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Veröffentlicht am 30.05.2023

Debüt mit Stärken und Schwächen

22 Bahnen
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Wahls Debüt hatte viele kleine gute Momente, ob Tilda nun an der Kasse saß und »Kundenraten« gespielt hat, oder abends überfahrene Radieschen gegessen hat. Auch ihre Wortschöpfungen wie die »Abendbrottischfamilie« ...

Wahls Debüt hatte viele kleine gute Momente, ob Tilda nun an der Kasse saß und »Kundenraten« gespielt hat, oder abends überfahrene Radieschen gegessen hat. Auch ihre Wortschöpfungen wie die »Abendbrottischfamilie« stechen immer wieder raus. Ihr Erzählstil ist modern und ließ mich schnell durch die Geschichte fliegen. Ihre Grundidee einer dysfunktionalen Familie, in der sich die Studentin und ihre 10-jährige Schwester um die alkoholkranke Mutter kümmern, ist jetzt nichts Neues, aber es kommt ja auf die Umsetzung an.
Ich habe nichts gegen eine distanzierte Schreibweise, aber hier hat es dazu geführt, dass ich die Handlung nur selten spüren konnte. Berührt hat mich das Verhältnis der Schwestern zueinander, auch der tägliche Umgang mit der Mutter, die nur selten einen lichten Moment hat, entweder betrunken auf der Couch liegt oder in ihren Depressionen versunken ist. Und trotzdem hat mir viel gefehlt. Wo ist die Auseinandersetzung mit dem Thema, wo sind (hoffnungsvolle) Lösungsansätze?
Die Autorin fixiert sich hier auf Tilda, die sich für ihre Schwester aufopfert, sie vor der gewaltbereiten und lieblosen Mutter beschützt. Trotz der Verantwortung verliert sie ihr großes Ziel nicht aus den Augen – die Doktorandenstelle in Berlin. Dennoch war die Lösung in Hinsicht auf Ida für mich wenig akzeptabel. Vielleicht bin ich für solche YA-Geschichten zu alt oder mein Beschützerinstinkt zu groß. Vielleicht mag es an der Realität liegen, dass auch hier das Jugendamt mit Abwesenheit geglänzt hat.
Leider raste die Story auch an mir vorbei, ohne wesentliche Ecken und Kanten, an denen sich Tilda stoßen könnte, das war mir zu glatt, zu gewollt.

Über den Umgang mit Drogen und Alkohol in diesem Buch kann man geteilter Meinung sein. Für mich klang das alles nach einer Message wie: Hey, es ist okay, wenn du mal einen schlechten Tripp hast. Und wer bitte lässt eine 10-jährige Red Bull trinken? Ich mag solche Dinge einfach nicht in Romanen. Ebenso wenig wie übermäßige Fehler, die so auffallend sind, dass ich mich frage, wo hier das Lektorat und Korrektorat seine Augen hatte.
Für mich leider kein stimmiges Buch, aber die Leute werden es trotzdem lieben. Das, was ich normalerweise an dünnen Büchlein mag, eine verdichtete, atmosphärische Handlung, jedes Wort an seinem Platz, dass einem am Ende nichts gefehlt hat, war hier einfach nicht gegeben.

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Veröffentlicht am 21.04.2023

Liebe in Zeiten des Krieges

Durch das große Feuer
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Das Buch hat es mir nicht leicht gemacht und ich kann mich den zahlreichen Lobeshymnen nicht uneingeschränkt anschließen. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Gaunt und Ellwood sind keine 17 Jahre alt, als England ...

Das Buch hat es mir nicht leicht gemacht und ich kann mich den zahlreichen Lobeshymnen nicht uneingeschränkt anschließen. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Gaunt und Ellwood sind keine 17 Jahre alt, als England Deutschland den Krieg erklärt. Noch sind sie Schüler im fiktiven Eliteinternat Preshute, das allein schon einem Schlachtfeld gleicht. Mobbing und sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung, Mitschüler werden aus Lust und Laune heraus verprügelt. Homosexualität scheint aber nicht das Problem zu sein, auch wenn es nicht ausgesprochen wird. Ellwood und Gaunt fühlen sich voneinander angezogen, haben aber auf unterschiedlichste Weise mit anderen Jungs sexuelle Kontakte.
Auf diesen ersten 100 Seiten hat es mir die Autorin mit ihren dialoglastigen Schilderungen und einer sehr distanzierten 3. Perspektive schon schwer gemacht. Ich habe eine Weile gebraucht, bis mir klar wurde, dass es sich wie ein Drehbuch anfühlte, nicht wie ein Roman. Verstärkt hat das auch noch ihr Schreibstil, der mir leider nicht gelegen hat.
Es wurde besser, als die Jungs mit wehenden Fahnen fürs Empire in den Krieg zogen. Gaunt, der sich als 1. freiwillig an die Front meldet, wird schnell ernüchtert im schlammigen Schützengraben. Ellwood folgt ihm nach, doch da hat der Krieg Gaunt schon zu einem anderen Menschen gemacht. Nach und nach kommen andere Mitschüler und es werden bereits Wetten abgeschlossen, wie lange sie überleben. Sie sterben reihenweise nach kürzester Zeit und in Preshute wartet man nur darauf, ihre Todesmeldung »In Memoriam« (So der passendere Originaltitel) in der Internatszeitung zu lesen, die sich über das ganze Buch verteilen. Diese, damals an der Front geschönten Todesnachrichten, vermitteln der Geschichte eine bittere, fühlbare Realität.

Winn erspart uns keine Einzelheiten, wenn es um die Brutalität des Krieges geht. Dieser Teil startet authentisch und eindrücklich, zieht sich dann aber hin. Sie geht Themen an wie Klassenzugehörigkeit, Patriotismus, Feigheit und Kriegstraumata. Neben den beiden Protagonisten gibt es aber nur noch Hayes, der dreidimensional genug ist, der Rest – und es sind viele – ist Kanonenfutter.

Vergessen wir bei all dem nicht, dass wir uns am Anfang des 20. Jhds. befinden und Homosexualität nicht nur eine kleine Sünde war. Allerdings scheint es mir nicht realistisch, dass die Liebe der beiden von ausnahmslos allen, vor denen sie sich outen, so gleichgültig hingenommen wurde. Nicht mal als anstößig wurde es empfunden. Damit verliert die ganze Geschichte an Authentizität.

Für mich war die Lektüre durchwachsen, trotz vieler guter Momente habe ich mich letztlich schwergetan, habe die Liebesgeschichte nicht fühlen können. Ich denke, es geht darum zu zeigen, dass die Helden und Verlierer des Krieges nicht alle heterosexuell waren. Welchen Gefahren Homosexuelle zu dieser Zeit ausgesetzt waren, welche Konsequenzen ihr Outing nach sich gezogen hätte, wird hier umschifft.

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Veröffentlicht am 19.04.2023

Unerwartet schwach und überzogen

Dunkles Arles
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Wohl das persönlichste Buch um den Ermittler aus der Provence, der diesmal selbst im Fokus der Ermittlung seines Kollegen Lizarey steht.
Ich mag die Reihe wirklich sehr, weil Rademacher mir zum einen seine ...

Wohl das persönlichste Buch um den Ermittler aus der Provence, der diesmal selbst im Fokus der Ermittlung seines Kollegen Lizarey steht.
Ich mag die Reihe wirklich sehr, weil Rademacher mir zum einen seine Wahlheimat bildlich schmackhaft macht und mit seinem Ermittlerteam ein authentisches, kantiges Trio geschaffen hat, denen es Spaß macht zu folgen.
Blanc trifft seine heimliche Geliebte, die Untersuchungsrichterin Aveline Vialaron-Allègre, in Arles, einem wunderschönen historischen Städtchen an der Rhone, das einmal Provinzhauptstadt des Römischen Reichs war. Doch nach nur wenigen Minuten beginnt das Fiasko, ein Mann wird von einem Turm in der Arena gestoßen, Aveline wird ihre Tasche mit wichtigen Unterlagen gestohlen und entkommt nur knapp dem Tod. Zur Polizei gehen können sie nicht, denn Avelines Mann darf nichts von der Affäre wissen und macht Blanc ohnehin seit Jahren das Leben schwer.
Ich weiß, dass ich bei Rademacher immer was lernen kann. Diesmal geht es um den Kunstfälschungen und wie viel Geld sich damit machen lässt. Die Nachfrage nach Antiken ist größer als die Menge, die zufällig irgendwo ausgebuddelt wird. Fälschen ist zwar strafbar aber immer noch billiger und ungefährlicher als in der Rhone danach zu suchen. Die Front National, die damit an legale Gelder für ihren Wahlkampf kommen kann, zieht in dem beschaulichen Städtchen die Fäden. Für die Drecksarbeit haben sie den Bloc identitaire und einem Haufen rechtsradikaler Schläger. Für ich wieder ein gutes Lehrstück, was politische Verwicklungen angeht.
Für Roger Blanc und Aveline beginnt ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel.

So weit so gut. Aber diesmal war es nicht Rademachers bester Krimi und ich bin echt enttäuscht. Gleich zu Beginn langweilt er mich über mehrere Seiten mit einer Verfolgungsjagd, in der er quasi jedes Steinchen beschreibt, über das der liebestolle Blanc stolpert. Denn das ist er tatsächlich, sonst würde er sich nicht von Aveline überreden lassen, eine Dummheit nach der anderen zu begehen – wohlgemerkt Straftaten wie Einbruch, Autodiebstahl etc. Reagieren Männer wirklich so schwachsinnig, wenn sie in eine Frau verknallt sind? Ich habe da meine Zweifel. Gut, ich habe eh nie verstanden, wie er sich in die Frau verlieben konnte. Ich finde sie sehr unnahbar und herablassend, aber egal – wo die Liebe hinfällt. Mit zwei zugedrückten Augen habe ich die Story weiterverfolgt, zwei weitere Verfolgungsjagden überblättert und am Ende nur noch gestöhnt. Was war das denn bitte für ein Mumpitz, für ein Klamauk? Das, was die beiden da noch so alles veranstalten, nur um wieder an Avelines ominöse Tasche zu kommen, war mega unglaubhaft. Ich kam mir vor wie in einer alten Schwarz-Weiß-Krimikomödie aus den 50ern. Keine Ahnung, was der Herr Rademacher sich dabei gedacht hat.
Immerhin war es wieder supergut lesbar, denn ich mag seinen Schreibstil. Ich drücke jetzt zusätzlich die nichtvorhandenen Hühneraugen zu und hoffe, dass dies der einzige grobe Ausrutscher in der Reihe war. Denn ich freue mich wahnsinnig auf den neuen Band, der am 17.5. bei @Dumontbuchverlag erscheint.

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Veröffentlicht am 10.04.2023

Schöne Geschichte begraben unter wirren Zeitsprüngen

Tochter einer leuchtenden Stadt
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1905 – Smyrna, das heutige Izmir, ist ein kultureller Schmelztiegel verschiedener Nationen. Griechen, Türken, Armenier, Europäer und Juden leben in einem orientalischen, bunten, lauten Babel seit Jahrhunderten ...

1905 – Smyrna, das heutige Izmir, ist ein kultureller Schmelztiegel verschiedener Nationen. Griechen, Türken, Armenier, Europäer und Juden leben in einem orientalischen, bunten, lauten Babel seit Jahrhunderten zusammen. 17 Jahre später werden alle Nicht-Muslime vertrieben und viele Stadtteile nur noch Schutt und Asche sein.

Suman macht die Stadt mit all ihren Farben, Gerüchen, Bräuchen und Sprachen lebendig. Das Leid und die Zerstörung waren für mich spürbar. Ihr atmosphärischer Schreibstil ist sicher der größte Pluspunkt an dem Buch. Aber die Autorin hat es mir echt schwer gemacht. Ich habe mich gefreut, mehr über ein Land zu erfahren, dessen Historie ich kaum kenne.
Die Geschichte um die drei Familien (levantinische, griechische und türkische) ist das reinste Chaos. Als wäre ein Tsunami über die ägäische Hafenstadt hinweggefegt und hätte überall nur Fragmente und Andeutungen hinterlassen, die ich mir mühsam zusammenklauben musste. Alle historischen Zusammenhänge musste ich mir im Netz suchen, um ansatzweise die Beweggründe der Figuren zu verstehen, Hintergründe fehlen hier völlig. Warum zerbrach das Osmanische Reich nach dem 1. WK? Weshalb waren die Menschen froh, dass die Griechen das Land übernahmen?

Die Erzählerin Scheherazade taucht nur sporadisch auf, ergeht sich in Rückblicken und Voraussagungen, die zeitlich nicht einzuordnen sind, die mich immer wieder den Faden verlieren ließen. Schon nach 100 Seiten hatte ich mehr Fragen im Kopf als Antworten. Die einzelnen Geschichten der Familien laufen zeitlich ebenso wenig synchron, ohne erkennbare Zuordnung. Ist die eine Frau im vorigen Kapitel bereits tot, steht sie im nächsten wieder in der Küche.
Doch damit nicht genug.

Um die sprachlichen Eigenheiten der Familien zu unterstreichen, nutzt die Autorin zahlreichen Vokabeln, die sie permanent in den Dialogen einflechtet. Wer wie ich weder gr, fr, ar noch tr beherrscht, findet die Übersetzung in einem anhängenden Glossar. Das empfand ich als äußerst mühsam und nervig.

Fazit: Unter dem ganzen Chaos ist eine wunderschöne Geschichte begraben, die ich wirklich gern gemocht hätte. Wer historische Vorkenntnisse hat und mit den Sprachen vertraut ist, wird hier vielleicht mehr Freude haben. Ich empfand sie lediglich als anstrengend und unbefriedigend. Am Ende hatte ich mich im kosmopolitischen Smyrna hoffnungslos verirrt.

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Veröffentlicht am 26.03.2023

Eine simpel gestrickte American-Dream-Geschichte, die lediglich Unterhaltungspotenzial besitzt.

Der Junge, der Träume schenkte
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Ceta stammt aus dem Süden Italiens, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwächst. Als 13-Jährige wird sie brutal vergewaltigt und verlässt nur kurz darauf mit ihrem Sohn Natale ihre Heimat. Nachdem sie ...

Ceta stammt aus dem Süden Italiens, wo sie in ärmlichen Verhältnissen aufwächst. Als 13-Jährige wird sie brutal vergewaltigt und verlässt nur kurz darauf mit ihrem Sohn Natale ihre Heimat. Nachdem sie auf dem Schiff mehrmals vom Kapitän missbraucht wird, landet sie in New York und umgehend in einem Bordell. Doch sie versucht, ihrem Sohn so viel wie möglich an Liebe zu schenken und hofft auf eine bessere Zukunft für ihn. Der Alltag in der Lower East Side Anfang des 20. Jhd. war bestimmt von Gewalt, Armut und Prostitution. Doch Ceta schlägt sich tapfer.
Natale, der bei der Ankunft von den Hafenbehörden den Namen Christmas, bekommen hat, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, die Straße wird sein Zuhause. Er gründet als Kind die Gang Diamond Dogs, mit der er später zur Berühmtheit werden soll. Mit seinen erfundenen Geschichten und seinem heiteren Wesen erobert er die Herzen der Bewohner.
Ruth, die Tochter eines reichen, jüdischen Industriellen, wird von Bill, einem Hausangestellten brutal zusammengeschlagen und vergewaltigt. Christmas wird sie schwer verletzt finden, ihr damit das Leben retten und sich in sie verlieben.
Nach der brutalen Tat Bills, der natürlich gleich noch eine folgen wird, verzweigt sich die Handlung in drei Perspektiven.
Hauptsächlich folgen wir der Entwicklung Christmas’. Er ist ein nettes, schlaues Kerlchen mit viel Charme und Einfallsreichtum. Schnell erobert er die Herzen seiner Mitmenschen. Seinem Weg zu folgen, der nicht immer frei von Kleinkriminalität war, hat mir Spaß gemacht. Ihn habe ich sofort ins Herz geschlossen.

Im zweiten Handlungsstrang folgen wir Ruth, die an den Folgen der Vergewaltigung und Verstümmlung viele Jahre leidet. Ihr dadurch entstandenes Trauma wird sie aus der Bahn werfen. Dass es sich allerdings bei der erstbesten Gelegenheit in Luft auflöst, hatte für mich einen faden Beigeschmack.

Und dann hätten wir noch den Oberfiesling Bill, der sich recht bald nach Los Angeles absetzt, aus Angst vor der Strafverfolgung. Ich habe selten erlebt, dass ein Mensch aus dem Nichts heraus so eine dermaßen brutale Tat begeht. Nichts wird in der Geschichte vorbereitet, Di Fulvio setzt einzig auf den Schockmoment. Seine weitere Karriere ist ebenso verstörend wie brutal, dass ich an manchen Stellen von ihm angewidert war. Aber genau diese Szenen wieder und wieder zu zeigen, jede Handlung auszuschlachten, hat mir letztlich das Lesevergnügen komplett verleidet. Bliebe da noch die Strafe, die der Autor für ihn vorgesehen hat. Der Konflikt zwischen Ruth und Bill, die sich natürlich wieder begegnen, wurde als Zufall von außen gelöst. Mehr möchte ich nicht dazu sagen, da ich sonst spoilern müsste. Doch so eine Lösung ist einfallslos und unbefriedigend.

Das sind die Zutaten für diesen 800 Seiten starken historischen Roman, der sich zwar leicht lesen lässt, aber nicht immer leicht zu verkraften ist. Nach nicht mal 100 Seiten hätte ich das Buch liebend gern abgebrochen, wenn ich nicht jemandem versprochen hätte, es zu lesen. Was mich durchhalten ließ, war die Neugier, wie der Autor wohl am Ende dem Bösewicht seine gerechte Strafe zukommen lässt.

Dass das Leben damals kein Zuckerschlecken war, ist klar, doch dass Di Fulvio sich dermaßen darauf konzentriert, jeden Gewaltakt so explizit grausam darzustellen, war mir einfach to much. Quasi jede Frau wird Opfer von Übergriffen und Vergewaltigungen, die detailliert beschrieben wurden. Bis auf Bill sind alle Bösewichte eigentlich nette Typen, dass sie hin und wieder jemanden auf offener Straße erschießen, Schutzgeld erpressen oder jemanden brutal zusammenschlagen, ist ja nicht so schlimm.

Damit geraten die Figuren zu Stereotypen, die wenig Neues zu bieten haben. Man bekommt den Eindruck, jede weibliche Auswanderin wird zu einer Prostituierten, die sich in einen Kleinganoven verliebt. Armer Junge verliebt sich in reiches Mädchen, sie werden getrennt, finden sich aber wieder, Happyend. Die Handlung war also von Anfang an vorhersehbar, was mich aber weniger gestört hat. Sein Erzählstil ist genretypisch leicht zu lesen, wird mit vielen blumigen Details ausgeschmückt und kontrastiert mit den Gewaltszenen, die es in der Form nicht gebraucht hätte.
Auch Cover und Klappentext spiegeln für mich nicht das wieder, was der Leser am Ende bekommt. Es geht nicht um einen etwas fünfjährigen Jungen, wie abgebildet. Der Klappetext bezieht sich mehr auf Cetas Traum von einer besseren Welt in den USA.

Mir fällt es schwer zu sagen, wem ich den Roman empfehlen würde. Den typischen Lesern historischer Romane wird er zu brutal sein. Andererseits ist er zu seicht und klischeehaft. Etwas mehr Niveau wie »Die Wanderhure« hatte er aber durchaus. Ich konnte den Zeitgeist der frühen 20er Jahre spüren. Den Siegeszug der neuen Technik wie Kino und Radio waren für mich glaubhaft und interessant dargestellt. Doch von einer authentischen Schilderung der Zeit war die Geschichte weit entfernt, allein wegen der Figuren. Insgesamt wird mir auch nichts Neues erzählt, was nicht schon tausend Mal irgendwo benutzt wurde.

Fazit: 800 Seiten mit einer fesselnden Handlung zu füllen, ist nicht leicht. Zu viele Nebenschauplätze werden eröffnet, die lediglich schmückendes Beiwerk sind. Aufgrund der Brutalitäten wird es viele Leser des Genres abschrecken. In Zukunft werde ich mich guten Filmen wie »Es war einmal in Amerika« oder »Gangs of New York« widmen, die mehr Authentizität haben und nicht ganz so verkitscht sind.
Wie immer, dies ist meine persönliche Meinung.

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