Die Handlung von „Der Ruf des weißen Raben“ löste in mir als Leser eine gewisse Unruhe aus. Ständig ist man mit Zeitsprüngen (Vorzeit/Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft) und unterschiedlichen Ich-Ausprägungen bzw. Bewusstseinsstufen der Charaktere (Mythische Vorzeit-Lehrerin/Jüngeres Ich/Älteres Ich) konfrontiert, die einem die vollste Konzentration abverlangen. Diese doch sehr diffuse Handlungsführung kontrastiert auf eine merkwürdige Weise mit der sehr einfach gehaltenen Prosa und den ständig auftretenden semantischen Wiederholungen der Autorin, die, wenn sie sich einmal für eine Vokabel oder ein sprachliches Bild entschieden hat, selten davon abweicht (so sind die Zedern in diesem Buch omnipräsent, Myra empfindet jedes Mal dieses „seltsame Ziehen“ wenn sie die Zeiten wechselt, man muss dazu immer „bei Kräften bleiben“ und auch die Murmeltiere und Streifenhörnchen tauchen ständig auf und pfeifen oder huschen). Ein bisschen mehr semantische Variation hätte ich mir gewünscht. Die Naturbeschreibung ist ansonsten sehr anschaulich ausgefallen.
Zu den Charakteren ist zu sagen, dass sie alles in allem an der Oberfläche bleiben und selten greifbar werden. Vor allem die Protagonistin Myra wirkt gelegentlich fehl am Platz und Marionettenhaft, ihre Motivation und ihre Beweggründe sind nicht wirklich erkennbar. Sie bleibt oberflächlich und wirkt auf mich auch nicht sonderlich sympathisch, weil sie wenig „Ecken und Kanten“ hat. Chad hingegen versprüht einen gewissen menschlichen Charme, aber auch er wird aber für meinen Geschmack nicht befriedigend charakterisiert. Die Liebesgeschichte der beiden hätte ich mir auch etwas tiefgehender gewünscht, so wird zwar von Anfang gesagt, dass sich beide auf unerklärliche Weise zu einander hingezogen fühlen und am Ende des Romans wird auch klar warum. Dennoch wirkt die Lovestory zuweilen sehr aufgesetzt.
Die Grundaussage des Romans ist wie bei nahezu allen Ethno-Naturgeschichten sicher ehrenvoll: der Mensch hat den Sündenfall der Naturzerstörung begangen und begeht ihn weiterhin. Die alten Kulturen haben es sich zur Aufgabe gemacht dies zu verhindern indem sie die „Alten“ und die – dem modernen Menschen nicht mehr präsenten – Naturgewalten anrufen und um deren Hilfe ersuchen. Das natürliche „Gleichgewicht“ der Kräfte muss wieder hergestellt werden. Die Plotline dass Myra die Auserwählte ist und es jetzt „richten“ soll, ausgerechnet Myra, deren Eltern ursprünglich Einwanderer aus Deutschland sind, Myra, die Journalistin aus der Großstadt Victoria, wirkt auf mich sehr konstruiert. Da hat die ebenfalls aus Deutschland stammende Autorin etwas zu viel Autobiographisches in den Roman gepackt. Ich hätte es besser gefunden wenn Chad – in seiner Eigenschaft als Kanadischer Ureinwohner – diese Funktion des Gesandter bzw. Retters gehabt hätte, aber das wäre vielleicht zu unspektakulär gewesen.
Die indianische Mystik ist in diesem Roman sehr gut beschrieben, die Autorin weiß von was sie spricht. Die Fantasy-Elemente beschränken sich im Wesentlichen auf die Zeitreisen (für die Indianer sind alle Zeiten stets präsent und deshalb ist es für sie keine Fantasy, sondern Teil der universellen Wirklichkeit), die Myra macht. Allerdings kann nur Myra so in die Vergangenheit reisen, wie sie es tut und das macht alles in wenig fragwürdig.
Es gibt fast wie in der klassischen Novelle ein Falkenmotiv, nämlich den Talisman, der so etwas ist wie der „Stein der Weisen“. Um ihn und um sein Haben bzw. Nicht-Haben dreht sich die gesamte Story. Natürlich gibt es auch einen Bösewicht mit Allmachtsphantasien, Morris, der vor nichts zurückschreckt um diesen Talisman (der Myras Mentorin Runa in der Vorzeit vermacht und von mehreren Schamanen mit magischen Kräften und Weisheit aufgeladen wurde) zu besitzen.
Alles in allem hat der Roman für mich Stärken und Schwächen, die sicher vermeidbar gewesen wären. Ein gutes Buch für Zwischendurch, aber auch nicht mehr.