2023

Magischer Realismus aus der Karibik

Als wir Vögel waren
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Ayanna Lloyd Banwos Debüt beginnt mit einer wunderschönen, mystischen Schöpfungsgeschichte, die mich sofort eintauchen ließ. Erzählt in einer beschwörenden, rhythmischen Sprache, als wolle sie die Geister ...

Ayanna Lloyd Banwos Debüt beginnt mit einer wunderschönen, mystischen Schöpfungsgeschichte, die mich sofort eintauchen ließ. Erzählt in einer beschwörenden, rhythmischen Sprache, als wolle sie die Geister lebendig werden lassen.
Die Geschichte spielt im fiktiven Port Angeles, Trinidad. In der lebendigen, pulsierenden Stadt liegt Fidelis, ein uralter und weitläufiger Friedhof, auf dem rastlose Seelen ruhen. Und hier werden sich unsere Protagonisten begegnen.

Darwin wächst auf dem Land auf und wird von seiner Mutter mit den Werten des Rastafari-Glaubens erzogen. Doch die prekäre finanzielle Situation zwingt ihn, den erstbesten Job in der Stadt anzunehmen. Ausgerechnet eine Stelle als Totengräber, wo ihm seine Religion doch den Umgang mit Toten verbietet. Das liebevolle Verhältnis von Mutter und Sohn droht zu zerbrechen, als er ihren Warnungen zum Trotz den Job annimmt. Dass bereits sein Vater vor vielen Jahren aus der Stadt nicht zurückkam, ist für die Mutter kein gutes Omen.

Yejide wächst in einem großen Mehrgenerationenhaus in Morne Marie auf. Lauscht voller Begeisterung den alten Geschichten über Leben und Tod, die ihre Großmutter ihr als Kind erzählt. Doch sie ahnt nicht, wie sehr ihr Leben mit dieser Welt der Toten tatsächlich verbunden ist. Nachdem Yejides Mutter gestorben ist, sieht sie sich mit einem spirituellen Erbe im Stich gelassen, von dessen Tragweite sie keine Vorstellung hat. Denn in Morne Marie sind es die Frauen, die für Ruhe in die Welt zwischen den Lebenden und den Toten sorgen.

„Alle nannten sie Maman. Sie ist die Erste in der Familie, an die sich noch jemand erinnert. Als ich klein war, hat mir meine Granny oft eine Geschichte über sprechende Tiere und einen großen Krieg erzählt. In der Geschichte wird die Welt durch den Tod zerrissen, die Lebenden schaffen es nicht mehr, die Toten aufzuwiegen. Da verwandeln sich die Vögel der alten Zeit in Corbeaux – Aasvögel – und vertilgen die Toten. Das Gleichgewicht ist wiederhergestellt. Sie haben die Welt gerettet.“ S. 268

Während Darwin erkennen muss, dass die Gefahr für ihn nicht von den Toten, sondern von seinen Kollegen ausgeht, hadert Yejide mit ihrem Erbe und sehnt sich nach einem normalen Leben. Am Tor von Fidelis führt die Vorsehung die beiden jungen Menschen zusammen und es beginnt eine magische Liebesgeschichte.

Zwei junge Menschen, deren gewohnte Welt aus den Fugen gerät, die mit ihrem Schicksal hadern und deren unterschiedliche Leben zu einem verschmelzen. Und das alles vor einer lebendigen karibischen Kulisse, in der der Geisterglaube tief verwurzelt ist. Mit der gekonnten Verknüpfung von Liebes- und Geistergeschichte mit einem Schuss Krimi hat mich die Autorin einfangen können. Lloyd Banwo schafft eine dramatische, mystische Atmosphäre, die mich auf vieles neugierig gemacht hat. Ich wusste nichts über den Glauben der Rastafari und deren Verbot, mit Verstorbenen in Kontakt zu kommen. Und was kann es Besseres geben, als ein Buch, das neugierig macht auf eine fremde Kultur.
Abwechselnd folgen wir den Perspektiven der beiden Charaktere auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. Was zunächst sehr langsam beginnt, nimmt in der zweiten Hälfte des Buches rasant an Geschwindigkeit zu, sodass mir das Ende ein bisschen zu schnell kam. Gerade über Yejide hätte ich gern noch mehr erfahren.

Die Karibik, ein völlig neues literarisches Feld für mich, auf das ich sehr neugierig war. Und ich muss sagen, es fühlte sich sehr karibisch an. Lloyd Banwo schafft sehr lebendige Bilder von einer pulsierenden Stadt, im Gegensatz zu der trügerischen Ruhe auf dem alten Friedhof. Lloyd Banwos erzählerisches Talent hat mich durch die Geschichte getragen, besonders der mystische Teil hat mich fasziniert. Im Anhang gibt es außerdem ein sehr aufschlussreiches Interview mit der Autorin über die Entstehung des Romans. Trotz minimaler Kritik bekommt das Buch von mir eine große Empfehlung. Eine mystische Liebesgeschichte so bunt wie das Cover.

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Veröffentlicht am 17.04.2023

1. Fall für Tamara Hayle

Ein Engel über deinem Grab
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Tamara Hayle hat ihren Job als Polizistin hingeschmissen, um den rassistischen und sexuellen Anfeindungen ihrer Kollegen zu entgehen. Auch von ihrem Exmann DeWayne hat sie sich getrennt, der mit ihr in ...

Tamara Hayle hat ihren Job als Polizistin hingeschmissen, um den rassistischen und sexuellen Anfeindungen ihrer Kollegen zu entgehen. Auch von ihrem Exmann DeWayne hat sie sich getrennt, der mit ihr in 5. Ehe verheiratet war, ein notorischer Fremdgänger ist und ständig Ärger anzieht. Vor 5 Jahren sich die alleinerziehende Mutter von Jamal, 14, als erste schwarze Privatdetektivin selbstständig gemacht und hält sich geradeso über Wasser.
Obwohl sie am liebsten nichts mehr mit ihrem Ex zu tun haben will, bittet DaWayne sie um Hilfe. Laut Polizei ist sein Sohn Terrence an einer Überdosis gestorben, doch DeWayne glaubt nicht daran, denn es ist nicht der erste seiner Söhne, der getötet wurde – und wird auch nicht der letzte sein. Tamara hat letztlich keine Wahl, da sie um das Leben ihres gemeinsamen Sohnes fürchtet.

Zwei Gründe hätten beinahe dazu geführt, dass ich das Buch abgebrochen hätte – nur gut, dass ich es nicht getan habe. Zum Einem waren da die vielen Exfrauen DeWaynes samt Söhnen, deren Namen und Geschichten ich lange nicht auseinanderhalten konnte. Das andere war die Tatsache, dass Tamara eine Vorliebe für Männer mit einer gefährlichen Aura hat. Sprich, sie fühlt sich von Basil, einem impulsiven Schläger angezogen, das machte sie zu Beginn nicht unbedingt sympathisch. Nach etwas 100 Seiten nimmt das Buch aber Fahrt auf und entwickelt sich zu einem guten, unterhaltsamen Krimi.

Die Autorin zeichnet ein gelungenes Gesellschaftsporträt einer schwarzen Community Anfang der 90er Jahre, bevor es Google und Handys gab. Das Buch wurde 2021 bei Diogenes neuaufgelegt. Ich denke, die anderen Teile der Reihe werde ich sicher auch lesen.

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