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Veröffentlicht am 31.05.2023

Sehr amüsante Schwedomanie

Verrückt nach Schweden
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Die Schwedomanie ist ein Wahninhalt mit dem Charakteristikum der maßlosen Überbewertung des schwedischen Staates und dessen Einwohner.

Mikko würde sich selbst nie als „Schwedomane“ bezeichnen, nein das ...

Die Schwedomanie ist ein Wahninhalt mit dem Charakteristikum der maßlosen Überbewertung des schwedischen Staates und dessen Einwohner.

Mikko würde sich selbst nie als „Schwedomane“ bezeichnen, nein das tun nur die Medien. Seine medizinische Selbstdiagnose lautet „Nationalitätstransvestit“. Er sei im falschen Land geboren und erzogen worden, nämlich Finnland, sei aber eigentlich mit jeder Körperzelle ein Schwede. Ob der Figur Mikko hier selbst und vom Autor gewollt (das liegt nahe) der Fehler unterläuft, sich „Nationalitätstransvestit“ zu nennen, obwohl er doch eigentlich eine „transnationale Person“ ist (denn er wünscht sich nicht nur einen popeligen Umzug sondern eine gänzliche Transformation zum Schweden), oder dies im Rahmen der Übersetzung des Romans eine kleine Abweichung darstellt, sei dahingestellt. Schon seit der Schulzeit und einem Ausflug mit den Eltern nach Schweden weiß Mikko, dass er in dieses Land gehört. Vernarrt in die Sprache und Geschichte des Landes brilliert er schon in der Schule im Schwedischunterricht und zentriert sein ganzes Leben bis ins Erwachsenenalter hinein um das Schwedischsein. Ein Umzug, nur um dann fünf Jahre lang als Finne in Schweden leben zu müssen, würde er nicht verkraften. Es muss eine bessere Lösung her und somit setzt eine Lawine an kuriosen Handlungen und Ereignissen ein...

Um seine Leiden als im falschen Land geborener Mensch zu lindern, geht Mikko, wie wir aus seinen Tagebucheinträgen erfahren, nun recht ungewöhnliche Wege. Er will kein depressiver, trinkender, pöbelnder Finne mehr sein, nein, er möchte ein weltoffener, lebensfroher, sozialdemokratischer Schwede sein und geht dafür über Leichen. Denn der Titel des Romans vom finnischen Autor Miika Nousiainen ist hier wortwörtlich zu verstehen: Mikko ist tatsächlich verrückt. Seine Wahrnehmung läuft vollkommen schief, denn er ist sogar der Meinung, dass der Schnee in Schweden anders fällt als in Finnland:

„In Helsinki hat es geschneit, und ich spüre ganz deutlich, dass hierzulande selbst der Schnee nicht mit dem im Nachbarland mithalten kann. In Schweden segeln die Flocken fröhlicher und freier herab, als würden sie wissen, dass sie auf toleranten Grund und Boden landen. In Finnland trudeln die Flocken geradewegs in die Schwermut. Sie landen auf den Schultern depressiver Menschen, die den Schnee als Störenfried sehen.“

Wie man schon an diesem Textauszug merkt: Der Roman ist reine Satire. Eingebettet in eine groteske Handlung werden alle positiven Stereotype zum Thema Schweden aufgefahren und alle negativen zum Thema Finnland. Es macht so einen unglaublichen Spaß dem total verstrahlten Mikko bei seiner Unternehmung, endlich ein waschechter Schwede zu werden, zu begleiten. Unser Tagebuchschreiber kommt lange Zeit mit seinen Betrügereien durch und man wünscht es ihm auch. So überhöht sein Blick auf Schweden als Land und die Schweden als Volk auch sein mag, mit seinen Bemerkungen lernen die Leser:innen durchaus einiges über die Materie. Vor allem die Politik Schwedens wird beleuchtet. Keine Frage, alles was man hier liest ist zweifellos durch die rosarote Brille eines Verliebten geschildert, und trotzdem enorm wissenswert.

Mit sehr viel Interesse und Spaß an der Sache habe ich diese bitterböse, schräge Komödie um die Anstrengungen des verkappten Schweden Mikko (später Mikael) gelesen und mich dabei köstlich amüsiert. Sie ist unglaublich intelligent geschrieben und gleichzeitig locker leicht zu lesen. Eine pointenreiche, kluge Abwechslung für zwischendurch. Deshalb gibt es nicht nur die volle Punktzahl von mir sondern auch eine klare Leseempfehlung für diesen aus dem Jahre 2007 stammenden Debütroman des finnischen Autors.

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Vom schwierigen Blick in den Rabenkopf

Raben
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Einer der weltweit bedeutendsten Rabenforschern und Leiter des Departments für Verhaltens- und Kognitionsbiologie der Uni Wien, Thomas Bugnyar, hat ein populärwissenschaftliches Sachbuch mit dem wohl eingängigsten ...

Einer der weltweit bedeutendsten Rabenforschern und Leiter des Departments für Verhaltens- und Kognitionsbiologie der Uni Wien, Thomas Bugnyar, hat ein populärwissenschaftliches Sachbuch mit dem wohl eingängigsten aller möglichen Titeln „Raben“ zu ebendiesen intelligenten und sozialen Vögeln vorgelegt.

Natürlich dreht sich in diesem Buch fast alles um die Raben, aber es ist wichtig zu betonen, dass Bugnyar ebenso viel Wert darauf legt, die Vorgehensweise von verhaltens- und kognitionsbiologischer Forschung den Lesenden nahe zu bringen. So beschreibt er ausführlich und verständlich Studiendesigns, die wissenschaftlich valide und reliabel aber gleichermaßen tierfreundlich angelegt sein müssen. Wir erfahren in diesem Buch nicht nur einiges zu den Fähigkeiten der Rabenvögel, sondern eben auch ganz Konkretes aus den Forschungsstationen Haidlhof und Grünau, die größten weltweit.

Somit kann Bugnyar auch aus einem großen Fundus an eigenen Fotos von genau den Raben schöpfen, über die er in seinem Buch berichtet. So wird das soeben im Text Beschriebene durch wunderbare Farbfotos unterstrichen. Viele davon erscheinen eher wie Schnappschüsse aus den Forschungsstationen, inklusive wissenschaftliche Mitarbeiter, wirken dadurch aber umso authentischer.

Eine Eigenart dieses Sachbuches, welche mich zunächst verwunderte, ist die Angewohnheit Bugnyars all seine aktuellen und ehemaligen (Promotions-)Student:innen, Post-Docs usw. namentlich im Fließtext zu benennen. Ich habe es letztlich als eine Hommage für diese wechselnden Teams, ohne die die wissenschaftliche Arbeit in diesem Ausmaß nicht möglich wäre, verstanden. Nur selten erwähnen angesehene Professoren all ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen, viele lassen sie in Monografien gänzlich unter den Tisch fallen und heimsen das Lob dann ganz für sich allein ein. Dass der Autor hier nicht nur alle Helfer:innen nennt, sondern auch Fotos der Teams im Laufe der vergangenen fast 30 Jahre präsentiert, halte ich schlussendlich für äußerst sympathisch.

Der Autor scheint also ähnlich sozial veranlagt zu sein, wie die Raben, die lautstark „Haa!“ schreien, wenn sie eine Futterquelle entdecken und weitere Raben damit zu sich rufen. Viele interessante Anekdoten aber auch knallharte Forschungsergebnisse nimmt man aus der Lektüre von „Raben“ mit. Dass diese Forschung wichtig ist, um den Menschen zu verdeutlichen, dass sie keineswegs die einzigen Lebewesen mit kognitiven und sozialen Fähigkeiten sind, unterstreicht der Autor. Er verdeutlicht, wie wichtig ein respektvoller Umgang mit allen Tieren, nicht nur seinen Favoriten, den Raben, ist.

Das Buch kann ich allen Interessierten ans Herz legen, egal ob sie Vorwissen im Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens haben oder nicht. Und gerade die, die nicht nur fertige Ergebnisse vorgesetzt bekommen, sondern auch einen Blick hinter die Kulissen werfen wollen, können hier nur gewinnen. Für alle, die sich dann weiter belesen wollen hält Bugnyar am Ende des Textes noch Literaturhinweise im Fließtext bereit. Das ist zwar auch etwas ungewöhnlich, da sonst gesondert im Anhang genannt, aber es passt zum „integrativen“ Stil des Buches. „Raben“ ist ein gutes, einfach verständliches „Einstiegsbuch“, so betont der Autor, dass er nicht nur die beiden Säulen der universitären Wissenschaft Forschung und Lehre ernst nimmt, sondern auch die dritte, nämlich die Vermittlung von Information an die interessierte Öffentlichkeit. Ich wünsche ihm eine große Öffentlichkeit für sein Buch und sein Anliegen.

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Eindrückliches Werk über die Unterdrückung der Indigenen Bevölkerung Australiens

Wie rote Erde
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Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook ...

Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook zur Strafinsel gemacht, darauf bildeten sich erste Siedlungen und die australischen Ureinwohner wurden „lediglich“ regional ins Landesinnere verdrängt. Irgendwie bekam Australien immer ein edles Bild in meinem Kopf, mir kam nicht der Gedanke, dass mit den First Nations of Australia genauso umgegangen wurde, wie mit anderen Bevölkerungen kolonisierter Kontinente. Natürlich ein fataler Irrglaube!

Der vorliegende Roman von Tara June Finch, einer Wiradjuri-Autorin, deren Vorfahren - und somit auch sie selbst - zur Indigenen Bevölkerung im zentralen New South Wales gehören, ist diesbezüglich mehr als augenöffnend. Mithilfe von drei Erzählebenen berichtet die Autorin von den Folgen, die eine Kolonialherrschaft auf die 50.000 Jahre alte Zivilisation eines Kontinents und deren wenige verbleibenden Mitglieder hat. So geht es auf der Handlungsebene um August Gondiwindi, welche nach einer zehnjährigen Abwesenheit in Großbritannien aufgrund des Todes ihres Großvaters Albert und dessen anstehender Beerdigung wieder an den Ort ihres Aufwachsens, die Farm „Prosperous House“ in einer fiktiven Region Australiens, zurückkehrt. Das heruntergekommene Anwesen, in dem noch immer ihre Großmutter lebt, wird durch ein Zinnabbauunternehmen gefährdet, denn Aboriginals (der etwas weniger kolonial belastete Begriff für früher sog. „Aborigines“) haben keinen rechtsgültigen Anspruch auf Grund und Boden, wenn sie nicht nachweisen können, dass seit Beginn der europäischen Kolonisierung eine ständige Verbindung zum beanspruchten Gebiet aufrechterhalten wurde, z.B. durch kulturelle Praktiken. Aber es haben in der Vergangenheit die europäischen Siedler „natürlich“ (muss man leider sagen) durch grausame Vorgehensweisen dafür gesorgt, dass die Kultur der Aboriginals fast vollkommen vernichtet wurde. Davon erfahren wir durch die beiden anderen Erzählebenen des Romans, denn Augusts Großvater hat kurz vor seinem Tod an einem Wörterbuch mit Begriffen aus der Sprache seines Volkes gearbeitet. Auszüge dieses Wörterbuchs werden immer wieder abwechselnd zu Kapiteln, in denen es um August geht, in den Text eingestreut. Dabei handelt es sich nicht um reine Übersetzungen, sondern um eine Geschichts- und Anekdotensammlung. Albert hat also nicht nur historische Geschehnisse anhand der zu übersetzenden Wörter festgehalten, sondern auch eigene Erlebnisse aus seinem Leben. So zeigt sich ein zunehmend grausames Bild der Herrschaft über die seit tausenden von Jahren auf dem Kontinent und dazugehörigen Inseln lebenden Menschen. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden systematisch Kinder in Umerziehungslager gesteckt und zu z.B. Haushaltshilfen erzogen, die dann faktisch als Sklaven gehalten werden konnten. Man wähnt einen Lichtblick auf der dritten Erzählebene zu erkennen, auf welcher ein Brief in mehreren Fortsetzungen zitiert wird, der von einem deutschen, protestantischen Missionar 1915 verfasst wurde. Dieser Pastor gründete die Mission, aus der später Prosperous House entstanden ist. Er beschreibt sich selbst als den Indigenen Menschen offen und mildtätig gegenüber; er habe immer nur das Beste für sie gewollt, indem er sie in die Mission aufnahm, vor den Weißen beschützte und ihnen Schulbildung zukommen ließ. Im Verlauf des Buches kommt man allerdings immer mehr ins Zweifeln, ob sein Handeln in letzter Konsequenz nicht auch zur fast vollständigen Auslöschung der Indigenen Sprache und Kulturtechniken geführt hat.

Diese drei Erzählebenen verknüpft die Autorin wirklich unglaublich gekonnt ineinander, sodass der Spannungsbogen um die Geschichte der Gondiwindis immer straffer zum Ende hin zusammengezogen wird. Winch tappt bei ihrem Plot jedoch nie in die Falle des Kitsches. Steilvorlagen, die andere Autor:innen genutzt hätten, um billig die Emotionen der Leserschaft zu locken, umgeht die Autorin gekonnt, weiß durch Wendungen zu überraschen und dabei hoch informativ zu schreiben. Das wirkt niemals belehrend sondern stets eindrücklich wachrüttelnd. Atemlos verfolgt man die Geschichte um die Anerkennung der Indigenen Bevölkerung und deren Zivilisation noch bis in die aktuelle Gegenwart hinein. Dabei hinkt das Land Australien als Teil des Commonwealth der Zeit hinterher, ist es doch das einzige, das bis zum heutigen Tage kein Abkommen mit seinen Indigenen Bevölkerungsgruppen abgeschlossen hat! Stand doch bis vor wenigen Jahrzehnten noch über den Kinderheimen „Denk Weiß. Handle Weiß. Sei Weiß.“ und wurde dafür gesorgt, dass keine Sprache, kein Jagen, keine Zeremonien erhalten wurde, dass Aboriginals mit Didgeridoo in der Hand zum sauberen Werbebildchen für ein Touristenmagnet geworden sind, ohne eine tatsächliche Anerkennung ihrer Kultur zu erleben.

Der Haymon Verlag hat wirklich eine herausragende Arbeit dadurch geleistet, diesen Roman durch eine sehr gute Übersetzung von Juliane Lochner sowie ein erhellendes Glossar im Anhang verständlich zu machen. Eine vollkommene Abrundung erhält das Buch durch das Nachwort der Autorin, die viele historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge nochmals verdeutlicht. Allein eine winzige Kritik muss ich an diesem ansonsten großartigen Buch üben: Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Begriffe, die ganz hinten im Glossar stehen, im Romantext durch kleine hochgestellte Zahlen kenntlich gemacht worden wären. So wusste man nie, welcher Begriff nun im Anhang zu finden sein wird und welcher nicht. Ein Lesen der Erläuterungen direkt während der Romanlektüre finde ich immer als sinnvoller für das Verständnis als ein nachträgliches Lesen. Besonders loben möchte ich jedoch den Verlag für den feinfühligen Umgang mit der Triggerwarnung. Bereits unter dem Klappentext findet man den Hinweis auf Seite 375 (als auf der letzten Seite) befinde sich eine entsprechende Warnung. So hat man als potentielle:r Leser:in die Möglichkeit schon vor der Lektüre sich dessen bewusst zu sein und sich für oder gegen diese zu entscheiden. Schon häufiger habe ich diese Warnungen einfach so auf der letzten Seite vorgefunden, wenn das Kind schon potentiell in den Brunnen gefallen ist und man den Roman bereits zu Ende gelesen hat.

Abschließend kann ich nur kurz und knapp zusammenfassen: Hierbei handelt es sich um ein erhellendes Lesehighlight zum Thema Kolonialismus und dessen Folgen in einer Region der Erde, die bisher diesbezüglich wenig bis gar nicht in Prosaform beleuchtet wurde. Ich kann dieses Buch nur allen Interessierten ans Herz legen. Man wird danach nie mehr dasselbe Bild von Australien haben, aber wer will schon mit einer beschönigten Geschichtsdarstellung leben?

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Verrat und wie man seine Wunden heilt – vielleicht.

Verräterkind
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Zu was für einem Menschen wächst man heran, wenn man sich auf nichts, was einem der eigene Vater erzählt, verlassen kann? Wenn dieser ein notorischer Lügner und Trickser ist, cholerisch, unvorhersehbar, ...

Zu was für einem Menschen wächst man heran, wenn man sich auf nichts, was einem der eigene Vater erzählt, verlassen kann? Wenn dieser ein notorischer Lügner und Trickser ist, cholerisch, unvorhersehbar, manipulativ? Wird man ein Mensch, der sich als Lebensinhalt die Suche nach der Wahrheit auf die Fahnen schreibt?

Man könnte vermuten bei Sorj Chalandon sei dies der Fall gewesen, denn er ist ein hoch angesehener Journalist, Kriegsreporter und Schriftsteller geworden, nachdem er ein Leben lang seinem Vater kein Wort hat sicher glauben können. Der Vater des Autors, so entnehmen wir dem autofiktionalen Roman „Verräterkind“, soll während der deutschen Besatzung in Frankreich auf Seiten der Feinde, der Deutschen, gekämpft haben. So deutet es zumindest der Großvater des Erzählers an, als er dem Jungen an den Kopf wirft, er sei ein „Verräterkind“. Der Vater jedoch erzählt dem jungen Sorj immer wieder, wie er für die Résistance gekämpft und heldenhaft das Vaterland verteidigt habe. Was Wahrheit und was Lüge ist, versucht nun der Ich-Erzähler, gerade während in seiner Heimatstadt Lyon in 1987 der große Prozess gegen Klaus Barbie, der Gestapo-Mann, der in Lyon und Umgebung für schlimmste Gräueltaten verantwortlich war, stattfindet und der Erzähler selbst als Gerichtsreporter von vor Ort berichten soll, herauszufinden.

Von der ersten Seite an nimmt einen die Erzählweise Chalandons gefangen. „Gefangen“ erscheint hier das richtige Wort, denn man ist gefangen in scheußlichen Taten gegen Kinder, Frauen, Männer – Menschen. Entsetzt liest man von einer Massenverschleppung aus einem französischen Kinderheim, welches jüdischen Kindern ein sicherer Ort hätte sein sollen. Ab diesem Punkt des Buches wechselt die Erzählung stets zwischen der Gerichtsverhandlung um Barbie und der ganz persönlichen Wahrheitssuche des Ich-Erzählers bezüglich der Taten seines Vaters hin und her. Ganz meisterhaft verknüpft hier Chalandon zeitlich zwei Prozesse. Einen Gerichtsprozess und einen Prozess der steten Annäherung und wieder Entfernung eines Sohnes von seinem Vater. Anhand von historischen Dokumenten aber auch immer wieder der direkten Konfrontation mit dem eigenen Vater versucht der Erzähler zu verstehen, was der Vater wirklich getan und warum er so gehandelt hat. Auf welcher Seite der Vater wirklich stand und ob er irgendetwas von dem, was der Erzähler von seinem Vater als Kind und noch als Dreißigjähriger gehört hat, glauben kann. Was das mit dem Erzähler macht, wird sprachlich stets auf den Punkt genau in kurzen Vignetten zwischen und auch während der Prozesstage um Klaus Barbie immer wieder eindrücklich verdeutlicht. So wandelt sich innerhalb des Romans der Begriff „Verrat“ und „Verräter“ immer wieder aufs Neue. Ist doch der Vater ein vermeintlicher Verräter, so fühlt es sich für den Sohn so an, als würde er mit seinem „Prozess“ am Vater diesen verraten, aber auch der Sohn fühlt selbst vom Vater verraten.

Dass es sich bei Sorj Chalandon um einen großartigen Schriftsteller handelt, weiß man spätestens seit „Am Tag davor“. Präzise Formulierungen wie „Ich war dabei, die Kriege meines Vaters zu entdecken. Ob falsch oder wahr, das wusste ich nicht mehr, aber ich wollte nicht zum Ende seiner Geschichte gelangen, wie man ein Buch querliest.“ oder „Alles, was du behauptet hattest, war falsch, und alles, was du erzählt hattest, war wahr.“ brennen sich ins Gedächtnis der Leser:innen ebenso ein wie die schrecklichen Zeugenaussagen der Opfer während des Barbie-Prozesses. Vor allem mit der Konstruktion dieses Romans – und daran sieht man, warum ein Roman manchmal die bessere Form für eine Auseinandersetzung mit der eigenen und Familienbiografie sein kann – liefert der Autor ein Meisterstück ab. Diese kluge Dichtung und Verdichtung überzeugt auf allen Ebenen und unterstreicht, dass es sich bei Chalandon nicht nur um einen reinen Reporter sondern auch Romanautor handelt. Und wie schon bei „Am Tag davor“ hält der Autor eine überraschende Wendung am Ende des Romans für uns bereit.

Ich bin durch und durch begeistert von Sorj Chalandon sowohl als Autor als auch von seinem vorliegenden autofiktionalen Roman „Verräterkind“, welches erneut ein absolutes Highlight für mich darstellt. Also lest diesen eindrücklichen Roman um Wahrheit und Lüge, um Annäherung und Abstoßung sowie vielleicht auch um ein wenig Heilung durch den Prozess der Wahrheitssuche.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Spaß beiseite: Die Sache ist ernst!

Es kann nur eine geben
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Die deutschlandweit bekannte Comedienne Carolin Kebekus hat ein Buch geschrieben – zusammen mit Mariella Tripke. Ist das also ein weiteres Buch, welches einfach nur die Comedy von der Bühne zwischen zwei ...

Die deutschlandweit bekannte Comedienne Carolin Kebekus hat ein Buch geschrieben – zusammen mit Mariella Tripke. Ist das also ein weiteres Buch, welches einfach nur die Comedy von der Bühne zwischen zwei Buchdeckel holt, aber eigentlich nichts Neues zu bieten hat? Nein, überhaupt nicht. Denkt man auf den ersten Seiten noch bei der ein oder anderen flapsigen Bemerkung, oh oh, da kommt jetzt viel Klamauk, steht dies in keinster Weise für den Inhalt des gesamten Buches.

Carolin Kebekus beschäftigt sich äußerst breit gefächert und tiefgründig mit dem Thema der Benachteiligung von Frauen in unserer Gesellschaft sowie den Weg zur Chancengleichheit in ebendieser. Dazu beschreibt sie zunächst das Bild von Frauen in der alten sowie der neueren Geschichte. So kann in ersterem Kapitel es um die Darstellung von Frauenfiguren in der Bibel gehen und in zweiterem um Frauen in Film und Fernsehen. Sie erörtert die historisch evozierten Rivalitäten zwischen Frauen und warum u.a. dies sie daran hindert, zusammen doch viel stärker zu sein. Nach einer durchweg quellenbasierten Herleitung inwiefern wir immer noch in einem handfesten Patriarchat leben und Frauenhass an der Tagesordnung ist (siehe Gewalt in Partnerschaften und Femizide), ruft sie zur Frauensolidarität und Lösungen, ganz ohne den im Zusammenhang mit dem Feminismus oft fälschlicherweise vermuteten „Hass auf alle Männer“, auf.

Dabei bewegt sich Kebekus ausdrücklich in Themenbereichen, über die sie auch etwas zu sagen hat. Es geht ihr nicht darum einen globalen Vergleich von Frauenrechten, Chancengleichheit, Gewalt gegen Frauen usw. zu ziehen. Wir bleiben mit diesem Sachbuch in Deutschland, hier gibt es noch genügend Bereiche, die einer oder mehreren Verbesserungen bedürfen.

Natürlich lässt Carolin Kebekus den Spaß in ihrem Buch nicht gänzlich beiseite. Häufig unterfüttert sie ihre Thesen mit lässig, witzigen Kommentaren und Beispielen. Das macht einfach Spaß zu lesen, keine Frage. Aber es ist wichtig dieses Buch nicht als ein Comedy-Buch zu unterschätzen. Hinter den Inhalten stecken knallharte Recherchen sowie 135 im Anhang befindliche Quellenangaben. Auch wenn durchaus das ein oder andere Mal ein persönliches Beispiel zur Verdeutlichung genutzt wird, bleibt dies ein wissenschaftlich korrektes Sachbuch. Gerade diese Verquickung gelingt der Autorin wirklich meisterhaft. Während ich viel gelernt habe, konnte ich auch häufiger schmunzeln, ohne dass der Ernst der Sache jemals in den Hintergrund getreten ist. Erfrischend lebhaft und gleichzeitig knallhart präsentiert die Autorin ihre feministische Bestandsaufnahme und macht dieses Buch damit zu einem wahren Lesegenuss.

Von mir gibt es dafür eine klare Leseempfehlung. Meines Erachtens macht sich das Buch auch super als Geschenk für Interessierte, die einen leichten Einstieg in den Themenbereich suchen.

5/5 Sterne

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