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Veröffentlicht am 19.04.2023

Unschärfen

Seemann vom Siebener
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Ein Flimmern in der Luft. Der Blick durchs Wasser. Die Vergangenheit, die Gegenwart und ja, auch die Zukunft. Alles ist unscharf an diesem Tag im Schwimmbad von Ottersweiler. Und das ist richtig gut, größtenteils.

Arno ...

Ein Flimmern in der Luft. Der Blick durchs Wasser. Die Vergangenheit, die Gegenwart und ja, auch die Zukunft. Alles ist unscharf an diesem Tag im Schwimmbad von Ottersweiler. Und das ist richtig gut, größtenteils.

Arno Frank lässt in „Seemann vom Siebener“ die Erinnerungen an die Kindheit hochleben. Freibadpommes und Flutschfinger. Arschbomben und Sandkuchen. Bienenstiche und … okay, Daddelautomaten gab es bei uns nicht. Aber trotzdem schafft er es locker, eine Atmosphäre zu schaffen, die vielen Leser:innen vertraut vorkommen wird.

Im Schwimmbad, gelegen in der Pfälzer Provinz, treffen alle aufeinander. Eine frühere Lehrerin, deren Mann das Bad entworfen und gebaut hat. Ihre Schüler, mittlerweile selbst irgendwo um die 40. Teils weit gereist, teils dortgeblieben. Der Bademeister, damals wie heute in Dienst und Schlappen. Die heutige Jugend, ein Geschwisterpaar und ein paar ihrer Mitschüler. Und zwei Vorfälle, die die meisten der Besucher:innen verbinden, und dennoch – das ist kein Spoiler – eher vage bleiben.

Zwei Sachen machen richtig Spaß: Arno Frank hat hier einige spannende Figuren geschaffen, die gar nicht so sehr aus der Welt gefallen sind. Der Weitgereiste, nach langer Zeit zurück in der Heimat. Die Jugendliebe, frisch verwitwet, aber darüber nicht traurig. Die tumbe Tagesmutter, nah an den Parolen der AfD gebaut. Der Bademeister, der ein Trauma nicht überwunden hat. Die Dame im Kassenhaus, die aufgrund eines Alkoholproblems ihren Job in der Sparkasse verloren hat. Die Frau des Schwimmbadarchitekten, oft verloren in Tagträumen und Erinnerungen. Die Schwester, die an diesem Tag Großes vor hat. Und – die zweite schöne Sache – das alles verdichtet in nicht einmal einen Tag, in ein paar Stunden von kurz vor der Freibadöffnung bis in den Nachmittag hinein.

Die Unschärfen von Franks Roman liegen auch in dem, was zwischen den Zeilen geschieht. Einem Geheimnis, den die Leser:innen vielleicht auf die Spur kommen. In den Verbindungen zwischen den Figuren. Allerdings: Für das große Ganze hätte es, muss man leider sagen, auch nicht jede Figur, nicht jede Geschichte gebraucht. Vielleicht. Vielleicht ist auch eine nicht zu Ende erzählte Geschichte Teil des heißen Tags, der flirrenden Hitze und wohltuenden Kühle am Ende eines Sommers in Ottersweiler, die dafür sorgt, dass Leute sich wiedersehen und das Bad mit Leben füllen.

„Seemann vom Siebener“ ist eines dieser Bücher, die mit gutem Gewissen und Vorfreude in die Sommerurlaubstasche gepackt werden können, aber auch schon jetzt, im langsam beginnenden Frühling, schon Lust machen auf einen langen, heißen Sommer und – vor allem – an die Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend, so unscharf diese mittlerweile auch sind.

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Veröffentlicht am 21.03.2023

Ein Land vor unserer Zeit

Rote Sirenen
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Verrückt. Unfassbar. Unbegreiflich. Keine Ahnung, welche Wörter Victoria Belim durch den Kopf schossen, als sie an den letzten Wörtern von „Rote Sirenen“ saß und Russland seinen Angriffskrieg gegen die ...

Verrückt. Unfassbar. Unbegreiflich. Keine Ahnung, welche Wörter Victoria Belim durch den Kopf schossen, als sie an den letzten Wörtern von „Rote Sirenen“ saß und Russland seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Denn ihr Buch ist ihre Geschichte, ihre Familiengeschichte in der Ukraine vor den Weltkriegen und nach dem Überfall auf die Krim. Das hier und jetzt und heute ist noch gar nicht Teil dieses Buchs – es spielt in einem Land vor unserer Zeit.

Victoria, Vika, ist in den 90ern mit ihrer Familie in die USA ausgewandert, lebte dort lange, blieb mit ihrer Familie so gut es ging in Kontakt, wenige Besuche, mehr Skype-Telefonate. Als ihr Vater starb, zog sie mit ihrem Mann nach Brüssel. Und als 2014 die Krim annektiert wurde, sie sich mit ihrem Onkel zerstritt, da machte sie sich auf Spurensuche. Wer war ihre Familie? Und was ist eigentlich mit ihrem Urgroßonkel passiert – eine große, stillschweigende Leerstelle in ihrem Stammbaum.

„Rote Sirenen“ ist kein Buch, dass die Hintergründe des Überfalls auf die Krim oder gar den Angriffskrieg erklärt, wohl aber die schwierige Beziehung zwischen Russland und der Ukraine, zwischen Russen und Ukrainern beleuchtet, von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bis heute. Und die auch zeigt, dass manche Menschen in der Ukraine Russland, andere Europa näherstehen – und viele einfach ihre Ruhe wollen.

Irgendwo zwischen Biografie, Roman und Sachbuch angelegt, wirken manche Dialoge leider etwas zu konstruiert, zwischendurch hakte mein Lesefluss gewaltig, aber nicht so, dass ich das Buch aus der Hand legen wollte. Es ist eine spannende Reise in ein trotz der Nachrichtenpräsenz unbekanntes Land, eine Heimat voller Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft. Das Tragische: Es ist völlig unklar, wie es den Menschen heute geht, abgesehen von Vikas 2021 an COVID-19 verstorbener Großmutter, die den neuerlichen Krieg nicht mehr erlebte, der die Ukraine wieder einmal veränderte und das Land aus „Rote Sirenen“ zu einem Land vor unserer Zeit machte, wieder einmal.

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Veröffentlicht am 27.02.2023

Shakespeare und Super Mario

Morgen, morgen und wieder morgen
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Nach 400 Seiten bricht Gabrielle Zevin den Leser:innen das Herz. Oder zumindest mir, dabei bin ich eigentlich immer relativ emotionslos, wenn Roman- oder Filmfiguren etwas passiert, das nichts Gutes verheißt. ...

Nach 400 Seiten bricht Gabrielle Zevin den Leser:innen das Herz. Oder zumindest mir, dabei bin ich eigentlich immer relativ emotionslos, wenn Roman- oder Filmfiguren etwas passiert, das nichts Gutes verheißt. Aber: In „Morgen, morgen und wieder morgen“ geschehen ständig unschöne Dinge – Unfälle, Übergriffe, Überfälle – und dennoch, vielleicht auch gerade deswegen, ist es ein gutes Buch. Aber auch: kein sehr gutes.

Goodreads Leser:innen kürten „Tomorrow, tomorrow and tomorrow“ mit deutlichem Abstand zum „Best Fiction“-Buch 2022, eine Verfilmung ist in Arbeit und das ist auch nachvollziehbar. Zevin schafft hier eine spannende Coming-of-Age Geschichte zwischen Freundschaft und Liebe und mit ganz viel 90er- und 00er-Jahre-Zeitgeist. Die Storyline kurz zusammengefasst: Sam und Sadie lernen sich in einem Krankenhaus in Los Angeles kennen, sie als Begleitung ihrer krebskranken Schwester, er nach einem Autounfall, gemeinsam zocken sie Super Mario, Tag für Tag, bevor ein Streit sie für Jahre trennt. In Boston treffen sie sich wieder, zufällig in der U-Bahn, sie steckt ihm ein von ihr programmiertes Videospiel in die Hand – und ein paar Seiten später entwickeln sie gemeinsam ein neues Spiel.

Es gibt viele Rückblenden, es gibt Blicke in die Zukunft, Interviews mit Sam und Sadie als Erwachsene, zurückblickend auf ihre Videospiele, die zu großen Erfolgen wurden. Manche Episoden werden aus Sadies, manche aus Sams Sicht erzählt, Teile auch aus der von Sams Mitbewohner Marx, eine Figur, die vermutlich am besten das Prädikat „Most wholesome character“ des Jahres verdient, wenn wir schon bei Preisen sind. Spannend ist dabei weniger die Not-Love-Story der Hauptfiguren, eher, wie sie selbst die jeweiligen Lebenssituationen beurteilen, bewerten, sich einander oft misstrauen und dabei selbst um ein schöneres, gemeinsameres Leben bringen. Egal ob als Paar oder Freunde.

Dass all dem der literarische Aufbau einer Tragödie innewohnt, macht schon der an Shakespeare angelehnte Titel deutlich, ein Teil eines Macbeth-Zitats. „Morgen, morgen und wieder morgen“ ist gut durchdacht, famos aufgebaut, spannend und toll zu lesen – als einziger Wermutstropfen bleibt der oft fehlende Sympathiewert der Hauptfiguren. Sam und Sadie bleiben nicht nur sich, sondern auch mir als Leser oft fremder als manche der charmanten Nebenfiguren, quälen sich zu sehr mit Sachen, die ihnen bewusst nicht gut tun (Sam: sein seit dem Unfall zerstörter Fuß, Sadie: ihr Dozent und zeitweiliger Lebenspartner Dov) und als Leser steht man eher hilflos daneben, während sie in einen Gumba nach dem anderen rennen statt einfach darauf oder drüber zu springen. Kleine Super-Mario-Referenz für Sam und Sadie.

Und dennoch: Gabrielle Zevins Buch ist ein gutes, spannendes und auf 560 Seiten niemals langweiliges Buch, zumindest, wenn ein gewisses Interesse für Videospiele und deren Produktion vorhanden ist. Eine gute Geschichte, die bloß ein bisschen von dem vermissen lässt, das auch Sam und Sadie fehlt: Liebe.

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Veröffentlicht am 13.12.2022

Wild Wild Myth

Die tausend Verbrechen des Ming Tsu
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Soweit sei er noch nie gekommen, verrät der Ringmeister Ming Tsu. Schon mehrfach habe er sich auf den Weg nach Reno gemacht, doch bis zum Pyramid Lake habe er es nie geschafft. Immer wieder sei er gestorben ...

Soweit sei er noch nie gekommen, verrät der Ringmeister Ming Tsu. Schon mehrfach habe er sich auf den Weg nach Reno gemacht, doch bis zum Pyramid Lake habe er es nie geschafft. Immer wieder sei er gestorben und in einem Hotelzimmer aufgewacht, 1.000 Dollar im Gepäck und Tuberkulose in der Lunge. Dann stirbt er. Erneut. Und Ming Tsu macht sich weiter auf seinen Weg, die Menschen zu töten, die ihm einst sein Leben nahmen, ohne ihn zu ermorden.

„Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ ist ein Rache-Western, aber kein gewöhnlicher. Er verschiebt die Grenzen der Realität – und er zeigt den blanken Rassismus, der schon das Amerika im 19. Jahrhundert prägte. Insbesondere an der Hauptfigur Ming Tsu, von Amerikanern häufig John genannt und als Chinese abgestempelt, obwohl er in den Staaten geboren wurde. Er wuchs als Adoptivsohn eines berüchtigten Geschäftsmanns auf, wurde sein bester Auftragsmörder, heiratete gegen den Willen seiner Schwiegerfamilie eine Amerikanerin – und wurde gewaltsam von ihr getrennt, kurz nachdem sie hinter sein Geheimnis gekommen war. Sein Ziel: seine Frau zurückzubekommen und all jene zu töten, die sich ihrem Glück in den Weg stellten.

Die Leser:innen begleiten Ming Tsu auf seiner Reise von Utah über Nevada nach Kalifornien. Mit dabei: ein blinder Prophet, der weiß, wann Menschen (und Pferde) sterben, wann Gefahr droht und wann sie Wasser finden. Und bald eine illustre Gruppe besonderer Menschen, die der geheimnisvolle Ringmeister um sich geschart hat: darunter ein Gestaltenwandler, ein taubstummer Junge und eine feuerfeste Frau. Immer im Schlepptau: Kopfgeldjäger und Sheriffs, die Ming Tsu an den Kragen wollen.

Tom Lins Western erinnert an eine Mischung aus Tarantino und Twin Peaks und bringt ein ganz neues, eigenes Flair in das eigentlich längst schon verstaubte Western-Genre. Trotz phasenweiser sehr ruhiger Stellen, packt die Geschichte Ming Tsus immer wieder, nicht unbedingt überraschend, aber doch gefällig. Der Showdown selbst fällt dann fast etwas kurz aus, nicht unbedingt unbefriedigend, aber ein paar Seiten mehr hätten ihm vielleicht gutgetan. Und dennoch: „Die tausend Verbrechen des Ming Tsu“ ist eine unterhaltsame, manchmal brutale und immer wieder mysteriöse Geschichte, die zwangsläufig eines nach sich ziehen wird: eine Verfilmung.

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Veröffentlicht am 31.10.2022

Killer Granny

Frau mit Messer
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Ruhestand Mitte 60? Für viele Wunschvorstellung, für Hornclaw undenkbar. Auch wenn sie ihr eigenes Alter spürt, die Tücken ihres Jobs und das spöttisch-mobbende Verhalten eines jungen Kollegen. Aber Hornclaw ...

Ruhestand Mitte 60? Für viele Wunschvorstellung, für Hornclaw undenkbar. Auch wenn sie ihr eigenes Alter spürt, die Tücken ihres Jobs und das spöttisch-mobbende Verhalten eines jungen Kollegen. Aber Hornclaw ist auch nicht Lehrerin, nicht Ärztin oder Juristin – sie ist Auftragsmörderin. Oder wie sie es nennt: Schädlingsbekämpferin. Eine gute, die noch nicht bereit ist loszulassen. Bis sich alles überschlägt – und dann fast schon etwas zu schnell vorbei ist.

„Frau mit Messer“ startet behutsam und ruhig mit einem Mord. Klingt auf den ersten Blick merkwürdig, aber alles geschieht ganz ruhig in einer U-Bahn. Das Opfer, ein übergriffiger, misogyner Mann, hat es verdient und es ist erst einmal ganz egal, warum er es wirklich verdient hat und wer den Auftrag gegeben hat. Stück für Stück wird Hornclaws Job, ihre Agentur und ihr beruflicher Werdegang enthüllt. Sie lernt die Familie des neuen Agentur-Arztes kennen und zeigt ihre weiche Seite, die ihr zum Verhängnis zu werden scheint. Und dann ist da noch der junge Kollege, der Hornclaw auf dem Kieker hat.

Byeong-mo Gu legt hier einen Rachethriller der anderen Form vor. Der Nervenkitzel ist eher unterschwellig-empathisch, bezogen auf die Gefühle der Hauptfigur. Es überwiegt eine Art innere Ohnmacht, das eigene Alter (an) zu erkennen und loszulassen, ohne zu wissen, was folgen wird. An mancher Stelle ist das zu bedächtig, zu langatmig fast, an anderen genau richtig. Etwas schade: Der Höhepunkt, auf den die Autorin hinarbeitet, ist sehr schnell vorbei. Das passt natürlich, denn „Frau mit Messer“ ist kein Tarantino, aber etwas mehr Tiefe hätte das Ende des Buchs durchaus verdient.

Und dennoch ist „Frau mit Messer“ eine durchaus lesenswerte Reise nach Korea, eine Welt zwischen Alltag und Kriminalität, Altern und Zukunftssorgen, Gentrifizierung und Misogynie. Nicht so auffällig und schon gar nicht so knallig wie sein Cover. Aber passend zur Hauptfigur, die nicht groß auffallen möchte – und dann doch zuschlägt. Nicht schlecht für 65.

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