Eine Odyssee durch das Los Angeles des Jahres 1965
„Wie in Selma!“ rufen die Demonstranten 1965 im Stadtteil Watts. Das Getto in Los Angeles fängt metaphorisch und tatsächlich Feuer, als durch die öffentliche, brutale Verhaftung von zwei schwarzen Jugendlichen ...
„Wie in Selma!“ rufen die Demonstranten 1965 im Stadtteil Watts. Das Getto in Los Angeles fängt metaphorisch und tatsächlich Feuer, als durch die öffentliche, brutale Verhaftung von zwei schwarzen Jugendlichen und die Mutter des einen eine Kette von Ereignissen ins Rollen gebracht wird, die die stete Spannung den Frust der Diskriminierten zum Überlaufen bringt. Über mehrere Tage hinweg bestimmen die Unruhen und Kämpfe zwischen schwarzen Anwohnern und weißen Polizisten das Leben in diesem Gebiet L.A.s. Mittendrin befindet sich Monk. Er ist ein selbsternannter Semiologe und wandert durch die Stadt auf der Suche nach neuen Graffitis und Tags, die Auskunft geben über Bandengebiete, Gesellschaftskritik üben oder einfach nur ästhetisch schön sind. All das notiert er in seinem Notizbuch, welches so zu einer inoffiziellen Landkarte des aktuell umkämpften Gebiets wird. Während Monk immer wieder von seinem Weg zurück nachhause abgebracht wird, wartet dort seine schwangere Partnerin auf ihn und bangt um dessen Sicherheit in einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint.
A. G. Lombardo schafft in seinem Roman „Graffiti Palast“ etwas ganz Außergewöhnliches. Er vermischt die aufgeheizte Stimmung in den schwarzen Communities der 1960er Jahre, anhaltende Polizeigewalt gegenüber Minderheiten, aber auch den Jazz der Straße und der Clubs mit der Geschichte von Odysseus, dem Held der griechischen Mythologie, dessen zehnjährige Irrfahrt auf der Heimreise aus den Trojanischen Kriegen sagenumwoben ist. Monk ist hier unser Odysseus, er versucht zu seiner Penelope heimzukehren, die währenddessen auf einer nicht enden wollenden Hausparty, welche einer Belagerung gleicht, von angeblichen Freunden Monks umworben wird, sich ihren Annäherungsversuchen entziehen muss und sehnlichst auf die sichere Rückkehr des Vaters ihres noch ungeborenen Kindes wartet. Monk in der Zwischenzeit wird von verschiedensten Personengruppen und Verlockungen, abgeschnittene Wege durch die Unruhen und mysteriöse Zufälle von seinem Heim ferngehalten. Mal schnappen ihn sich die militarisierten Fruits of Islam, die Mitglieder der Nation of Islam, um ihn anzuwerben. Mal wird er von der Polizei verhaftet, mal landet er in der Hand der einen Gang mal in der der anderen. So treibt er durch die Stadt, passt sich dem Rhythmus dieser an und passt gleichzeitig irgendwie gar nicht dazu.
Das ist wild und mitunter surreal erzählt. Man hat das Gefühl und Halluzinogenen ein wildes Jazzstück zu hören und mal hierhin und dorthin gezogen zu werden. Das Buch scheint eine unendliche Geschichte und man wähnt schon Monk verloren in den Untiefen von Feuer und Gosse. Währenddessen schafft es jedoch Lombardo gekonnt damals wie heute brandaktuelle Gesellschaftskritik zu üben, fügt knallharte Sätze ein, die die Lebensrealität so vieler Schwarzer damals und heute einfangen. So wundert man sich oft, wie es sein kann, dass diese Welt des Jahres 1965 der Welt des Jahres 2022 so stark ähneln kann. Es werden nicht nur dysfunktionale Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen sondern auch innerhalb der schwarzen Community aufgezeigt. So hebt er die wichtige Rolle der schwarzen Frauen hervor indem er schreibt: „Tausende schwarze Frauen kommen von der Arbeit. Keine Männer – die sind fort, geraubt von Polizei, Drogen, Suff, der Landstraße, Glücksspiel, Zuhälterei, Geliebten, Huren, Billardsalons, oder dem Tod. Die Frauen kehren zurück zu ihren Familien, zu Kindern, die nicht mehr nach Daddy fragen, zu Stille und Leere, die ihre Seelen betäuben und vernichten.“ Ebenso gnadenlos sind die Beobachtungen zu den Mechanismen innerhalb der Polizei während der Unruhen: „Die ganze Nacht ist Jagdsaison, und jeder Abschuss, ob tödlich oder nicht, bedeutet eine Dienstaufsichtsermittlung, die einem ein paar entspannte freie Tage einbringt. […] bis wie immer auf ‚Gefahr im Verzug‘ oder ‚berechtigte Notwehr‘ entschieden wird.“
Und Monk „will doch nur durch die Stadt kommen, unbehelligt von all den Parteien und Interessengruppen, will nur ihre Zeichen studieren und friedlich Wissen über sie ansammeln.“ Stattdessen hängt er fest in immer wieder neuen Verirrungen in dieser endlosen Nacht des Feuers, der Zeichen und der Wunder. Zeit spielt hier keine Rolle mehr, es scheint alles nur eine unendliche Abfolge von Schlaf, Bewusstsein, Traum und Halluzination.
Das ist alles schon grandios gemacht. Man muss aber eine gewisse Toleranz für gefühlt niemals enden wollende Irrfahrten haben, um diesen Roman bis zum Ende interessiert folgen zu können. Zugegebenermaßen fehlte mir manchmal die Geduld mit der Geschichte. Warum sich Monk immer und immer wieder von seinem Weg abbringen lässt, war für mich manchmal kaum auszuhalten. Deshalb erschien mir das Buch während der Lektüre auch einen Tacken zu lang, weshalb ich nicht die volle Punktzahl dafür herausrücke. Trotzdem bleibt dieser ungewöhnliche Roman definitiv eine Leseempfehlung für alle, die sich von den oben genannten Themenbereichen angesprochen fühlen. Das ist ein Roman, wie ich ihn in dieser Form bisher noch nie gelesen habe. Wirklich sehr interessant.
4,5/5 Sterne