Ein doppelbödiges Szenario
In „Eine Seuche in der Stadt“ entwirft Ljudmila Ulitzkaja auf nur 105 Seiten (ohne Nachwort) ein reales wie auch doppelbödig-humorvolles Szenario um einen Lungenpestausbruch in Russland im Jahre 1939.
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In „Eine Seuche in der Stadt“ entwirft Ljudmila Ulitzkaja auf nur 105 Seiten (ohne Nachwort) ein reales wie auch doppelbödig-humorvolles Szenario um einen Lungenpestausbruch in Russland im Jahre 1939.
Der Infektiologe Rudolf Iwanowitsch Mayer reist nach Moskau, um dort die Fortschritte seiner Forschung an einer Impfung gegen die Lungenpest vor dem großen Gesundheitskomitee vorzustellen. Was er beim Antritt seiner Reise nicht weiß, was den Lesenden aber recht schnell klar wird: er hat sich bereits mit der Erkrankung angesteckt und verteilt sie nun im Zug, bei der Sitzung mit den hohen Tieren und im Hotel. Nach Diagnose des Erkrankung wird der große Geheimdienstapparat der Sowjetunion aktiviert, um mit ihren Mitteln die Seuche einzudämmen.
Was Ulitzkaja hier deutlich macht, ist, dass wohl das einzige und letzte Mal in der Geschichte von Stalins Schreckensherrschaft dessen Terrorapparat positiv für die Belange der Einwohner genutzt wurde. Ganz grandios stellt die Autorin dar, was es damals bedeutet hat, wenn mitten in der Nacht es an der Tür klopfte. Hier werden „nur“ potentiell Infizierte eingesammelt. Meist waren es zu dieser Zeit aber Menschen, die nur ein falsches Wort gesagt haben oder vermeintlich ein falsches Wort gesagt haben, und in Lager oder den Tod geschickt wurden. Was dieses Anklopfen mit einzelnen nur ganz kurz vorgestellten Personen macht, welche Handlungen es auslöst, ist authentisch wie auch mitunter etwas kabarettistisch dargestellt. Allein schon wie Stalin u.a. im Text und auch im Personenregister genannt wird, ist zum Schreien: „Ein Mächtiger Mann mit georgischem Akzent“. Und ja, es gibt selbst für diese kurze Geschichte, die die Bezeichnung „Szenario“ trägt, ein Personenregister. Typisch für große russische Romane. Denn hier gibt es gefühlt den gleichen Umfang an Personal, wie es aus den dicken, russischen Schinken bekannt ist. Auch das meines Erachtens ein mit Augenzwinkern gewählter Schachzug der Autorin.
Der Text unterdessen ist nicht brandaktuell entstanden, auch wenn erschienen in 2020 unter dem Eindruck von Covid-19 taufrisch wirkt, sondern schon im Jahre 1978 geschrieben. Wie aus dem erhellenden Nachwort der Autorin hervorgeht, erfuhr sie über die Tochter des als fiktive Figur auch im Text vorkommenden, realen Pathologen, dass damals ein Lungenpestausbruch in Moskau aufgrund der Geheimdienstmethoden des Staates eingedämmt werden konnte. Publik wurde dieser und ähnliche andere Ausbrüche nie gemacht.
So spannt die Autorin mit ihrem Szenario aber auch mit dem tollen Nachwort den Bogen vom Jahre 1939 ins Pandemie-Jahr 2020. Eine wirklich empfehlenswerte Lektüre, nicht nur in pandemischen Zeiten, sondern auch Zeiten, in denen Der Mächtigste Mann Russlands mit Leningrader Akzent“ wieder ein Despot ist und ähnliche Machtinstrumente anwendet wie damals Stalin. 4,5 Sterne.