Zwei Leben in einem
„Alle sterben, nur die Tante nicht. Gott hat sie einfach vergessen.“ (S. 27)
Wer hat noch nicht vom ewigen Leben geträumt, bei Adrianas Tante Jele sieht es fast so aus, als würde dieser (Alb)Traum wahrwerden. ...
„Alle sterben, nur die Tante nicht. Gott hat sie einfach vergessen.“ (S. 27)
Wer hat noch nicht vom ewigen Leben geträumt, bei Adrianas Tante Jele sieht es fast so aus, als würde dieser (Alb)Traum wahrwerden. Die sitzt 2021 nach einem Oberschenkelhalsbruch kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag im Pflegeheim in Mantua fest und darf wegen der Pandemie keinen Besuch empfangen oder raus, dabei hat sie bis zuletzt selbstständig gelebt. Sie ist zwar fast blind und hört schwer, aber in ihrem gewohnten Umfeld hat sie sich noch gut zurecht gefunden. Vor allem aber gab es ihren Hund, einen Fernseher in Stadionlautstärke, Freunde und Nachbarn. Jetzt hat sie plötzlich viel Zeit, um über ihr wechselvolles Leben nachzudenken und sich über Adriana Sorgen zu machen, die auch zwei Jahre nach der Trennung ihres Mannes nicht mit dem Verlust fertig wird.
Regelmäßig telefonieren Adriana und Jele, die nicht versteht, warum sie im Zimmer eingeschlossen wird und ständig eine Maske tragen soll, warum auf der Straße niemand mehr zu sehen. „Ich lebe in einem Totenhaus. Stille und Leere überall.“ (S. 6) Als später Besucher mit Passierschein kommen dürfen, werden Erinnerungen an die Zeit im Lager werden wach. Sie fragt sich, warum Gott sie so vieles er- und überleben lassen hat. „Obwohl sie sich immer häufiger verabschiedet, ist sie gleichzeitig so präsent wie noch nie. Sie zieht Bilanz, sie rechnet ab, sie ist wirklich gründlich.“ (S. 128)
Jele hatte ein hartes Leben. Ihre gesamte jüdische Familie wurde aus Zagreb vertrieben und in ein Lager gesteckt. Erst Adriana erkämpft Jahrzehnte später eine Entschädigung für Jele als letzte Überlebende. Das Überleben spielt überhaupt eine große Rolle. Nach dem Krieg musste sie ihre streng katholische italienische Schwiegermutter und eine verrückte Schwägerin überstehen. Ihren Mann hatte sie nur aus Dankbarkeit und nicht aus Liebe geheiratet – ihr Leben fing erst nach seinem Tod so richtig an, wobei sie sich auch vorher schon den einen oder anderen Liebhaber gegönnt hat. Jetzt versorgt sie ihre Nichte ganz nonchalant mit ihren gesammelten Lebensweisheiten, die gleichermaßen klug und witzig sind: „Ach, das Leben ist, was es ist. Wieso glauben wir, es wäre da, um uns glücklich zu machen?“ (S. 177) Und bringt ihr alles bei, was sie über das (Über-)Leben, Unabhängigkeit, Männer, Kleidung und Genuss wissen muss.
„Besser allein als in schlechter Gesellschaft“ ist ein wunderbar melancholischer, warmherziger und berührender Roman über Familie und das Älterwerden. Mit leisem Humor erzählt Adriana Altaras aus dem Leben ihrer eigenwilligen Tante und ihrem eigenen, ihrer Kindheit zwischen Deutschland und Italien, zwischen Eltern und Tante (die ihr oft mehr Mutter war als ihr eigentliche), zwischen Strenge und Grandezza, gepaart mit Dolce Vita. „Das Letzte, was von mir gehen wird, ist die Lust auf Pasta. Und die Liebe zu meiner Nichte.“ (S. 84)