Der Exilroman "Das weiße Leintuch" von Antanas Skema ist eine literarische Wiederentdeckung für die Welt und eine Neuentdeckung für den deutschen Leser. Skema wurde noch im Zarenreich als Teil der litauischen ...
Der Exilroman "Das weiße Leintuch" von Antanas Skema ist eine literarische Wiederentdeckung für die Welt und eine Neuentdeckung für den deutschen Leser. Skema wurde noch im Zarenreich als Teil der litauischen Minderheit in Polen geboren, wurde seine Kindheit über von Ort zu Ort geschleppt, ehe er in der jungen baltischen Republik Litauen studieren konnte. Das künstlerische und kreative Zentrum des Landes - Kaunas und seien Theater - prägte ihn, seine Liebe für das Wort, das sprachliche Ornament, die leuchtenden Bilder, die emotionalen Schatten seiner Texte schärfte er im Medizin. und Jurastudium.
"Das weiße Leintuch" spiegelt Skemas Leben: die Repressalien durch die sowjetischen Besatzer, die Willkür der deutschen Truppen, die Jahre im elenden Exil im Lager für Displaced Persons und schließlich im Bodensatz New Yorks zwischen anderen Einwanderern. Der ebenfalls Antanas heißende Protagonist ist Dichter und Fahrstuhlführer und fährt mit dem Leser durch die Stockwerke der fantastischen Wahrnehmung des verhinderten Exildichters, durch seine Erinnerungsbilder und den erlebten Wahnsinn nebst Momenten im Irrenhaus und im Irrsinn der Wirklichkeit.
Der Roman ist nicht leicht zu lesen, denn die Überblendung von Erzählzeit und Vergangenheit, Wahrheit und Erinnerungen sind neblig wie das Erinnern, aber stets von poetischer Schönheit.
Eine Entdeckung!
Ilona Jerger ist es gelungen, uns hinter Darwins Stirn blicken zu lassen und Marx husten zu hören – in einem feinsinnigen, humorvollen und hintergründigen Roman über zwei Ikonen der Geisteswelt des 19. ...
Ilona Jerger ist es gelungen, uns hinter Darwins Stirn blicken zu lassen und Marx husten zu hören – in einem feinsinnigen, humorvollen und hintergründigen Roman über zwei Ikonen der Geisteswelt des 19. Jahrhunderts. Darwin und Marx waren zwei wirkungsmächtige Denker und stehen am Anfang einer wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung der Moderne. Und sie lebten zur gleichen Zeit nur wenige Kilometer entfernt in London und wussten vom jeweils anderen.
„Und Marx stand still in Darwins Garten“ ist zwar erst eine Szene der Seite 191, doch man sehnt sich ihr vom ersten Moment entgegen. Es ist vor allem Darwin, den der Roman begleitet. Der Naturforscher ist alt, seine Gebrechen sind zahlreich, und der Tod kündigt seine baldige Visite an. Doch der rastlose Forscher kann nichts außer arbeiten, beobachten, dokumentieren und experimentieren: So viel zu tun, so viel zu entdecken und so wenig Zeit! Darwins letztes Jahr legt sein Wesen in Dialogen mit seiner Frau Emma dar, in Darwins Begegnungen mit seinen Bediensteten und vor allem mit seinem Arzt Dr. Beckett. Diese Figur ist – als gebildeter und aufgeklärter Geist – womöglich mehr als nur das Bindeglied zwischen Darwin und Marx; vielleicht geben seine Gedankengänge, Vergleiche und Schlussfolgerungen auch die Persönlichkeit der Autorin wieder. Wenn Darwin im Gespräch mit Beckett die Erkenntnisse aufschlüsselt, die ihm die Rankenfüßer über die Evolution und die Entstehung der Arten entdeckten, dann zeigt sich die Stärke Jergers, die komplexen Theoreme Darwins in romantaugliche Dialoge zu gießen. Und wenn Beckett seinerseits die darwinsche Methode des exakten wissenschaftlichen Vergleichs von Ähnlichkeiten und Unterschieden auf die Werke Darwins und Marx‘ anwendet, sie auf die Gemeinsamkeiten bringt, dann erschließt sich die thematische Auswahl des Romanthemas fast zwingend: Natürlich – so denkt man beim Lesen – muss man sich ein Zusammentreffen der beiden Geistesgrößen vorstellen! Man will es!
Eine der Gemeinsamkeiten ist zugleich ein Urthema des Menschen, die Gretchenfrage schlechthin: Wie halten sie’s mit Gott? Darwin und Marx galten beide als Gottesmörder: Die Evolution machte einen Schöpfer überflüssig; Marx‘ Kommunismus stempelte die Religion zum Opium fürs Volk. Die denkwürdige Tischgesellschaft, zu der Marx und Darwin aufeinandertreffen, umkreist den Atheismus, doch packt sie ihn nicht. Oder um es mit dem Augenzwinkern Darwins zu sagen: „Die einen konnten schlecht Englisch. Die anderen schlecht Deutsch. Schließlich ist unser Priester vom Stuhl gekippt.“ (S. 210)
Darwins Charakter, seine Eigenheiten, seine Dünkel und sein Humor sind liebevoll und feinsinnig gezeichnet. Die Persönlichkeit hinter der historischen Figur wird in ihrer Abgeklärtheit und Weisheit zum großen Sympathieträger des Romans, in dem lediglich der Exkurs ins Chile des Jahres 1835, als Darwin mit der Beagle einem Vulkanausbruch beiwohnt, etwas störend wirkt.
Die anderen Sympathieträger sind die Rankenfüßer, die Bohnenpflanzen und vor allem die Regenwürmer, die in Darwins kindlichem Forscherdrang zu possierlichen Wegbereitern großer Ideen wachsen.
Stilsicher und humorvoll ist dieser Roman gelungen. Die Schwere der Werke der beiden vermeintlich monumentalen Säulenheiligen wird in leichten Szenen, instruktiven Gedanken und lesenswerten Dialogen aufgelöst.
Der Sammelband „Die Wissenschaft von Games of Thrones“, herausgegeben von Jena-Sebastién Steyer, versammelt sieben Aufsätze zur Fantasy-Saga von George R. R. Martin, die mit vollem Ernst und der ganzen ...
Der Sammelband „Die Wissenschaft von Games of Thrones“, herausgegeben von Jena-Sebastién Steyer, versammelt sieben Aufsätze zur Fantasy-Saga von George R. R. Martin, die mit vollem Ernst und der ganzen Expertise ausgewiesener Wissenschaftler ihres Faches in die Welt von Westeros blicken, sie analysieren, interpretieren, deuten und weiterdenken. Thematisch reicht dies von geologischen Absätzen über spannende Klimamodelle, eine anthropologisch-biologische Studie, eine Sprachanalyse bis zur Psychoanalyse Joffrey Baratheons und den psychopathologischen Auffälligkeiten fast aller Handelnder der Geschichte und zu einer kinematografisch-ikonografischen Analyse des Bild vom Tode.
Allen Aufsätzen vorangestellt ist der Hinweis, ob sich der Text auf die Fernsehserie oder die Buchsaga bezieht – oder beide –, was durchaus von Bedeutung ist. Ich habe den starken Eindruck, dass die Kapitel, die sich mit der Buchsaga befassen, deutlich mehr analytische Tiefe und interpretatorische Schlagkraft haben als die, die sich auf die Fernsehserie beziehen. Ohne zu sehr dem Kulturdefätismus nachzugeben, scheint mir das auch dem Gefälle zwischen den Büchern von Martin und insbesondere den späteren Staffeln von D&D (= Dumm & Dümmer, David & Daniel) zu entsprechen.
Meines Erachtens ist das der mit Abstand stärkste Beitrag in dem Band der des Linguisten Frédéric Landragin über „Die Sprache im Lied von Eis und Feuer“. Landragin hat einen wirklich breiten und mehrgleisigen Zugriff auf die Saga von Martin. Zum einen untersucht er den Gebrauch der von Martin zur Erzählung verwendeten Sprache, analysiert mithin also die Literarizität des Textes und bescheinigt ihm ein sehr hohes Niveau. Mit dem Gefühl, dass Martin ein vielschichtiger Erzähler komplexer Geschichten und vielfarbiger Klänge ist, liegt man also nicht falsch: Landragin weist es nach, etwa in der Analyse der "sword"-/"word"-Metaphern. Er geht hier selbstredend an das englische Original - notwendig, um den Autor wirklich analysieren zu können. Zweitens kritisiert er die französische Übersetzung. Das ist aus fachlicher Sicht ganz spannend, darauf kann ich mir als deutscher Leser allerdings auch ein Ei pellen. Es bleibt für mich bei der teilnehmenden Beobachtung, wobei die Translationsanalyse Landragins freilich auch immer das englische Original ausleuchtet, wovon ich lernen konnte (etwa S. 133 f. die Ausführungen zum "Prinzen" in den Prophezeiungen). Zum dritten widmet sich Landragin den von Martin erfundenen Sprachen seiner Welt – etwa des Dothraki – und führt hier die subtile Arte und Weise vor, in der Martin einen Sprachenbaum entwirft und verwendet, ohne ihn zum Klingen zu bringen. Der hier eingeführte Vergleich zur HBO-Serie ist deshalb umso erhellender. Als eingefleischter Tolkien-Fan und Verehrer seiner Fähigkeiten als "Conlanger" (Spracherfinder) bin ich von Martins Unternehmungen auf diesem Feld freilich ein wenig enttäuscht, aber seine Fähigkeiten liegen unbestritten auf einem anderen Gebiet.
Allerdings sind alle Beiträge auf einem hohen Niveau, zeugen von einer hedonistischen Hingabe sowohl an die Fantasy als auch das eigene Fach und überraschen mit der Erkenntnis, dass etwa ein namhafter Klimaforscher seinen privaten Rechner mehrere Wochen damit lahmgelegt hat, unterschiedliche Klimamodelle für die Welt von Westeros durchkalkulieren zu lassen.
Dennoch muss ein wenig Wasser in den Wein gegossen werden: Die Übersetzung hat offensichtlich nicht genügend Zeit gehabt, ihren Job richtig abzuliefern. Das zeigt sich in lässlichen Details, vor allem aber in den unbearbeiteten Fußnoten, die sich auf die französischen Ausgaben beziehen, die ich als deutscher Leser schlicht nicht nutzen kann. Hier hätte man unbedingt den Praktikanten oder die Volontärin an die deutschen Romanausgaben setzen müssen, um auf die Ausgabe der Sprache zu verweisen, in die der vorliegende Band übersetzt wurde, nämlich der deutschen.
Es hätte dem Band gut getan, wenn man noch einen oder zwei Beiträge aus dem deutschsprachigen Raum hinzugenommen hätte, um den deutschen Lesern in bekannteren Beispielen näher zu kommen.
Die Aufmachung des großformatigen Sammelbandes ist edel, gedruckt auf Hochglanzpapier, was den schönen Illustrationen zugutekommt, der Text durchbrochen von farbig abgesetzten Marginalien:
Alles in allem ist es eine helle Freude, echten Fachleuten bei der Ausübung ihrer Profession an einem Objekt zuzuschauen, das völlig fiktiv ist und mir auch so viel Spaß gemacht hat.
Friederike „Fred“ Andermann ist „Die Diplomatin“, eine selbstbewusste, sich ihrer Qualitäten, ihres Verstandes und ihres Ehrgeizes bewusste Karrierefrau im diplomatischen Korps der Bundesregierung. Wie ...
Friederike „Fred“ Andermann ist „Die Diplomatin“, eine selbstbewusste, sich ihrer Qualitäten, ihres Verstandes und ihres Ehrgeizes bewusste Karrierefrau im diplomatischen Korps der Bundesregierung. Wie abgebrüht sie mit den alltäglichen Erfordernissen und Zumutungen ihres Berufs umgeht, offenbart die Erzählung aus der Ich-Perspektive, dazu in einem lakonischen, bisweilen sentenzhaften Tonfall, der nicht selten in überraschenden Pointen kulminiert („Meral träumte nicht, sie plante. Sie hatte keine Wünsche, sondern Ideen“. (S. 100). Das macht große Freude beim Lesen – von Anfang bis zum Ende.
Auf dieser Strecke allerdings verändert sich Fred, denn nach einem Vorfall mit einer entführten Touristin im sonst paradiesisch ruhigen Uruguay verliert sie den diplomatischen Standpunkt: den der unbeteiligten Beobachterin, der abwägend redenden, der stets um Zurückhaltung Bemühten. Ihre Selbstbeherrschung bekommt in der Türkei, auf ihrem neuen Posten als Konsulin in Istanbul, Risse, die unter dem Regime „dieses Präsidenten“ leidet, der nie beim Namen genannt wird. Die Repressalien, denen beispielsweise Journalisten ausgesetzt sind, machen wütend. „Die Angst saß innen, und außen saß die Wut.“ (S 194) Dieses Gefühl trägt Fred noch in sich – wenn auch nur diffus und als Kindheitserinnerung ihrer DDR-Vergangenheit, der sie ansonsten vollständig entflohen ist. Fast vollständig, wie der Roman schließlich geschickt enthüllt.
Für Fred bedeuten die Vorkommnisse in Istanbul, die Verfolgung dreier Journalisten durch ein Unrechtsregime, die Erkenntnis der eigenen Hilflosigkeit. Zwar hat sie als Diplomatin den Panzer des bundesrepublikanischen Schutzes um sich, aber sie ist an die Gebote der Diplomatie gebunden. Sie muss erkennen, „dass Freiheit und Beamtentum nicht in ein und denselben Traum“ passen. (S. 107).
Erst jetzt wird deutlich, wie wichtig der Vorspann in Uruguay für das Verständnis von Fred und ihrem Schritt in Richtung Menschlichkeit ist. Wie sie jetzt handelt, erinnert sie an überstürzte Kurzschlusshandlungen von Menschen in der Midlife-Crisis: Männer kaufen Motorräder und versuchen so in ihre Jugend zurückzukehren, Fred revoltiert wieder gegen die Staatsmacht. „Was umso absurder war, da ich inzwischen selbst dazugehörte. Ich revoltierte quasi gegen mich selbst.“ (S. 196) Genau – und das ist der Kern des Romans und gleichzeitig ein Appell an alle: Diplomatie ist wichtig, aber irgendwann ist der Zeitpunkt erreicht, die Staatsgetragenheit abzustreifen und zu menschlich handeln.
Ein zutiefst sympathischer, sehr lesbarer und kluger Roman, der so leicht gekleidet scheint und doch erhebliches Gewicht mitbringt. Lucy Fricke dürfte auf mittlere Sicht die türkischen Gewässer von ihrer Urlaubsplanung ausschließen müssen.
Der „Stein der Geduld“ ist ein afghanischer Emanzipationsroman – geschrieben auf Französisch und von einem Mann. Gleichwohl ist es ein zutiefst einfühlsames Dokument über die Lebenswirklichkeit einer Ehefrau ...
Der „Stein der Geduld“ ist ein afghanischer Emanzipationsroman – geschrieben auf Französisch und von einem Mann. Gleichwohl ist es ein zutiefst einfühlsames Dokument über die Lebenswirklichkeit einer Ehefrau im bürgerkriegszerfressenen Afghanistan.
Der Mann ist bewegungsunfähig, liegt im Sterben, doch seine Augen sind stets geöffnet, ohne zu sehen, Seine Frau und Mutter der Töchter pflegt ihn in beider Haus, das in einer umkämpften Zone liegt und immer wieder Besucher erhält, von denen keiner eingeladen ist. Der Roman nutzt nur einen Raum in diesem Haus als Bühne der Handlung, nicht ein einziges Mal begleitet die Lektüre die Frau vor die Tür oder auch nur in den Hof. Die Welt von draußen findet nur im gesprochenen Wort der Frau statt, die sich ihrem Mann öffnet. Erstmals, denn in der alltäglichen Wirklichkeit ihres Lebens hat die Frau nicht stattgefunden, körperlich kaum und geistig noch weniger. Nun aber ist der Mann gelähmt: „Jetzt kann ich alles mit dir machen!“ (S. 88) Sie pflegt ihn und konfrontiert ihn mit den Wahrheiten ihrs Lebens vor und in der Ehe. Wahrheiten, die sie für sich behalten musste, weil sie für Frauen in Afghanistan tödlich sind, etwa der Wunsch nach eigenständiger Persönlichkeit.
Die bühnenhafte Erzählsituation und die auf die Frau reduzierte Sprechrolle des Romans erzeugen eine intensive Atmosphäre, in der Leid und Unterdrückung, tastende Befreiungsversuche und Erkenntnis erreichter Freiheit unmittelbar wirken. In den Äußerungen der Frau wird die gesellschaftliche Entwicklung Afghanistans wie in den Splittern eines Spiegels reflektiert: die Situation in der Familie, die Stellung der Schwiegermutter, der schalkhafte Umgang des Schwiegervaters mit dem alten afghanischen Erbe und die unselige Radikalisierung des Ehemanns als Freiheitskämpfer und Taliban. Immer wieder verblüffen die Bruchstücke dieser Welt den westlichen Leser, etwa die klugen Gedanken über die unselige Bedeutung des Blutes: „Ich habe nie verstanden, warum die Ehre bei euch Männern so sehr ans Blut gebunden ist.“ (S. 45) Sei es das vergossene Blut des Feindes, sei es das Blut der „unreinen Frau“ oder das Blut der Jungfräulichkeit. Hier fließt die ganze Archaik der afghanischen Männerwelt zusammen.
Auch der Stein der Geduld spielt eine Rolle, denn er ist in der Lage, die Leiden und Nöte dessen, der mit ihm spricht, aufzusaugen und in die Lüfte zu zersprengen. Für die Frau ist ihr Mann nun endlich dieser Stein – er muss erst wie tot sein, damit sie sich öffnen kann.
Der Roman wurde 2008 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, völlig zurecht, wie ich finde.