Langatmig und teilweise spekulativ
Der (leider kurz nach Fertigstellung des Buches verstorbene) Anthropologe und „bekennende Anarchist“ David Graeber und der Archäologe und Anthropologe David Wengrow hinterfragen hier gängige Ansichten ...
Der (leider kurz nach Fertigstellung des Buches verstorbene) Anthropologe und „bekennende Anarchist“ David Graeber und der Archäologe und Anthropologe David Wengrow hinterfragen hier gängige Ansichten darüber, wie die Frühgeschichte der Menschheit und die Entstehung von Zivilisationen oder Staaten abgelaufen ist.
Sie wollen zeigen, dass es nicht sinnvoll ist, nach dem Ursprung der Ungleichheit zu suchen und dass es keine Automatismen gibt, wonach das Betreiben von Landwirtschaft zwangsläufig zu verwöhnten Eliten, Klassenunterschieden und Bürokratie führen muss, oder wonach eine Bevölkerung ab einer bestimmten Größe nicht mehr in der Lage ist, ihr Zusammenleben selbst zu organisieren und deshalb eine zentrale Macht benötigt.
Schon im ersten Kapitel offenbart sich jedoch eine gewisse ideologische Voreingenommenheit. Zitat: „Um den gesamten Verlauf der Menschheitsgeschichte darzustellen sind sie [die Ansichten von Rousseau und Hobbes] 1. schlicht und einfach unwahr 2. mit schlimmen politischen Konsequenzen verbunden und 3. dafür verantwortlich, dass die Vergangenheit langweiliger als nötig erscheint.“
Relevant ist nur Punkt 1 (Und wenn sich die Autoren diesbezüglich so sicher wären, hätten sie sich den Rest gespart.) Die beiden anderen Punkte haben nichts mit Wissenschaftlichkeit zu tun. Mir ist jedenfalls kein Naturgesetz bekannt, wonach alles, was im Universum geschieht, spannend sein muss. Und erst recht keines, wonach alles, was geschieht, nur positive Konsequenzen haben darf. (Positiv natürlich aus der Perspektive von zwei englischen Anthropologen).
Auch sonst hatte ich den Eindruck, dass die Fakten meist gerade so ausgewählt und interpretiert werden, dass es zu den Ansichten der Autoren passt.
Dennoch ist der Inhalt an sich nicht uninteressant. Es werden zahlreiche Kulturen rund um den Globus (mit Schwerpunkten im fruchtbaren Halbmond und den beiden Amerikas) vorgestellt und all ihre Besonderheiten, vor allem das Gesellschaftssystem und die Art der „Herrschaft“, betrachtet. Dies illustriert sehr gut, wie vielfältig menschliches Zusammenleben organisiert sein kann und zeigt, dass vereinfachende Annahmen über die menschliche Natur oder den Verlauf der Geschichte häufig falsch sind.
Die Beschreibungen sind jedoch oft sehr langatmig. Tatsächlich bedeutsame Erkenntnisse gehen in ausufernden Schilderungen von nebensächlichen Details unter. Außerdem wirken manche Aussagen spekulativ, werden aus ein paar Überlieferungen oder einer Handvoll archäologischer Funde ganze Gesellschaftssysteme abgeleitet.
Ähnliches gilt auch für die Schlüsse, welche die Autoren aus all dem ziehen. Es sind einige interessante Überlegungen dabei, aber auch viel Geschwafel und Ideologie.