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Veröffentlicht am 23.04.2023

Eine Lektüre, die tief in menschliche Abgründe blicken lässt

Die Insel der Unschuldigen
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Im Jahr 1628 geht die neunjährige Mayken gemeinsam mit ihrem Kindermädchen Imke im holländischen Texel an Bord der "Batavia". Das Ziel der beiden ist die gleichnamige Stadt in Indonesien, wo Maykens Vater ...

Im Jahr 1628 geht die neunjährige Mayken gemeinsam mit ihrem Kindermädchen Imke im holländischen Texel an Bord der "Batavia". Das Ziel der beiden ist die gleichnamige Stadt in Indonesien, wo Maykens Vater lebt, zu dem sie nach dem Tod ihrer Mutter gebracht werden soll. Doch vorher müssen sie eine monatelange Reise überstehen, bei der die Passagiere von Krankheiten heimgesucht werden. Mayken ist sich sicher, dass der unheimliche Bullebak dahintersteckt, ein Monster, auf das sie Jagd machen will.

361 Jahre später wird der neunjährige Gil nach dem Tod seiner Mutter zu seinem Großvater Joss gebracht, der Fischer auf Beacon Island ist, einer kleinen Insel vor der Küste Westaustraliens. Hier leben nur wenige Menschen: Andere Fischer, die Joss allesamt nicht zu mögen scheinen, und Wissenschaftler, die sich für das Wrack der "Batavia" vor der Insel sowie interessieren sowie alles, was sich auf der Insel von den Schiffbrüchigen finden lässt.

Der Roman wird abwechselnd aus der Perspektive von Mayken und Gil erzählt und beginnt jeweils mit ihrem Eintreffen in einer neuen Umgebung: Mayken an Bord der Batavia und Gil auf Beacon Island. Auch wenn die beiden 361 Jahre trennen, so gibt es einige Paralellen zwischen Maykens Erlebnissen im Jahr 1628 und Gils im Jahr 1989: Beide haben viele lange Tage ohne gleichaltrige Spielgefährten vor sich und nutzen ihre Fanatsie, um sich die Zeit zu vertreiben. Dabei üben schaurige Geschichten eine Faszination auf sie aus. Mayken schleicht sich auf die unteren Decks, wo sie verschiedenste Geschichten wie die des Bullebaks aufschnappt, während die Inselbewohner Gil vom Schicksal der Schiffbrüchigen der Batavia erzählen und des Geistes von Little May, der auf der Insel umherstreifen soll.

Die Geschichten bieten den Kindern Ablenkung und Zeitvertreib, während sich ihre eigene Situation zuspitzt. Trotz ihrer kindlichen Unschuld ziehen sie durch ihr Verhalten oder auch nur durch ihre Existenz den Unmut Erwachsener auf sich. Gespannt verfolgte ich ihre Abenteuer. Trotz einiger amüsanter Momente herrscht eine bedrohliche Atmosphäre vor. Das fürchterliche Schicksal von Mayken und der "Batavia" ist durchs Gils Perspektive bekannt, und auch bei ihm baut sich durch das Verhalten der anderen Fischer gegenüber ihm und seinem Großvater eine Drohkulisse auf.

Die Autorin Jess Kidd schafft es, die beiden Handlungsstränge immer wieder auf subtile Weise miteinander zu verweben. Dabei hat sie gelungen historische Fakten mit Fiktion vermischt und daraus eine ergreifenden Geschichte über Verlust, Trauer und Traumata gemacht. Die Lektüre ist keine leichte, sie lässt tief in menschliche Abgründe blicken. Die Schicksale von Mayken und Gil haben mich sehr berührt und den Roman zu einem eindrücklichen Leseerlebnis gemacht, das lange nachklingt.

Veröffentlicht am 15.04.2023

Strukturelle Chancenungleichheit und was man dagegen tun kann

Dinge, die ich am Anfang meiner Karriere gerne gewusst hätte
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Mit ihrem Buch "Dinge, die ich am Anfang meiner Karriere gerne gewusst hätte" richtet sich Mirijam Trunk dem Titel entsprechend an Frauen, die gerade ihre Karriere starten oder sich in den ersten Jahren ...

Mit ihrem Buch "Dinge, die ich am Anfang meiner Karriere gerne gewusst hätte" richtet sich Mirijam Trunk dem Titel entsprechend an Frauen, die gerade ihre Karriere starten oder sich in den ersten Jahren ihrer Berufstätigkeit befinden. Die Autorin selbst hat mit Anfang 30 bereits eine eindrucksvoll Karriere gemacht und ist derzeit Teil der ersten Führungsebene von RTL Deutschland. Sie teilt ihre eigenen Erfahrungen sowie ihre Erkenntnisse aus Interviews mit verschiedensten beruflich erfolgreichen Frauen, klärt auf über strukturelle Chancenungleichheit und gibt praktische Ratschläge, wie man als Frau Hürden überwinden und in der Arbeitswelt erfolgreich sein kann.

Das Buch ist in vier große Abschnitte unterteilt, die sich mit Sprache, Tradition, Netzwerken und Macht beschäftigen. Dabei beschreibt die Autorin, welche systembedingten Hürden Frauen in der Arbeitswelt erwarten und wie von Kindesbeinen an erlernte Verhaltensweisen und Denkmuster einen Einfluss haben. Sie geht dabei sehr offen und ehrlich auf ihre eigenen Erfahrungen ein, ergänzt dieses um die Aussagen ihrer Interviewpartnerinnen und erläutert, was man selbst tun kann, um im Job erfolgreich zu sein und das System aufzubrechen.

Die Autorin vermittelt ihre Ratschläge mit einem klaren Schreibstil, der gut verständlich und nachvollziehbar ist. Sie macht deutlich, dass sie in priviligierten Verhältnissen aufgewachsen ist und ihre Erfahrungen natürlich von denen anderer Frauen unterscheiden. Durch ihre diverse Auswahl der Interviewpartnerinnen gibt sie einen breiteren Blick auf die Themen, dennoch bleibt aus meiner Sicht die Lebensrealität junger weißer Frauen mit Hochschulabschluss im Fokus. Ich selbst habe ein Psychologiestudium abgeschlossen und acht Jahre Berufserfahrung. Viele Punkte lösten bei mir eine hohe Resonanz aus, durch mein Studium kannte ich aber auch schon viele der erläuterten Konzepte.

Es ist wünschenwert, dass alle Personen unabhängig von Geschlecht und Alter ein besseres Verständnis für die angesprochenen Themen aufbauen, weshalb ich dem Buch eine diverse Leserschaft wünsche. Denn Chancengleichheit kann nur erreicht und Diskriminierung vermieden werden, wenn sich alle für strukturellen Wandel einsetzen.

Veröffentlicht am 25.03.2023

Ein Jahr mit dem Bulli entlang der Küsten Europas

Immer am Meer entlang
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Josi ist Polizistin und hat seit ihrer Kindheit einen großen Traum: Ein Jahr lang mit einem Bulli durch Europa zu fahren, immer am Meer entlang. Die Route ist seit Jahren vorbereitet. Als sie zu ihrem ...

Josi ist Polizistin und hat seit ihrer Kindheit einen großen Traum: Ein Jahr lang mit einem Bulli durch Europa zu fahren, immer am Meer entlang. Die Route ist seit Jahren vorbereitet. Als sie zu ihrem dreißigsten Geburtstag von ihrer Familie damit überrascht wird, dass die Reparatur ihres Bullis abgeschlossen ist und sie einiges an Budget für die Reise erhält, steht der Umsetzung plötzlich nichts mehr im Wege. Zur selben Zeit macht sich auch der Architekt Paul auf den Weg, der sich nach einem Reisevortrag kurzerhand einen Land Cruiser gekauft und seinen Job gekündigt hat. Die erste Begegnung der beiden in Frankreich steht unter keinem guten Stern. Doch auch danach treffen sich die beiden, welche sich bewusst für einen Solotrip entschieden haben, immer wieder. Kann daraus doch noch eine Freundschaft oder sogar mehr entstehen?

Schon das Cover des Romans weckt bei mir Meerweh und ich freute mich darauf, mit Josi und Paul die Küsten Europas zu erkunden. Der Roman ist abwechselnd aus den Perspektiven der beiden geschrieben und ich lernte die beiden kurz vor dem Antritt ihrer jeweiligen Reise kennen. Sie sind charakterlich ganz verschieden: Josi ist ein absoluter Planungsmensch, sie ist tough und unabhängig, hat aber dennoch ihre verletzlichen Seiten. Paul hingegen setzt auf Spontaneität, er erfindet sich auf der Reise neu und entdeckt seine Leidenschaft fürs Reisen.

Als Leserin folgte ich den Erlebnissen der beiden auf ihren Reisen entlang der Küsten Europas und entdeckte gemeinsam mit ihnen versteckte Buchten, malerische Orte und einsame Strände. Besonders schön ist die Entwicklung der Beziehung zwischen Josi und Paul, die sich immer wieder begegnen. Aus ihrer anfänglichen Skepsis gegenüber des jeweils anderen wird allmählich Wertschätzung. Beide hadern damit, sich über ihre Gefühle klar zu werden. Wollen sie eine Freundschaft zulassen oder sind sie eigentlich interessiert an mehr? Da Josi fest entschlossen ist, die Reise allein durchzuziehen, und Paul eine Trennung verarbeitet, ist Gefühlchaos vorprogrammiert und ich war gespannt, ob die beiden zueinander finden.

Insgesamt ist "Immer am Meer entlang" ein Buch, das Lust macht, die Koffer zu packen und die Welt zu erkunden. Josi und Paul erleben eine Reise voller Abenteuer, Entdeckungen und unterwarteter Begegnungen. Ein empfehlenswerter Roman für alle Meersüchtigen, die sich vom Fernweh packen lassen wollen.

Veröffentlicht am 25.03.2023

Die Frankfurter Poetikvorlesungen von Judith Hermann

Wir hätten uns alles gesagt
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Im Sommersemester 2022 hat Judith Hermann die Gastprofessur für Poetik an der Goethe-Universität in Frankfurt übernommen und in diesem Rahmen an drei Abenden die sogenannten Frankfurter Poetikvorlesungen ...

Im Sommersemester 2022 hat Judith Hermann die Gastprofessur für Poetik an der Goethe-Universität in Frankfurt übernommen und in diesem Rahmen an drei Abenden die sogenannten Frankfurter Poetikvorlesungen gehalten. Diese sind nun in "Wir hätten uns alles gesagt" in gedruckter Form erschienen.

Zu Beginn des ersten Abschnitts schildert Hermann, wie sie zwei Jahre nach dem Ende ihrer Psychoanalyse zum ersten Mal ihren Psychoanalytiker außerhalb seiner Praxis in einem Späti in Berlin getroffen hat. Diese Begegnung lässt sie an die Entstehung der Erzählung "Träume" zurückdenken. Sie beschreibt, wie diese Erzählung durch Hinzufügen und Weglassen aus ihrer tatsächlichen Erfahrung entstanden ist. Letztendlich gebe sie ihre Erlebnisse an eine Figur "die ist, wie ich immer sein wollte, niemals war oder sein werde" (S.17).

Im weiteren Verlauf erhielt ich vielfältige Einblicke in Erlebnisse und Personen, die Judith Hermanns Schreiben geprägt haben. Dabei stellt sie fest: "Ich verhöre mich selbst." (S.98) Die Schilderung ihrer Erinnerungen und die Reflektion, was sie geprägt hat, nimmt viel Raum ein. Ich erfuhr aber auch mehr über die Entstehung diverser Erzählungen, zum Beispiel auch die ihrer ersten Erzählung "Rote Korallen", welche sie mit fünfundzwanzig während eines Aufenthaltsstipendiums für Autoren im Haus von Günther Grass in Wewelsfleth schrieb.

Besonders interessant fand ich ihre Überlegungen zum Thema Streichungen. Sie beschreibt, wie jede sie Erzählung von Fassung zu Fassung verändert, Dinge herausnimmt "und das, was in der letzten Fassung unwiederbringlich verloren ist, ist das, wofür ich die Geschichte geschrieben habe." (S. 127) Außerdem setzt sie sich damit auseinander, welche Erlebnisse zur Inspiration für Erzählungen geworden sind und welche nicht und was diese voneinander unterscheidet. Dabei schlussfolgert sie: "[Mir fällt] auf, dass ich hier beinahe ausschließlich über die Geschichten schreibe, die ich nicht schreiben werde oder nicht geschrieben habe, das ist der Aufgabe diametral entgegengesetzt, und es ist trotzdem, oder gerade deshalb, der Versuch einer Antwort." (S. 146)

Judith Hermanns Eintauchen in ihre Erinnerungen und ihre Überlegungen zum Schreiben konnte ich mühelos folgen und die Schlussfolgerungen, die sie aus dieser Reflektion zieht, fand ich nachvollziehbar. Ich empfehle, sich vor diesem Buch mit dem Erzählton der Autorin auseinanderzusetzen und mindestens ein anderes Werk von ihr zu lesen, um besser an die Ausführungen anknüpfen zu können. Sehr gerne empfehle ich das Buch an alle weiter, die sich intensiv mit der Autorin Judith Hermann und den Hintergründen ihres Werks auseinandersetzen möchten.

Veröffentlicht am 25.03.2023

Eine warmherzige Feelgood-Lektüre

Leonard und Paul
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Leonard und Paul beide sind in ihren Dreißigern, Single und nie zu Hause ausgezogen. Die beiden sind beste Freunde und führen ein ruhiges Leben: Während Leonard als Ghostwriter für Kinder-Sachbücher arbeitet, ...

Leonard und Paul beide sind in ihren Dreißigern, Single und nie zu Hause ausgezogen. Die beiden sind beste Freunde und führen ein ruhiges Leben: Während Leonard als Ghostwriter für Kinder-Sachbücher arbeitet, trägt Paul montags als Aushilfe die Post aus. Mehrmals in der Woche treffen sie sich zum Spieleabend. Doch dann stirbt Leonards Mutter und er lebt plötzlich allein. Bei Paul hat der Entschluss, an einem Wettbewerb teilzunehmen, überraschende Konsequenzen. Beide müssen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie viel Veränderung sie in ihr Leben lassen möchten.

Das Buch beginnt an dem Tag der Beerdigung von Leonards Mutter, nach welcher dieser abends beschließt, wie so oft seinen besten und einzigen Freund Paul zu besuchen. Die beiden sind stille und zurückhaltende Menschen, welche gern Spieleabende miteinander verbringen und sich von ihrem Alltag erzählen. Leonard hat als Ghostwriter kein Problem damit, dass die Ehre für seine Texte den studierten Herausgebern zukommt, deren Name auf dem Buchumschlag steht. Er freut sich, wenn er mit seiner Arbeit Kinder begeistern kann und die Texte ein wenig aufregender sind als von seinen Auftraggebern beabsichtigt. Paul trägt montags die Post aus, wenn ein Briefträger krank ist, und begleitet seine Mutter bei ehrenamtlichen Besuchen im Krankenhaus. In den Augen seiner Schwester Grace, die gerade ihre Hochzeit plant, fehlt ihm der Antrieb, um endlich etwas aus sich zu machen. Sie findet, dass sein Leben im Elternhaus ihre Eltern davon abhält, endlich ihren Ruhestand zu genießen und eine große Reise anzutreten.

Die Charaktere von Leonard und Paul sind fein ausgearbeitet und die Geschichte zog mich mit ihren ruhigen Tönen und dem Blick für die Schönheit der kleinen Dinge schnell in den Bann. Ich erhielt Einblicke in den Alltag der beiden Protagonisten und lernte ihre Persönlichkeiten kennen, die wie im Klappentext angekündigt von Freundlichkeit, Bescheidenheit und Sanftmut gekennzeichnet sind. Schließlich erhalten beide Männer neue Impulse von außen, durch welche sich neue Chancen bieten und Veränderungen ausgelöst werden.

Die Geschichte zeigt, wie wichtig, aber gleichzeitig herausfordernd es ist, etwas auszuprobieren und neue Wege zu beschreiten. Gleichzeitig ist es eine Erinnerung daran, dass das Leben nicht immer hektisch und laut sein muss, sondern bewusst und mit Bedacht gelebt werden sollte. Der Autor schafft es, seine Protagonisten auf eine einfühlsame Art und Weise darzustellen und den Leser:innen ihre Welt zu öffnen. "Leonard und Paul" ist ein leiser und gleichzeitig eindrücklicher Roman, eine absolute Feelgood-Lektüre, die ich wirklich gerne gelesen habe und daher klar weiterempfehlen kann.