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Veröffentlicht am 29.07.2024

Spätes Auflodern

Verbrannte Gnade
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Ein Krimi über einen Feuerteufel – und der Funke springt erstmal nicht über. Was eigentlich schade ist, denn seine Hauptfigur, Schwester Melody, ist großartig gezeichnet. Leider schafft Margot Douaihy ...

Ein Krimi über einen Feuerteufel – und der Funke springt erstmal nicht über. Was eigentlich schade ist, denn seine Hauptfigur, Schwester Melody, ist großartig gezeichnet. Leider schafft Margot Douaihy es trotz aller Bemühen nicht, New Orleans als Kulisse aufzubauen. Macht aber nichts, denn hinten raus wird das Buch spannend und macht Lust auf mehr.

Ein Feuer bricht an der Saint Sebastian Klosterschule aus, Hausmeister Jack stürzt tot aus einem Fenster, zwei Schüler werden in letzter Sekunde von Schwester Holiday lebensgefährlich verletzt aus dem brennenden Gebäude gerettet. Während die Nonne selbst unter Verdacht gerät, macht sie sich auf die Suche nach den Schuldigen. Und auf ihrer Verdachtsliste stehen so manche Personen – von einer missmutigen Nonne über eine Physiklehrerin bis zu einem Krawallschüler. Aber so richtig scheint nichts zu passen, während Sachen aus ihrem eigenen Fundus verschwinden und in der Nähe weiterer Tatort auftauchen.

Ich bin kein ausgemachter Krimileser, daher fehlt mir ein bisschen der Quervergleich zu verwandten Büchern. Aber der Fall ist durchaus spannend, manchmal scheinen ein paar Logiklöcher eher mühevoll gestopft zu sein und mein erster Täterverdacht sollte sich als richtig erweisen. Dennoch ist es ein Buch mit zwei Geschichten, denn neben des Kriminalfalls geht es vor allem um Holiday Walsh, frühere Punkrock-Sängerin, die ihre Tattoos im Klosterleben abdecken und ihre Vergangenheit verstecken muss. Immer mehr Details werden verraten, von ihrer großen Liebe Nina, von ihrer Familientragödie. Und tatsächlich macht es sehr viel Freude (und auch Leid), in Holidays Leben einzutauchen und mehr über ihren Weg von New Yorker Konzertbühnen in das Kloster in The Big Easy zu erfahren.

Der Einstieg ist dennoch etwas zäh, die am Anfang recht langen Kapitel – am Ende erhöht sich die Schlagzahl deutlich, die Abschnitte sind oft nur noch wenige Seiten lang – machten mir den Beginn, trotz des ersten Feuers auf den ersten Seiten, etwas mühevoll. Fast klischeemäßig beschreibt Douaihy die Schwüle von New Orleans, den Jazz, alles irgendwie zu bekannt und ohne, dass ich persönlich in die Welt Nahe des Missisippi-Deltas hineingezogen wurde.

Aber die Stärken des Buch sind andere, vor allem die Figuren, die noch viel Potenzial für die Folgebände bieten. Vom zweiten Hausmeister Bernand über die Antagonistin und potenzielle neue Love Interest in Form der Physiklehrerin Rosemary Flynn, den Geschichtslehrer John mit seiner an ALS-erkrankten Frau, den Ermittlern und natürlich die Mitschwestern im Kloster Saint Sebastian. Und nein, nicht alles ist perfekt, vielleicht fehlt an manchen Stellen auch die Tiefe, aber irgendwann, nach so 100, vielleicht 150 der etwas über 350 Seiten, wird „Verbrannte Gnade“ zu einem durchaus charmanten, sehr lesenswerten Pageturner.

Auch wenn ich es am Anfang nicht erwartet hätte, ein sehr lesenswerter Krimi mit einem brandheißen Fall, einer tollen Hauptfigur und spannenden Nebencharaketeren und ein guter Einstieg in eine neue Serie. Und falls das jemand befürchtet oder erhofft: Nein, das Buch ist kein Stück blasphemisch. Trotz Punkrock und Queerness. Oder vielleicht sogar genau deswegen.

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Veröffentlicht am 15.11.2023

Die liebe Verwandtschaft

Flitz und Fluse - Gespenster-Training leicht gemacht
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Eigentlich geht’s Familie Grausewitz blendend. Sie sind in neues altes Haus gezogen, das herrlich vermodert ist, ein kleines Geschwistergespenst ist im Anmarsch – aber leider auch Tante Twister aus dem ...

Eigentlich geht’s Familie Grausewitz blendend. Sie sind in neues altes Haus gezogen, das herrlich vermodert ist, ein kleines Geschwistergespenst ist im Anmarsch – aber leider auch Tante Twister aus dem fernen England. Sie möchte prüfen, ob die Kinder Flitz und Fluse echte Mac oh Schrecks sind – oder doch nach dem Vater kommen, in den Augen der Tante ein Waschlappen. Doch die Grausewitze bereiten sich gut auf den Besuch der alten Dame vor.

„Flitz und Fluse – Gespenster-Training leicht gemacht“ zielt auf eine ganz alltägliche Gruselgeschichte ab: Besuche der lieben Verwandtschaft. Für viele ein größerer Horror als Spinnen, Werwölfe oder eben Geister. Und da passt es ganz gut im Bild, dass der angekündigte Tantenbesuch Schweißperlen auf den Laken erkennen lässt, besonders beim Vater der Gespensterfamilie, der tatsächlich – wie alle vier Grausewitz-Geister – ein friedliebender und freundlicher Geist ist. Doch zusammen mit Onkel Polter bekommen Flitz und Fluse alle Tricks beigebracht, um Tante Twister einen gehörigen Schrecken einzujagen – und am Ende hilft ihnen der Mut, den nur Kinder haben und der auch anderen – echten – Kindern Mut macht.

Das kleine Gruselbuch von Annette Moser ist eine schöne Vorlesegeschichte für Kinder ab 4 Jahren mit tollen Illustrationen von Alex Peter. Einige Ideen sind besonders witzig, darunter Onkel Polters Wohnort – eine Hüpfburg. Und auch die Erkenntnis, wovor sich Gespenster (neben Besuchen der Verwandtschaft) so richtig gruseln, ist sehr charmant.

Negativ fällt dagegen das Bodyshaming in Bezug auf Onkel Polter und Papa Grausewitz auf – Dinge, die schon bei Gespenstern nicht ins Gewicht fallen, sollten Kindern nicht als Floh ins Ohr gesetzt werden. Das ist bedauerlich und macht den Lesespaß etwas kaputt, da es nicht nur an einer Stelle des Buchs vorkommt.

Alles in allem dennoch ein vergnügliches, manchmal etwas zu klamaukiges Vorlesebuch für die dunkle Jahreszeit, in der alles ein wenig gespenstischer wirkt und spätestens zu Weihnachten Besuche von Onkels und Tanten drohen.

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Veröffentlicht am 01.09.2023

Toxic

Cleopatra und Frankenstein
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Eigentlich muss eine Rezension von „Cleopatra und Frankenstein“ mit Trigger-Warnungen starten. Vielen Trigger-Warnungen: Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Depression, Suizid, Machtmissbrauch, toxischer ...

Eigentlich muss eine Rezension von „Cleopatra und Frankenstein“ mit Trigger-Warnungen starten. Vielen Trigger-Warnungen: Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Depression, Suizid, Machtmissbrauch, toxischer Beziehung, toxischen Freundschaften, Demenz, Tod und vermutlich noch ein paar. Wer damit klar kommt, dürfte an Coco Mellors Debütroman Spaß haben. Oder sagen wir lieber: „Spaß“.

Cleo trifft Frank in einer Silvesternacht. Ein halbes Jahr später heiraten sie. Nicht für ihr Visum, wie Freunde lästern, aus Liebe, auch wenn sie ein ungleiches Paar mit zwanzig Jahren Altersabstand sind. Sie Künstlerin, er Agenturchef. Im New Yorker Freundeskreis gibt es Überschneidungen, im Rauschmittelkonsum auch, aber schnell nutzt sich die rosarote Brille ab. Sie rutscht zurück in ihre Depression, er in den Alkoholismus, ein Drama reiht sich ans nächste, bis es zu einer Katastrophe kommt.

„Cleopatra und Frankenstein“ ist so eine Art Anti-Friends oder -How I met your Mother. Die Figuren tun sich alle nicht gut, sind egoistisch, egozentrisch, unsympathisch, süchtig und selbstzerstörerisch. Fast ohne Ausnahme. Dennoch entwickelt die Geschichte ihren ganz eigenen Reiz, die das Buch zu einem – wie es auf dem Klappentext steht – echten Pageturner machen. Coco Mellors stellt in rasanter Geschwindigkeit die Figuren vor, ihre kleinen und großen persönlichen Dramen, führt plötzlich noch einmal, nach mehr als der Hälfte des Buchs, noch einmal eine neue, nicht ganz unwichtige Figur in einem komplett neuen Schreibstil ein, lässt eine andere, relevant eingeführte so fallen, wie die Figur eine der beiden Hauptpersonen. Das ist eigen, eigenartig vielleicht auch, aber auch ein gewisses Vergnügen.

Der Roman wird in einem Atemzug mit Sally Rooney genannt, ist dabei aber deutlich schneller, amerikanischer, lauter. Kann man mögen, kann man doof finden, muss jeder für sich selbst entscheiden. Auf fast jeder Seite werden Alkohol und/oder Drogen konsumiert, wer damit nicht klar kommt, wird an diesem Buch kein Lesevergnügen finden. Das ist alles sehr belastend, fast fragwürdig, findet im Ende des Buchs aber einen passenden Abschluss.

Eines lässt sich auch ohne Spoiler verraten, ja, eh ahnen: Dieser Roman, diese Figuren werden kein happy end finden können. Aber ein happiest possible ending. Der Weg dahin ist aufregend, nervenaufreibend, anstrengend. Aber auch unterhaltsam und stark geschrieben. Und das macht „Cleopatra und Frankenstein“ zu einem der interessanteren Bücher 2023.

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Veröffentlicht am 04.05.2023

(Vielleicht zu) Wholesome

Die Tage in der Buchhandlung Morisaki
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„Das Leben ist lang. Zwischendurch muss man auch mal innehalten, Pause machen. Du ankerst hier nur ein Weilchen, und wenn du dich wieder erholt hast, stichst du wieder in See.“

Eigentlich sind in „Die ...

„Das Leben ist lang. Zwischendurch muss man auch mal innehalten, Pause machen. Du ankerst hier nur ein Weilchen, und wenn du dich wieder erholt hast, stichst du wieder in See.“

Eigentlich sind in „Die Tage in der Buchhandlung Morisaki“ gleich zwei Geschichten versteckt. Die erste handelt von Takako, deren Leben aus den Fugen gerät, als ihr Freund sich verlobt – aber nicht mit ihr. Sie kündigt, zieht sich zurück, bis ihr Onkel anbietet, über seinem Antiquariat zu wohnen. Der Buchhandlung Morisaki. Die zweite Novelle schließt anderthalb Jahre später an, lässt sich aber wenig beschreiben, ohne zu spoilern.

Satoshi Yagisawas Erzählungen sind, in einem Wort beschrieben, wholesome. Die Figuren erleben traurige Momente und schaffen es, mit der Hilfe anderer und etwas Zeit für sich, ihr Leben in eine positive Bahn zu lenken. Beide Novellen lassen sich in einem Rutsch durchlesen, die perfekte Lektüre also für eine längere Bahnfahrt, einen Abend auf dem Balkon oder eingemümmelt mit Tee unter einer Sofadecke. Aber!

Mir persönlich war das manchmal etwas zu flach. Zu gut, zu nett, zu schön, zu lieb, zu, ja, wholesome. Nicht, dass ich Feel-Good-Storys nicht mag, aber dennoch verschenkt der Autor hier das Potenzial, das er gelegentlich aufblitzen lässt, wenn er die Protagonistin durch Klassiker der japanischen Frühmoderne blättern lässt. Vielleicht sind hier ein paar Anspielungen versteckt, die europäische Leser:innen nicht ganz greifen können, wenn sie diese Romane kennen. Aber hier hätte ich, besonders im ersten Teil, gerne mehr erfahren, mehr gelesen, denn asiatische Romane schaffen es häufig, unbekannte Welten zu öffnen, neues aus fremden Kulturen zu lernen.

Gelegentlich klappt dies sehr gut, wenn zum Beispiel Takaros Onkel das Viertel Jimbōchō ganz liebevoll beschreibt und sie sich irgendwann doch entschließt, aus ihrem Zimmer heraus die Welt neu zu entdecken, ins Café zu gehen und andere Antiquariate zu durchstöbern. Wenn es im zweiten Teil des Buches hinaus geht aus der Stadt, in die Berge, in einen Schrein. Doch leider sind diese Momente ein bisschen zu rar gesät, genau wie der Tiefgang der Geschichten. Ja, da sind Dramen in beiden Teilen, doch durch die Erzählweise sind diese nicht so emotional, wie sie sein könnten, vielleicht auch müssten.

Das macht „Die Tage in der Buchhandlung Morisaki“ zu keinem schlechten Buch, im Gegenteil. Aber auch zu einem Doppelroman, der mehr hätte sein können. Aber vermutlich muss das auch nicht immer sein. Schließlich fühlt man sich nach der Lektüre weniger betrogen oder um etwas gebracht, sondern eigentlich ausnahmslos … gut.

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Veröffentlicht am 03.04.2023

Fast verkitschte Naturentspannung

Kleine und große Wunder der Natur
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Meditativ oder esoterisch? Das ist ja eh ein schmaler Grat, wobei geneigte Leser:innen hier eher an Apps oder YouTube Tutorials denken und weniger an Kinderbücher. Aber: Bei „Kleine und große Wunder der ...

Meditativ oder esoterisch? Das ist ja eh ein schmaler Grat, wobei geneigte Leser:innen hier eher an Apps oder YouTube Tutorials denken und weniger an Kinderbücher. Aber: Bei „Kleine und große Wunder der Natur“ ist man hier gar nicht so weit weg. Ein entspanntes Vorlesevergnügen, das gelegentlich droht, ins Kitschige abzurutschen.

Gabby Dawnay nimmt uns mit in die Wälder, zu Rehen und Hirschkäfern, Bienen und Pilzen. Sie beschreibt in einfachen Worten, mit welchen Phänomen die Natur begeistert, wie Bäume miteinander interagieren oder was die Photosynthese ist. Ziemlich anschaulich, schon für kleine Kinder ab 4 Jahren, und wunderschön von Mona K illustriert.

Dawnay selbst bezeichnet sich auf ihrer Instagram Seite als Poetin (nicht direkt, sie beschreibt sich zunächst als Kinderbuchautorin und Kritzelerin und, recht sympathisch, als Bummlerin und Prokrastinateurin). Und ja, poetisch sind ihre Texte, aber, so ist das eben mit der Poesie – sie ist oft nah am Kitsch gebaut. Daher ist „Kleine und große Wunder der Natur“ kein Kinderbuch für jede:n. Man muss sich darauf einlassen, dass es plötzlich zu solchen Gedanken und Liedern wie hier bei Motte und Mond kommt:

„O Mond, lieber Mond, mit so lieblichem Schein, ich möchte verliebt sein und nicht länger allein. Aber wie soll das nur gehen? Stumm und klein, wie ich bin. Ohne Stimme zum Rufen … Wo flieg ich nur hin?“

Puh? Ja schon, ein bisschen. Ein bisschen schön aber auch. Und, jetzt sind wir wieder am Anfang: auch schön entspannend. Dawnay schreibt keine aufregenden, mitreißenden Geschichten über die Faszination Natur, sondern entspannte kleine Episoden, die die Fantasie anregen und gleichzeitig alles ein bisschen runterfahren. Ein Kinderbuch als Meditation vor dem Schlafgehen, eine kleine Traumreise durch das Leben eines Hirschkäfers oder den Pollensammeltag der Biene und dann eine gute Nacht und süße Träume von der Natur.

Ist so schlecht nicht und sieht dabei fantastisch aus. Auch dank der Haptik des Hardcovers mit Goldprint, der schönen Farben und der schon genannten Illustrationen. Und ein bisschen lehrreich ist es auch, denn jedes Kapitel schließt mit einer kleinen Zusammenfassung, einer Art Übersichtsblatt, deutlich sachlicher. Sollte man vor dem Schlafen nicht mehr vorlesen, das wirkt dann wie ein Werbespot nach der YouTube Traumreise - ein Rausreißer aus der Ruhe danach. Und die Eingangsfrage? Immer noch ein schmaler Grat – aber vermutlich ist das Buch eher meditativ. Entscheiden müsst ihr das selbst.

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