Sprachlich frein geschliffene Road Novel
REZENSION – Schon mit seinem preisgekrönten Romandebüt „Eine Frage der Höflichkeit“ (2011) schaffte der amerikanische Schriftsteller Amor Towles einen beachtlichen Erfolg, der es ihm erlaubte, zwei Jahre ...
REZENSION – Schon mit seinem preisgekrönten Romandebüt „Eine Frage der Höflichkeit“ (2011) schaffte der amerikanische Schriftsteller Amor Towles einen beachtlichen Erfolg, der es ihm erlaubte, zwei Jahre später seinen Beruf als Investmentbanker nach 20 Jahren aufzugeben, um sich ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen. Sein zweiter Roman „Ein Gentleman in Moskau“ (2016) stand zwei Jahre auf der Bestsellerliste der New York Times und war ein in 30 Sprachen übersetzter, herausragender Weltbestseller, der 2018 auch auf Deutsch übersetzt wurde. Nun erschien im Juli bei Hanser Literaturverlage Amor Towles dritter Roman „Lincoln Highway“.
Wieder ist dem Autor ein ausgezeichneter, unbedingt lesenswerter Roman gelungen ist, der allerdings nicht mit seinem Vorgänger mithalten, vielleicht auch gar nicht verglichen werden sollte. Schilderte der „Gentleman in Moskau“ in ironisch-satirischem Tonfall eine Zeitreise durch vier Jahrzehnte sowjetischer Politik und Geschichte, ähnelt „Lincoln Highway“ einer klassischen amerikanischen Road Novel.
Der von manchem als „Americana“ eingeordnete Roman schildert den amerikanischen Traum von vier jungen, auf sich allein gestellten Amerikanern, trotz schwieriger Ausgangsbedingungen unbeirrt ihren Weg zu gehen, um etwas vom Lebensglück abzubekommen, auch wenn die Fahrt zunächst in die völlig falsche Richtung führt und manche Rück- und Tiefschläge zu überwinden sind: Der 18-jährige Emmett wird vorzeitig aus der Jugendbesserungsanstalt entlassen, um sich nach dem Tod des Vaters in Nebraska um seinen erst achtjährigen Bruder Billy kümmern zu können. Beide vermuten ihre vor Jahren verschwundene Mutter in San Francisco, dem Endpunkt des Lincoln Highway im „goldenen Westen“. Kurz vor Abreise mit Emmetts altem Studebaker tauchen Emmetts Mithäftlinge Duchess und Woolly auf, die die Strafanstalt unerlaubt verlassen haben. Sie wollen allerdings nach New York City an der Ostküste. So beginnt eine zehntägige Odyssee von vier charakterlich völlig unterschiedlichen Jugendlichen.
Auch in seinem neuen Roman trifft Autor Towles sprachlich den perfekt zu seinen unterschiedlichen Protagonisten passenden Stil. Dies ist umso bedeutender, da alle Vier im Wechsel selbst aus ihren jeweils eigenen Jugendjahren sowie über ihre gemeinsamen Erlebnisse während dieser Fahrt erzählen. Dabei versuchen sie, jeweils nach eigenem Vermögen ihre Vergangenheit aufzuarbeiten und ganz persönliche Konsequenzen für ihr zukünftiges Leben zu ziehen. Die Erzählungen dieser unterschiedlichen Charaktere ergeben in Summe ein stimmiges Gesamtbild.
Towles schafft es mit seiner feinfühligen Art zu erzählen, dass man die vier jungen Protagonisten trotz oder vielleicht gerade wegen mancher charakterlicher Schwächen schnell liebgewinnt und sie voll Mitgefühl bei ihrem Streben nach etwas Glück begleitet. Allerdings wirkt dieser auch in Melancholie abdriftende Sprachstil gelegentlich unpassend und unglaubwürdig, passt er doch nicht unbedingt zu Duchess, der, getrieben von Rachegelüsten, sich durch seine Neigung zu brutaler Gewalt von den anderen unterscheidet. So mag „Lincoln Highway“ nicht in allen Punkten das literarische Niveau seines Vorgängers „Gentleman in Moskau“ erreichen. Doch verzichtet man – wie eingangs angemahnt – auf einen direkten Vergleich, ist auch dieser dritte Roman von Amor Towles, allein für sich betrachtet, eine durchaus empfehlenswerte und gefällige Lektüre.