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Veröffentlicht am 31.07.2023

Episoden eines verregneten, schicksalhaften Sommertags

Sommerwasser
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Wer denkt beim Wort „Sommerwasser“ schon an einen verregneten Urlaub in einer Ferienhaussiedlung an einem schottischen Loch (See)? Bei unserem derzeit (zum Glück!) verregneten Sommer hier in Mitteleuropa ...

Wer denkt beim Wort „Sommerwasser“ schon an einen verregneten Urlaub in einer Ferienhaussiedlung an einem schottischen Loch (See)? Bei unserem derzeit (zum Glück!) verregneten Sommer hier in Mitteleuropa ist dieses Szenario vielleicht sich gar nicht so schwer vorzustellen. Aber wem es an Vorstellungskraft fehlt, der wird durch diese großartige Geschichte von Sarah Moss und ihren unbestechlichen Schreibstil definitiv abgeholt und mitgenommen in die Highlands.

Sieben alte, morsche Holzhäuschen gehören zur kleinen Feriensiedlung, in der der Roman von Moss angelegt ist. Sie werden von jungen und alten Paaren sowie von Familien mit noch ganz kleinen Kindern oder schon fast ganz ausgewachsenen Teenagern bewohnt. Während sich die Handlung über nur einen Sommertag hinweg erstreckt, tauchen wir ganz tief in die Geschehnisse dort ein und schauen fast in jedem Häuschen vorbei. Dabei schnappt sich Moss in jedem Personen-Kapitel ein Familienmitglied und beschreibt deren Gedanken, Gefühle und Handlungen in genau diesem Moment durch die Brille der personalen Erzählerin. Zwischengeschoben sind Kurzkapitel, die die Stimmung in der umgebenden Natur widerspiegeln und immer mehr von Unheil künden.

Beginnt der Roman noch meines Erachtens recht amüsant mit Einblicken in die Gedanken z.B. einer bei Tagesanbruch joggenden, jungen Mutter, eines pensionierten Arztes, der verwundert die frühmorgendliche Joggerin beobachten oder einer jungen, frisch verlobten Frau, die während des morgendlichen, sportlichen Sexes sich nicht so recht konzentrieren kann. Die Stimmung kippt jedoch zunehmend und das Unheil, welches bereits durch die Zwischenkapitel durch die Naturbeschreibungen angedeutet wird, wird scheinbar immer konkreter. Menschliche Abgründe tun sich auf, wenn Moss so unglaublich authentisch und glaubhaft in die Köpfe von Jungen und Alten, Männern und Frauen hineinspringt und deren Motivationen erforscht. Psychologisch vollkommen schlüssig konstruiert sie ihre Figuren, sodass ein Puzzleteil nachvollziehbar ins nächste passt.

Wirklich brillant inszeniert Moss diesen nur 180 Seiten kurzen Episodenroman zu einem echten menschlichen Drama, steigert die Spannung sowohl über den großen feriensiedlungsübergreifenden Bogen aber auch immer wieder im Kleinen bezogen auf die Erlebnisse jeder einzelnen Figur, sodass man gar nicht mehr aufhören will, dieses Bravourstück zu lesen, bevor man nicht genau erfahren hat, wie das alles nur ausgehen wird.

Während der Text ganz nah an den Gedanken der Protagonist:innen entlanggeführt wird, scheint aber auch immer wieder Gesellschaftskritisches durch diese hindurch bzw. wird durch sie verdeutlicht. Somit bekommt der Roman nicht nur eine kluge psychologische Tiefe sondern auch im übergeordneten Sinne weitere Dimensionen.

Insgesamt konnte mich Sarah Moss‘ Roman von Anfang bis Ende durch seine großartige Figurenzeichnung, die mit Auslassungen spielende Sprache, welche immer zur entsprechenden Figur passt, die heraufbeschworene, unheilvolle Atmosphäre, die Spannung, die Gesellschaftskritik und die kluge Konstruktion der übergreifenden Geschichte uneingeschränkt überzeugen. Deshalb gibt es von mir eine ebenso uneingeschränkte Leseempfehlung für diesen auf vielen Ebenen ausgezeichneten Roman.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 19.06.2023

Eine leise Dystopie, die umso lauter nachhallt

Und dann verschwand die Zeit
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Um ehrlich zu sein, konnte ich mit dem philosophisch-verkopften Vorgängerroman von Jessie Greengrass „Was wir voneinander wissen“ gar nichts anfangen. Zum Glück ist mir erst jetzt während des Schreibens ...

Um ehrlich zu sein, konnte ich mit dem philosophisch-verkopften Vorgängerroman von Jessie Greengrass „Was wir voneinander wissen“ gar nichts anfangen. Zum Glück ist mir erst jetzt während des Schreibens der Rezension aufgefallen, dass es sich hierbei um dieselbe Autorin handelt, sonst hätte ich vielleicht vorschnell die Finger von „Und dann verschwand die Zeit“ gelassen. Da hätte ich wirklich etwas verpasst!

In ihrem aktuellen Roman entwirft die Autorin ein dystopisches Szenario, welches in der nahen Zukunft im Küstengebiet Großbritanniens angesiedelt ist. Gleich zu Beginn wird klar: das Meer hat sich die Küste hinauf gefressen und eine Flussmündung ist langfristig überflutet. Eine zusammengewürfelte Truppe versucht im „High House“, einem - schon dem Namen zu entnehmend - etwas erhöht liegendem Anwesen mit Garten, Wasserrad und Holzofen abgeschnitten vom Umland zu überleben. Dieses Szenario könnte man sich ganz leicht als apokalyptischen Blockbuster vorstellen, in dem sehr viel und vor allem sehr laut passiert. Aber so ist das Buch von Greengrass überhaupt nicht angelegt.

Das Figurenensemble zum Beispiel besteht aus einem Halbgeschwisterpaar. Bei Eintreffen im High House, ist Caro noch keine 20 Jahre und ihr kleiner Halbbruder Pauly erst ca. vier Jahre alt. Sie musste schon früh eine mütterliche Rolle übernehmen, war doch die leibliche Mutter von Pauly schon vor den Ereignissen, die zur Übersiedlung ins High House geführt haben, mehr ab- als anwesend. Die Klimaforscherin schien mehr Interesse daran zu haben, die Welt vor der Klimakatastrophe zu schützen, als Zeit mit ihrer Familie zu verbringen. Als die beiden im High House ankommen, leben dort aber bereits zwei Personen. Die ungefähr Mitte 20jährige Sally und ihr Großvater Grandy. Nun müssen sich diese Menschen nicht nur mit den anstehenden Naturkatastrophen arrangieren sondern auch mit sich untereinander. Greengrass lässt dabei ihre Leserschaft tief in die Köpfe drei der Protagonisten eintauchen, indem sie im wechselnden Rhythmus Sally, Caro und Pauly als Ich-Erzähler:innen pro Kapitel einsetzt. Wir erfahren dadurch immer mehr, wie es zu dieser Ausnahmesituation gekommen ist und bleiben meist ganz nah an den persönlichen Erfahrungen der Protagonist:innen.

Da sich die Autorin sowohl bezogen auf die Figuren aber auch das geografische Umfeld im Mikrobereich bewegt und gar nicht ein weltumfassendes Makrobild des Zustandes der Erde und der Menschheit entwirft (jedoch durchaus an der ein oder anderen Stelle erahnen lässt), bleibt der Roman stets sehr ruhig in seiner Erzählweise. Es müssen nicht immer die großen Dramen ausgepackt werden, um zu zeigen, was die Veränderung unserer Lebensbedingungen auf dieser Erde ganz konkret für einzelne Personen bedeuten kann. Sie präsentiert uns auch keine eindeutigen Heldenfiguren oder Bösewichte, vieles bleibt grau und diesig wie die Landschaft im Roman.

Was mich zu einer weiteren Stärke dieses Romans führt: Die ruhigen ganz detaillierten Naturbeschreibungen der Autorin lassen ganz ohne Effekthascherei ein düsteres Bild der zukünftigen, und leider nicht mehr ganz so fernen, Lebensumstände für Flora und Fauna im Kopf der Leserschaft auferstehen. Durch Erzählstil, welcher nach und nach durch die Augen der verschiedenen Figuren diese Welt für die Lesenden sichtbar macht, wird man Stück für Stück in die düstere Atmosphäre eingesogen und kann sich nur sehr schwer daraus befreien.

Wenn man schon gar nicht erst in dieser Szenerie landen möchte, die sich weit ab von romantisierten Selbstversorgungsfantasien bewegt, so bietet einem die Autorin auch keinen klaren Ausweg daraus an. Sie lässt vieles offen und behandelt letztlich auch die Frage, wie lebenswert ein Leben ist, wenn man eine Katastrophe zwar überlebt hat, dann aber auch irgendwie weiterleben muss. Den Themen nähert sich Greengrass sehr ruhig, was den Inhalt des Buches während und nach der Lektüre nicht weniger laut nachhallen lässt. Für mich ein absolut empfehlenswertes Lesehighlight, fernab von jedem Katastrophentourismus.

„Man denkt, man hat noch Zeit. Und dann hat man plötzlich keine mehr.“

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Ein hochwertiges Stück literarischer Detektivarbeit

Treue
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trust [trʌst] s 1. Vertrauen, Zutrauen; 2. Stiftung; 3. Investmentgesellschaft, Großkonzern, Trust, Kartell; 5. Treuhandschaft, Pflegschaft; usw.

Der Titel des englischsprachigen Originals dieses Romans ...

trust [trʌst] s 1. Vertrauen, Zutrauen; 2. Stiftung; 3. Investmentgesellschaft, Großkonzern, Trust, Kartell; 5. Treuhandschaft, Pflegschaft; usw.

Der Titel des englischsprachigen Originals dieses Romans von Hernan Diaz ist „Trust“. Und genau dieses „Trust“ enthält in seiner Bedeutungsvielfalt bereits die wichtigsten Komponenten des Romans. Vordergründig geht es um ein Ehepaar der New Yorker Finanz-High-Society zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Um diese Ehepartner herum konstruiert nun Diaz ein kongeniales literarisches Puzzlespiel, in welchem es für die Leserschaft heißt herauszufinden, welcher Darstellung von Personen, deren Leben, historischen Ereignissen und scheinbaren Sachverhalten sie vertrauen kann und welcher nicht. Schon der schweizerische Politiker Ernst Reinhardt sagte: „Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben.“ Der zweite Teil des Zitats wird häufig vernachlässigt, sollte mit Blick auf den Roman jedoch fast noch stärker hervorgehoben werden: „Aber die Nachwelt behält sich Korrekturen vor.“ Ob die Korrekturen immer "der Wahrheit" zuträglich sind, hinterfragt der vorliegende Roman.

So lässt uns Diaz mithilfe von vier Texten das literarische Puzzle nach und nach zusammensetzen, über welches inhaltlich an dieser Stelle nicht viele Worte verloren werden sollten. Denn jeder Leser und jede Leserin sollte für sich selbst die vielen Aha-Momenten erleben und die Raffinessen des Romans entdecken können. Durch eine kongeniale Konstruktion führt der Autor seine Leser:innen zunächst aufs Glatteis, nur um sie dann wieder Schritt für Schritt mit der – in dieser Form bisher noch nicht an anderer Stelle gesehenen - Technik der Perspektivvariation und pointierten Formulierungen davon herunterzugeleiten; hin zu einer Annäherung an „die Wahrheit“. Die mitunter diametralen Darstellungen münden in einem überraschenden, fulminanten Finale. Dabei bleibt der Roman in seiner Gesamtheit stets konsistent und lädt dazu ein, nach Abschluss der Lektüre gleich noch einmal von vorn zu beginnen, um noch einmal alle Kniffe dieses Ausnahmeautors erfassen zu können und das Buch mit neuen Augen zu lesen.

Es handelt sich hierbei um ein Gesamtkunstwerk der Spitzenklasse, welches man keinesfalls allein auf einen „Finanzroman“ reduzieren sollte. Es werden menschliche Abgründe genauso erzählt wie Verschleierungen von Geschehnissen, Vertrauen(-sverlust) in Menschen und Erzählinstanzen. Um den Roman mit einem Zitat aus ebendiesen zu beschreiben: „Die Erwartungen und Ansprüche der Leser waren dazu da, gezielt durcheinandergebracht und untergraben zu werden.“ Und ebenso in Anlehnung an ein Zitat aus dem Buch, kann man sagen, dass „Treue“ nicht nur Literatur ist, sondern auch Beweisstück. Man muss den Ungenauigkeiten und Freiheiten genauso auf die Schliche kommen wie den Beschönigungen und Selbstverherrlichungen, um letztlich bestenfalls einen Eindruck von den wahren Personen und Geschehnissen dahinter zu erhaschen. Denn „Treue“ zeigt, wie die Realität zurechtgebogen werden kann, je nachdem wer die Deutungshoheit hat.

Mit der Hoffnung zwar viel über die herausragende Qualität und Kreativität des Romans gesagt aber nur wenig über den Inhalt verraten zu haben, beschließe ich meine Rezension mit der dringenden Empfehlung, dieses Buch zu lesen. Für mich handelt es sich hierbei um ein echtes Meisterwerk und Lesehighlight dieses Jahres. Dem Autor bleibt zu wünschen, dass er den Booker Prize 2022, für welchen er mit „Trust“ nominiert ist, auch gewinnt. Denn dieses Stück sprachlich hochklassiger, emotional und kognitiv mitreißender, bestechend konstruierter sowie großartig von Hannes Meyer übersetzter Literatur verdient nicht nur fachliche Anerkennung, sondern auch ein großes, begeistertes Publikum.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Erschreckende Zustandsbeschreibung eines Landes am Abgrund

Nacht in Caracas
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Den ein oder anderen Bericht über die Zustände in Venezuela konnten die geneigten Leser:innen in den letzten Jahren in den Medien hören/lesen/sehen. Der Staat hat versagt, Milizen haben die staatliche ...

Den ein oder anderen Bericht über die Zustände in Venezuela konnten die geneigten Leser:innen in den letzten Jahren in den Medien hören/lesen/sehen. Der Staat hat versagt, Milizen haben die staatliche Erlaubnis „für Ordnung“ zu sorgen und terrorisieren dabei einen Großteil der Bevölkerung, welche in Armut um das Überleben kämpft. Was sonst als nüchterne Reportage auf Interessierte trifft, bekommt in Karina Sainz Borgos Roman „Nacht in Caracas“ eine ganz neue, erschreckende Note.

Ganz nah an der Ich-Erzählerin Adelaida erleben wir und durchleben zusammen mit ihr die Zustände in Venezuela und speziell der Hauptstadt Caracas. Die Geschichte setzt kurz nach dem Tod der Mutter von Adelaida ein. Adelaida ist studierte Philologin und lektoriert vom Wohnzimmer aus für einen spanischen Verlag Bücher. War sie in Deutschland bestenfalls für die intellektuelle Mittelschicht qualifizieren würde, bedeutet in Venezuela nichts. Denn sie gehört nicht den Regierungsnahen an und muss daher wie ein Großteil der Bevölkerung um das tägliche Brot kämpfen. Schon die eingangs geschilderte Befürchtung ihrerseits (oder vielmehr das Wissen darum), dass kurz nachdem sie ihre Mutter unter die Erde gebracht haben wird, Grabräuber die noch frische Erde wegscharren werden, um eventuelle Schmuckstücke an sich zu nehmen, die der Toten beigelegt wurden, verdeutlicht die katastrophalen Zustände. Ab diesem Zeitpunkt bemüht sich Adelaida um eine mögliche Zukunft für sich selbst in diesem im Untergang befindlichen Gesellschaftsgefüge. Durch Rückblicke erfährt man immer mehr über das Aufwachsen von ihr mit einer alleinerziehenden Mutter und die vielversprechende Vergangenheit des Landes. In einer scheinbaren Gegenbewegung verdeutlicht der Plotverlauf in der Gegenwart nur immer schlimmere Erlebnisse und steigende Ängste und psychische Belastungen.

Die Sprache von Borgo ist atemberaubend eindringlich und zieht die Leserschaft hinein in diesen Sumpf eines Failed State. Auf nur 220 Seiten verdichtet die Autorin das Schicksal eines Landes und seiner Bevölkerung, dass es einem die Brust zuschnürt. Nur wenige literarische Werke haben die Kraft eine solch hefte Reaktion bei der Lektüre hervorzurufen und zwar faktisch bekannten Wissen mit einer starken Emotionalität zu versehen. Hier steht ein persönliches Schicksal für den Großteil einer Bevölkerung. Das ist großartig gemacht und verdient meinen Respekt. Und während in anderen Ländern die Zeit voranschreitet und auf die tiefste Dunkelheit ein neuer Tag wartet, scheint in Venezuela die Nacht nie zu enden.

Von mir gibt es für dieses erschütternde und aufrüttelnde Werk die volle Punktzahl sowie eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Anhand dieses Buches wurde mir einmal mehr verdeutlicht, wie Literatur das Wissen und den Blick auf die Welt erweitern kann, auf einer Ebene und in einem Ausmaß, auf der und in dem dies Journalismus nicht unbedingt möglich ist.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Spotlight statt Streulicht

Streulicht
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Der Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde verdient eindeutig Spotlight. Dies erkannten bereits mehrere Buchpreis-Komitees, weshalb der Roman nicht nur auf diversen Shortlists auftauchte sondern auch Preise ...

Der Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde verdient eindeutig Spotlight. Dies erkannten bereits mehrere Buchpreis-Komitees, weshalb der Roman nicht nur auf diversen Shortlists auftauchte sondern auch Preise gewann.

Im Zentrum der Geschichte steht ein Mädchen, welches im Arbeitermilieu als Kind eines deutschen Vaters und einer türkischen Mutter aufwächst. Sie kehrt eingangs für die Hochzeit eines befreundeten Pärchens in ihre alte Siedlung zurück und schildert durch Rückblenden ihr Aufwachsen und vor allem ihren Bildungsweg. Aber es handelt sich hierbei keineswegs um einen klassischen Bildungsroman, in dem das „Arbeiterkind mit Migrationshintergrund“ sich einfach mal so zur Bildungselite hinaufarbeitet. Der Roman beleuchtet detailliert, welche Faktoren zusammenkommen müssen, dass Menschen im Bildungssystem Deutschlands untergehen und schlimmstenfalls vollends abdriften.

Fast schon wie eine soziologische Fallbetrachtung wirkt dieses Prosawerk, denn es schildert ausführlichst zum Einen die geballte Diskriminierung aufgrund von class, race und gender zum anderen aber auch das persönliche Versagen, wenn Mut und Motivation mangelhaft ausfallen. So trägt jeder dieser Aspekte seinen Anteil dazu bei, dass die namenlose Protagonistin auf ihrem Lebensweg bis ins junge Erwachsenenalter immer wieder Rückschläge erlebt, hängen bleibt, überholt und übersehen wird. Die Autorin zückt dabei nicht die Keule des monokausalen Zusammenhangs zwischen Bildungschancen und „nur“ der ethnischen Herkunft der Eltern, oder „nur“ des Geschlechts“, oder „nur“ der Klassenzugehörigkeit, oder „nur“ der eigenen Persönlichkeitsmerkmale und Motivation. Sie verdeutlicht anschaulich, dass meist alle oder viele dieser Komponenten zusammenkommen, um den Lebensweg eines Menschen zu beeinflussen.

Interessiert verfolgt man, wie das Mädchen in einem Haushalt aufwächst, der nur von außen zu funktionieren scheint. Hinter verschlossenen Türen muss die Familie mit der Abhängigkeitserkrankung des Vaters umgehen, muss das Kind die cholerischen Ausbrüche des Vaters umgehen lernen, muss sie mitansehen, wie ihre Mutter die Reißleine zieht und nicht zuletzt erlebt sie stets latente Diskriminierungen vonseiten ihres äußeren Umfeldes, Vorurteile der Lehrer:innen bezüglich eines „Ausländerkindes“, was aber doch in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, was natürlich die deutsche Sprache beherrscht und sogar sehr gut Englisch sprechen kann. Dies alles hat Deniz Ohde so gekonnt in Form gegossen, dass selbst unangenehme Charaktere trotzdem auch in den persönlichen Bedingtheiten ihrer Motivation verständlich werden.

Meines Erachtens hat der Debütroman von Deniz Ohde fraglos die Aufmerksamkeit verdient, die ihm durch die schon oben genannten „Buchpreis-Komitees“ zuteil wurden. Ein Roman, der gern trotz des eher diffusen Lichteinfalls, der Streulicht eigentlich so eigen ist, im Spotlight stehen darf. Bei einer 4,5-Sterne-Bewertung runde ich aufgrund des eindrücklichen Beschreibens der Erlebnis- und Gefühlswelt dieser Heranwachsenden gern auf die volle Punktzahl auf. Daraus resultiert eine klare Leseempfehlung meinerseits für den Roman „Streulicht“.

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