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Veröffentlicht am 31.05.2023

Erschreckende Zustandsbeschreibung eines Landes am Abgrund

Nacht in Caracas
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Den ein oder anderen Bericht über die Zustände in Venezuela konnten die geneigten Leser:innen in den letzten Jahren in den Medien hören/lesen/sehen. Der Staat hat versagt, Milizen haben die staatliche ...

Den ein oder anderen Bericht über die Zustände in Venezuela konnten die geneigten Leser:innen in den letzten Jahren in den Medien hören/lesen/sehen. Der Staat hat versagt, Milizen haben die staatliche Erlaubnis „für Ordnung“ zu sorgen und terrorisieren dabei einen Großteil der Bevölkerung, welche in Armut um das Überleben kämpft. Was sonst als nüchterne Reportage auf Interessierte trifft, bekommt in Karina Sainz Borgos Roman „Nacht in Caracas“ eine ganz neue, erschreckende Note.

Ganz nah an der Ich-Erzählerin Adelaida erleben wir und durchleben zusammen mit ihr die Zustände in Venezuela und speziell der Hauptstadt Caracas. Die Geschichte setzt kurz nach dem Tod der Mutter von Adelaida ein. Adelaida ist studierte Philologin und lektoriert vom Wohnzimmer aus für einen spanischen Verlag Bücher. War sie in Deutschland bestenfalls für die intellektuelle Mittelschicht qualifizieren würde, bedeutet in Venezuela nichts. Denn sie gehört nicht den Regierungsnahen an und muss daher wie ein Großteil der Bevölkerung um das tägliche Brot kämpfen. Schon die eingangs geschilderte Befürchtung ihrerseits (oder vielmehr das Wissen darum), dass kurz nachdem sie ihre Mutter unter die Erde gebracht haben wird, Grabräuber die noch frische Erde wegscharren werden, um eventuelle Schmuckstücke an sich zu nehmen, die der Toten beigelegt wurden, verdeutlicht die katastrophalen Zustände. Ab diesem Zeitpunkt bemüht sich Adelaida um eine mögliche Zukunft für sich selbst in diesem im Untergang befindlichen Gesellschaftsgefüge. Durch Rückblicke erfährt man immer mehr über das Aufwachsen von ihr mit einer alleinerziehenden Mutter und die vielversprechende Vergangenheit des Landes. In einer scheinbaren Gegenbewegung verdeutlicht der Plotverlauf in der Gegenwart nur immer schlimmere Erlebnisse und steigende Ängste und psychische Belastungen.

Die Sprache von Borgo ist atemberaubend eindringlich und zieht die Leserschaft hinein in diesen Sumpf eines Failed State. Auf nur 220 Seiten verdichtet die Autorin das Schicksal eines Landes und seiner Bevölkerung, dass es einem die Brust zuschnürt. Nur wenige literarische Werke haben die Kraft eine solch hefte Reaktion bei der Lektüre hervorzurufen und zwar faktisch bekannten Wissen mit einer starken Emotionalität zu versehen. Hier steht ein persönliches Schicksal für den Großteil einer Bevölkerung. Das ist großartig gemacht und verdient meinen Respekt. Und während in anderen Ländern die Zeit voranschreitet und auf die tiefste Dunkelheit ein neuer Tag wartet, scheint in Venezuela die Nacht nie zu enden.

Von mir gibt es für dieses erschütternde und aufrüttelnde Werk die volle Punktzahl sowie eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Anhand dieses Buches wurde mir einmal mehr verdeutlicht, wie Literatur das Wissen und den Blick auf die Welt erweitern kann, auf einer Ebene und in einem Ausmaß, auf der und in dem dies Journalismus nicht unbedingt möglich ist.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Spotlight statt Streulicht

Streulicht
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Der Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde verdient eindeutig Spotlight. Dies erkannten bereits mehrere Buchpreis-Komitees, weshalb der Roman nicht nur auf diversen Shortlists auftauchte sondern auch Preise ...

Der Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde verdient eindeutig Spotlight. Dies erkannten bereits mehrere Buchpreis-Komitees, weshalb der Roman nicht nur auf diversen Shortlists auftauchte sondern auch Preise gewann.

Im Zentrum der Geschichte steht ein Mädchen, welches im Arbeitermilieu als Kind eines deutschen Vaters und einer türkischen Mutter aufwächst. Sie kehrt eingangs für die Hochzeit eines befreundeten Pärchens in ihre alte Siedlung zurück und schildert durch Rückblenden ihr Aufwachsen und vor allem ihren Bildungsweg. Aber es handelt sich hierbei keineswegs um einen klassischen Bildungsroman, in dem das „Arbeiterkind mit Migrationshintergrund“ sich einfach mal so zur Bildungselite hinaufarbeitet. Der Roman beleuchtet detailliert, welche Faktoren zusammenkommen müssen, dass Menschen im Bildungssystem Deutschlands untergehen und schlimmstenfalls vollends abdriften.

Fast schon wie eine soziologische Fallbetrachtung wirkt dieses Prosawerk, denn es schildert ausführlichst zum Einen die geballte Diskriminierung aufgrund von class, race und gender zum anderen aber auch das persönliche Versagen, wenn Mut und Motivation mangelhaft ausfallen. So trägt jeder dieser Aspekte seinen Anteil dazu bei, dass die namenlose Protagonistin auf ihrem Lebensweg bis ins junge Erwachsenenalter immer wieder Rückschläge erlebt, hängen bleibt, überholt und übersehen wird. Die Autorin zückt dabei nicht die Keule des monokausalen Zusammenhangs zwischen Bildungschancen und „nur“ der ethnischen Herkunft der Eltern, oder „nur“ des Geschlechts“, oder „nur“ der Klassenzugehörigkeit, oder „nur“ der eigenen Persönlichkeitsmerkmale und Motivation. Sie verdeutlicht anschaulich, dass meist alle oder viele dieser Komponenten zusammenkommen, um den Lebensweg eines Menschen zu beeinflussen.

Interessiert verfolgt man, wie das Mädchen in einem Haushalt aufwächst, der nur von außen zu funktionieren scheint. Hinter verschlossenen Türen muss die Familie mit der Abhängigkeitserkrankung des Vaters umgehen, muss das Kind die cholerischen Ausbrüche des Vaters umgehen lernen, muss sie mitansehen, wie ihre Mutter die Reißleine zieht und nicht zuletzt erlebt sie stets latente Diskriminierungen vonseiten ihres äußeren Umfeldes, Vorurteile der Lehrer:innen bezüglich eines „Ausländerkindes“, was aber doch in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, was natürlich die deutsche Sprache beherrscht und sogar sehr gut Englisch sprechen kann. Dies alles hat Deniz Ohde so gekonnt in Form gegossen, dass selbst unangenehme Charaktere trotzdem auch in den persönlichen Bedingtheiten ihrer Motivation verständlich werden.

Meines Erachtens hat der Debütroman von Deniz Ohde fraglos die Aufmerksamkeit verdient, die ihm durch die schon oben genannten „Buchpreis-Komitees“ zuteil wurden. Ein Roman, der gern trotz des eher diffusen Lichteinfalls, der Streulicht eigentlich so eigen ist, im Spotlight stehen darf. Bei einer 4,5-Sterne-Bewertung runde ich aufgrund des eindrücklichen Beschreibens der Erlebnis- und Gefühlswelt dieser Heranwachsenden gern auf die volle Punktzahl auf. Daraus resultiert eine klare Leseempfehlung meinerseits für den Roman „Streulicht“.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Sehr amüsante Schwedomanie

Verrückt nach Schweden
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Die Schwedomanie ist ein Wahninhalt mit dem Charakteristikum der maßlosen Überbewertung des schwedischen Staates und dessen Einwohner.

Mikko würde sich selbst nie als „Schwedomane“ bezeichnen, nein das ...

Die Schwedomanie ist ein Wahninhalt mit dem Charakteristikum der maßlosen Überbewertung des schwedischen Staates und dessen Einwohner.

Mikko würde sich selbst nie als „Schwedomane“ bezeichnen, nein das tun nur die Medien. Seine medizinische Selbstdiagnose lautet „Nationalitätstransvestit“. Er sei im falschen Land geboren und erzogen worden, nämlich Finnland, sei aber eigentlich mit jeder Körperzelle ein Schwede. Ob der Figur Mikko hier selbst und vom Autor gewollt (das liegt nahe) der Fehler unterläuft, sich „Nationalitätstransvestit“ zu nennen, obwohl er doch eigentlich eine „transnationale Person“ ist (denn er wünscht sich nicht nur einen popeligen Umzug sondern eine gänzliche Transformation zum Schweden), oder dies im Rahmen der Übersetzung des Romans eine kleine Abweichung darstellt, sei dahingestellt. Schon seit der Schulzeit und einem Ausflug mit den Eltern nach Schweden weiß Mikko, dass er in dieses Land gehört. Vernarrt in die Sprache und Geschichte des Landes brilliert er schon in der Schule im Schwedischunterricht und zentriert sein ganzes Leben bis ins Erwachsenenalter hinein um das Schwedischsein. Ein Umzug, nur um dann fünf Jahre lang als Finne in Schweden leben zu müssen, würde er nicht verkraften. Es muss eine bessere Lösung her und somit setzt eine Lawine an kuriosen Handlungen und Ereignissen ein...

Um seine Leiden als im falschen Land geborener Mensch zu lindern, geht Mikko, wie wir aus seinen Tagebucheinträgen erfahren, nun recht ungewöhnliche Wege. Er will kein depressiver, trinkender, pöbelnder Finne mehr sein, nein, er möchte ein weltoffener, lebensfroher, sozialdemokratischer Schwede sein und geht dafür über Leichen. Denn der Titel des Romans vom finnischen Autor Miika Nousiainen ist hier wortwörtlich zu verstehen: Mikko ist tatsächlich verrückt. Seine Wahrnehmung läuft vollkommen schief, denn er ist sogar der Meinung, dass der Schnee in Schweden anders fällt als in Finnland:

„In Helsinki hat es geschneit, und ich spüre ganz deutlich, dass hierzulande selbst der Schnee nicht mit dem im Nachbarland mithalten kann. In Schweden segeln die Flocken fröhlicher und freier herab, als würden sie wissen, dass sie auf toleranten Grund und Boden landen. In Finnland trudeln die Flocken geradewegs in die Schwermut. Sie landen auf den Schultern depressiver Menschen, die den Schnee als Störenfried sehen.“

Wie man schon an diesem Textauszug merkt: Der Roman ist reine Satire. Eingebettet in eine groteske Handlung werden alle positiven Stereotype zum Thema Schweden aufgefahren und alle negativen zum Thema Finnland. Es macht so einen unglaublichen Spaß dem total verstrahlten Mikko bei seiner Unternehmung, endlich ein waschechter Schwede zu werden, zu begleiten. Unser Tagebuchschreiber kommt lange Zeit mit seinen Betrügereien durch und man wünscht es ihm auch. So überhöht sein Blick auf Schweden als Land und die Schweden als Volk auch sein mag, mit seinen Bemerkungen lernen die Leser:innen durchaus einiges über die Materie. Vor allem die Politik Schwedens wird beleuchtet. Keine Frage, alles was man hier liest ist zweifellos durch die rosarote Brille eines Verliebten geschildert, und trotzdem enorm wissenswert.

Mit sehr viel Interesse und Spaß an der Sache habe ich diese bitterböse, schräge Komödie um die Anstrengungen des verkappten Schweden Mikko (später Mikael) gelesen und mich dabei köstlich amüsiert. Sie ist unglaublich intelligent geschrieben und gleichzeitig locker leicht zu lesen. Eine pointenreiche, kluge Abwechslung für zwischendurch. Deshalb gibt es nicht nur die volle Punktzahl von mir sondern auch eine klare Leseempfehlung für diesen aus dem Jahre 2007 stammenden Debütroman des finnischen Autors.

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Vom schwierigen Blick in den Rabenkopf

Raben
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Einer der weltweit bedeutendsten Rabenforschern und Leiter des Departments für Verhaltens- und Kognitionsbiologie der Uni Wien, Thomas Bugnyar, hat ein populärwissenschaftliches Sachbuch mit dem wohl eingängigsten ...

Einer der weltweit bedeutendsten Rabenforschern und Leiter des Departments für Verhaltens- und Kognitionsbiologie der Uni Wien, Thomas Bugnyar, hat ein populärwissenschaftliches Sachbuch mit dem wohl eingängigsten aller möglichen Titeln „Raben“ zu ebendiesen intelligenten und sozialen Vögeln vorgelegt.

Natürlich dreht sich in diesem Buch fast alles um die Raben, aber es ist wichtig zu betonen, dass Bugnyar ebenso viel Wert darauf legt, die Vorgehensweise von verhaltens- und kognitionsbiologischer Forschung den Lesenden nahe zu bringen. So beschreibt er ausführlich und verständlich Studiendesigns, die wissenschaftlich valide und reliabel aber gleichermaßen tierfreundlich angelegt sein müssen. Wir erfahren in diesem Buch nicht nur einiges zu den Fähigkeiten der Rabenvögel, sondern eben auch ganz Konkretes aus den Forschungsstationen Haidlhof und Grünau, die größten weltweit.

Somit kann Bugnyar auch aus einem großen Fundus an eigenen Fotos von genau den Raben schöpfen, über die er in seinem Buch berichtet. So wird das soeben im Text Beschriebene durch wunderbare Farbfotos unterstrichen. Viele davon erscheinen eher wie Schnappschüsse aus den Forschungsstationen, inklusive wissenschaftliche Mitarbeiter, wirken dadurch aber umso authentischer.

Eine Eigenart dieses Sachbuches, welche mich zunächst verwunderte, ist die Angewohnheit Bugnyars all seine aktuellen und ehemaligen (Promotions-)Student:innen, Post-Docs usw. namentlich im Fließtext zu benennen. Ich habe es letztlich als eine Hommage für diese wechselnden Teams, ohne die die wissenschaftliche Arbeit in diesem Ausmaß nicht möglich wäre, verstanden. Nur selten erwähnen angesehene Professoren all ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen, viele lassen sie in Monografien gänzlich unter den Tisch fallen und heimsen das Lob dann ganz für sich allein ein. Dass der Autor hier nicht nur alle Helfer:innen nennt, sondern auch Fotos der Teams im Laufe der vergangenen fast 30 Jahre präsentiert, halte ich schlussendlich für äußerst sympathisch.

Der Autor scheint also ähnlich sozial veranlagt zu sein, wie die Raben, die lautstark „Haa!“ schreien, wenn sie eine Futterquelle entdecken und weitere Raben damit zu sich rufen. Viele interessante Anekdoten aber auch knallharte Forschungsergebnisse nimmt man aus der Lektüre von „Raben“ mit. Dass diese Forschung wichtig ist, um den Menschen zu verdeutlichen, dass sie keineswegs die einzigen Lebewesen mit kognitiven und sozialen Fähigkeiten sind, unterstreicht der Autor. Er verdeutlicht, wie wichtig ein respektvoller Umgang mit allen Tieren, nicht nur seinen Favoriten, den Raben, ist.

Das Buch kann ich allen Interessierten ans Herz legen, egal ob sie Vorwissen im Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens haben oder nicht. Und gerade die, die nicht nur fertige Ergebnisse vorgesetzt bekommen, sondern auch einen Blick hinter die Kulissen werfen wollen, können hier nur gewinnen. Für alle, die sich dann weiter belesen wollen hält Bugnyar am Ende des Textes noch Literaturhinweise im Fließtext bereit. Das ist zwar auch etwas ungewöhnlich, da sonst gesondert im Anhang genannt, aber es passt zum „integrativen“ Stil des Buches. „Raben“ ist ein gutes, einfach verständliches „Einstiegsbuch“, so betont der Autor, dass er nicht nur die beiden Säulen der universitären Wissenschaft Forschung und Lehre ernst nimmt, sondern auch die dritte, nämlich die Vermittlung von Information an die interessierte Öffentlichkeit. Ich wünsche ihm eine große Öffentlichkeit für sein Buch und sein Anliegen.

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Veröffentlicht am 27.05.2023

Eindrückliches Werk über die Unterdrückung der Indigenen Bevölkerung Australiens

Wie rote Erde
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Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook ...

Bis zur Lektüre von „Wie rote Erde“ war das Narrativ, welches ich zu den sog. „Aborigines“ und Australien allgemein folgendes: Irgendwann im 18.Jh. wurde Australien nach der „Entdeckung“ durch James Cook zur Strafinsel gemacht, darauf bildeten sich erste Siedlungen und die australischen Ureinwohner wurden „lediglich“ regional ins Landesinnere verdrängt. Irgendwie bekam Australien immer ein edles Bild in meinem Kopf, mir kam nicht der Gedanke, dass mit den First Nations of Australia genauso umgegangen wurde, wie mit anderen Bevölkerungen kolonisierter Kontinente. Natürlich ein fataler Irrglaube!

Der vorliegende Roman von Tara June Finch, einer Wiradjuri-Autorin, deren Vorfahren - und somit auch sie selbst - zur Indigenen Bevölkerung im zentralen New South Wales gehören, ist diesbezüglich mehr als augenöffnend. Mithilfe von drei Erzählebenen berichtet die Autorin von den Folgen, die eine Kolonialherrschaft auf die 50.000 Jahre alte Zivilisation eines Kontinents und deren wenige verbleibenden Mitglieder hat. So geht es auf der Handlungsebene um August Gondiwindi, welche nach einer zehnjährigen Abwesenheit in Großbritannien aufgrund des Todes ihres Großvaters Albert und dessen anstehender Beerdigung wieder an den Ort ihres Aufwachsens, die Farm „Prosperous House“ in einer fiktiven Region Australiens, zurückkehrt. Das heruntergekommene Anwesen, in dem noch immer ihre Großmutter lebt, wird durch ein Zinnabbauunternehmen gefährdet, denn Aboriginals (der etwas weniger kolonial belastete Begriff für früher sog. „Aborigines“) haben keinen rechtsgültigen Anspruch auf Grund und Boden, wenn sie nicht nachweisen können, dass seit Beginn der europäischen Kolonisierung eine ständige Verbindung zum beanspruchten Gebiet aufrechterhalten wurde, z.B. durch kulturelle Praktiken. Aber es haben in der Vergangenheit die europäischen Siedler „natürlich“ (muss man leider sagen) durch grausame Vorgehensweisen dafür gesorgt, dass die Kultur der Aboriginals fast vollkommen vernichtet wurde. Davon erfahren wir durch die beiden anderen Erzählebenen des Romans, denn Augusts Großvater hat kurz vor seinem Tod an einem Wörterbuch mit Begriffen aus der Sprache seines Volkes gearbeitet. Auszüge dieses Wörterbuchs werden immer wieder abwechselnd zu Kapiteln, in denen es um August geht, in den Text eingestreut. Dabei handelt es sich nicht um reine Übersetzungen, sondern um eine Geschichts- und Anekdotensammlung. Albert hat also nicht nur historische Geschehnisse anhand der zu übersetzenden Wörter festgehalten, sondern auch eigene Erlebnisse aus seinem Leben. So zeigt sich ein zunehmend grausames Bild der Herrschaft über die seit tausenden von Jahren auf dem Kontinent und dazugehörigen Inseln lebenden Menschen. Bis in die 1970er Jahre hinein wurden systematisch Kinder in Umerziehungslager gesteckt und zu z.B. Haushaltshilfen erzogen, die dann faktisch als Sklaven gehalten werden konnten. Man wähnt einen Lichtblick auf der dritten Erzählebene zu erkennen, auf welcher ein Brief in mehreren Fortsetzungen zitiert wird, der von einem deutschen, protestantischen Missionar 1915 verfasst wurde. Dieser Pastor gründete die Mission, aus der später Prosperous House entstanden ist. Er beschreibt sich selbst als den Indigenen Menschen offen und mildtätig gegenüber; er habe immer nur das Beste für sie gewollt, indem er sie in die Mission aufnahm, vor den Weißen beschützte und ihnen Schulbildung zukommen ließ. Im Verlauf des Buches kommt man allerdings immer mehr ins Zweifeln, ob sein Handeln in letzter Konsequenz nicht auch zur fast vollständigen Auslöschung der Indigenen Sprache und Kulturtechniken geführt hat.

Diese drei Erzählebenen verknüpft die Autorin wirklich unglaublich gekonnt ineinander, sodass der Spannungsbogen um die Geschichte der Gondiwindis immer straffer zum Ende hin zusammengezogen wird. Winch tappt bei ihrem Plot jedoch nie in die Falle des Kitsches. Steilvorlagen, die andere Autor:innen genutzt hätten, um billig die Emotionen der Leserschaft zu locken, umgeht die Autorin gekonnt, weiß durch Wendungen zu überraschen und dabei hoch informativ zu schreiben. Das wirkt niemals belehrend sondern stets eindrücklich wachrüttelnd. Atemlos verfolgt man die Geschichte um die Anerkennung der Indigenen Bevölkerung und deren Zivilisation noch bis in die aktuelle Gegenwart hinein. Dabei hinkt das Land Australien als Teil des Commonwealth der Zeit hinterher, ist es doch das einzige, das bis zum heutigen Tage kein Abkommen mit seinen Indigenen Bevölkerungsgruppen abgeschlossen hat! Stand doch bis vor wenigen Jahrzehnten noch über den Kinderheimen „Denk Weiß. Handle Weiß. Sei Weiß.“ und wurde dafür gesorgt, dass keine Sprache, kein Jagen, keine Zeremonien erhalten wurde, dass Aboriginals mit Didgeridoo in der Hand zum sauberen Werbebildchen für ein Touristenmagnet geworden sind, ohne eine tatsächliche Anerkennung ihrer Kultur zu erleben.

Der Haymon Verlag hat wirklich eine herausragende Arbeit dadurch geleistet, diesen Roman durch eine sehr gute Übersetzung von Juliane Lochner sowie ein erhellendes Glossar im Anhang verständlich zu machen. Eine vollkommene Abrundung erhält das Buch durch das Nachwort der Autorin, die viele historischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge nochmals verdeutlicht. Allein eine winzige Kritik muss ich an diesem ansonsten großartigen Buch üben: Es wäre hilfreich gewesen, wenn die Begriffe, die ganz hinten im Glossar stehen, im Romantext durch kleine hochgestellte Zahlen kenntlich gemacht worden wären. So wusste man nie, welcher Begriff nun im Anhang zu finden sein wird und welcher nicht. Ein Lesen der Erläuterungen direkt während der Romanlektüre finde ich immer als sinnvoller für das Verständnis als ein nachträgliches Lesen. Besonders loben möchte ich jedoch den Verlag für den feinfühligen Umgang mit der Triggerwarnung. Bereits unter dem Klappentext findet man den Hinweis auf Seite 375 (als auf der letzten Seite) befinde sich eine entsprechende Warnung. So hat man als potentielle:r Leser:in die Möglichkeit schon vor der Lektüre sich dessen bewusst zu sein und sich für oder gegen diese zu entscheiden. Schon häufiger habe ich diese Warnungen einfach so auf der letzten Seite vorgefunden, wenn das Kind schon potentiell in den Brunnen gefallen ist und man den Roman bereits zu Ende gelesen hat.

Abschließend kann ich nur kurz und knapp zusammenfassen: Hierbei handelt es sich um ein erhellendes Lesehighlight zum Thema Kolonialismus und dessen Folgen in einer Region der Erde, die bisher diesbezüglich wenig bis gar nicht in Prosaform beleuchtet wurde. Ich kann dieses Buch nur allen Interessierten ans Herz legen. Man wird danach nie mehr dasselbe Bild von Australien haben, aber wer will schon mit einer beschönigten Geschichtsdarstellung leben?

5/5 Sterne

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