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Veröffentlicht am 03.06.2023

Abgefahrene Geschichte mit unerwarteten Richtungswechseln

Kachelbads Erbe
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„Kachelbads Erbe“ kommt zunächst wie ein Science-Fiction- und Phantastik-Roman daher mit seiner Geschichte um Kachelbad, der in den 1980er Jahren in Los Angeles für ein Kryonik-Unternehmen arbeitet. Er ...

„Kachelbads Erbe“ kommt zunächst wie ein Science-Fiction- und Phantastik-Roman daher mit seiner Geschichte um Kachelbad, der in den 1980er Jahren in Los Angeles für ein Kryonik-Unternehmen arbeitet. Er friert Menschen auf deren Wunsch und nach Zahlung beträchtlicher Summen direkt nach deren Ableben in flüssigen Stickstoff zusammen mit mehreren „kalten Mietern“ in große Tanks ein, damit diese in einer ferneren Zukunft, wenn es bessere Behandlungsmöglichkeiten, bessere Lebensumstände, bessere Was-auch-immer gibt, wieder aufgetaut und zum Leben erweckt zu werden.

Nun ist der Roman wirklich ganz erfrischend interessant geschrieben. Wir lesen nämlich die letzten quasi Memoiren von sechs „kalten Mietern“ ein und desselben Tanks. Sowie einleitend ein Kapitel verfasst von einer von Kachelbad angeworbenen Mitarbeiterin Rosary, wodurch wir nicht nur mehr über die Kryonik-Firma, erste Eindrücke von Kachelbad sondern auch dessen Fähigkeit sich unsichtbar zu machen, erhalten. Die Unsichtbarkeit, zu welcher nicht nur Kachelbad in der Lage ist, macht den phantastischen Teil dieses Buches aus. Die Sciene-Fiction kommt durch die Kryonik. Und ganz unerwartet breitet sich mithilfe der verschiedenen Dossiers zu den „kalten Mietern“ und deren Lebensgeschichten eine psychologische Tiefe aus, die ich zunächst gar nicht dem Stoff zugetraut hätte. Zuletzt dreht sich auch noch ein großer Teil des Romans um ein schwerwiegendes, medizinisch-gesellschaftspolitisches Tabuthema der 1980er Jahre, was dem Roman noch einmal einen ganz neuen Dreh verleiht.

Mich konnte Hendrik Otremba, der 1984 geborene deutsche Musiker, Autor und bildender Künstler, mit seinem zweiten Roman und dessen kreativer Umsetzung definitiv überzeugen. Mit jedem neuen Kapitel öffnete sich eine neue Welt. Zwischenzeitlich hatte ich zwar mal kurzzeitig das Gefühl, dass Otremba die Kurve nicht mehr kriegt und gar nicht mehr so richtig weiß, wohin er mit seinem Roman eigentlich will, konnte dann aber doch das Thema der Kryonik wieder einfangen. Das Ende des Romans ist für mich nicht wirklich greifbar geworden, aber genau das passiert ja bei Leuten, die sich unsichtbar machen können. Sie verschwinden und lassen die Umstehenden mit Fragezeichen in den Köpfen zurück. Das hat mir sehr gut gefallen. Eine wirklich empfehlenswerte Lektüre für alle, die mal literarisch etwas wagen möchten. Die Genregrenzen hin zum dunklen Thriller verwischen. Hier bekommt man nichts Eindeutiges, ein Puzzle, was man bis zum Schluss dabei ist zusammenzusetzen. Interessante Figurenzeichnungen, nicht alltägliche Handlung. 4,5 Sterne.

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Warten auf Godot… ehm Cecilia

Tage ohne Cecilia
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Der Titel von Becketts Theaterstück ist mittlerweile zur Redewendung geworden, meinend ein Zwang zu langem und vergeblichem Warten. Unser Ich-Erzähler in dem Roman von Molina ist ein älterer Mann, der ...

Der Titel von Becketts Theaterstück ist mittlerweile zur Redewendung geworden, meinend ein Zwang zu langem und vergeblichem Warten. Unser Ich-Erzähler in dem Roman von Molina ist ein älterer Mann, der aus New York mit dem gesamten Hausstand nach Lissabon umgezogen ist. Jetzt fehlt eigentlich nur noch seine Frau, Cecilia, die als anerkannte Neurowissenschaftlerin ständig im Labor oder auf Tagungen unterwegs ist. Vielbeschäftigt, weshalb sie, laut dem Ich-Erzähler, erst verspätet in Lissabon, dem gemeinsamen Altersruhesitz, ankommen wird. Die Tage vergehen und gehen ineinander über, man verliert beim Lesen das Zeitgefühl, aber dieses scheint der Erzähler auch verloren zu haben, wie so einiges anderes.

Sprachlich ganz herausragend bietet Molina hier die psychologische Studie eines Verstandes, der im Warten zergeht. Stolz erzählt der Protagonistin von den Forschungen seiner Frau und weiteren neurologisch-psychologischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch von dem während des Wartens aus der Hausbibliothek angelesenen Wissens. So vertieft sich der Erzähler in der Autobiografie („Alone“) von Richard E. Byrd, der fünf Wintermonate allein in einer antarktischen meteorologischen Station verbrachte und scheinbar ähnliche Angstsymptome zeigte, wie auch unser Erzähler. Denn das sind die Themen, die sich durch die Gedanken des Erzählers und die Arbeit seiner Frau ziehen: Angst, Trauma, Krisensituationen. Der Erzähler überlebte mit seiner Frau 9/11 und schnell wird klar, dass sich seitdem in seinem Leben immer mehr verschiebt.

Moline erzählt dieses Kammerspiel dabei mit einer ruhigen, gefassten Stimme, nimmt sich Zeit für Beschreibungen und erhöht damit nur umso mehr die Spannung welche sich von Seite zu Seite steigert. Was ist mit Cecilia los, will man im Laufe des Buches immer dringender erfahren. Bevor sich der Autor zum fulminanten Finale aufmacht, stockt jedoch die Erzählung zu Beginn des letzten Drittels ein wenig. Zu ausufernd wird eine Szenerie geschildert, die später - meine Erachtens - keine tiefgreifende Rolle mehr spielt. Auch sprachlich erschient mir diese Passage weniger reizvoll wie der Rest des Buches. Der Autor findet jedoch zu seiner alten Stärke zum Schluss noch einmal zurück. Atemlos liest man die letzten Seiten und steigt vollends in die Psyche des Protagonisten ein. Das Ende lässt viele Deutungen zu, erscheint mir - so wie ich es deute - jedoch nicht komplett plausibel für die Lesenden. Dass das Denken des Protagonisten nicht immer plausibel und ihm auch nicht immer zu trauen ist, wissen wir zu diesem Zeitpunkt schon lange.

Dieser absolut lesenswerte Roman entführt seine Lesenden in die Psyche eines Mannes und in dessen Lissabonner Wohnung gleich mit. Bei kleineren Abstrichen zum Plot entscheide ich mich für die 4-Sterne-Bewertung bei insgesamt 4,5 Sternen. Ein wirklich feinfühliger Roman, der ganz anders als „Warten auf Godot“ nicht „nur“ zur Redewendung verkommen sondern definitiv auch tatsächlich gelesen werden sollte.

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Die (unglaublich authentische) Kriegerin

Die Kriegerin
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In der deutschen Literaturwelt noch ein relativ unberührtes Thema aufzugreifen ist nicht so einfach. Zu fast allem ist schon vieles gesagt. Ein literarisch hochwertiger Roman über zwei Soldatinnen wirkt ...

In der deutschen Literaturwelt noch ein relativ unberührtes Thema aufzugreifen ist nicht so einfach. Zu fast allem ist schon vieles gesagt. Ein literarisch hochwertiger Roman über zwei Soldatinnen wirkt da regelrecht frisch und unverbraucht. Lisbeth hat ihre Grundausbildung bei der Bundeswehr vor vielen Jahren zusammen mit „Der Kriegerin“ absolviert. Die Kriegerin erhielt ihren Spitznamen in ebenjener Grundausbildung und behielt ihn seitdem. Während Lisbeth mittlerweile als Floristin arbeitet und gerade eben vor ihrem Leben in der Kleinfamilie mit Partner und Kleinkind geflohen ist, hat sich die Kriegerin für 12 Jahre verpflichtet und verbringt kaum ihre Zeit in Deutschland. Auf verschiedensten Auslandseinsätzen ist sie schon gewesen. Zuletzt ist es immer wieder Afghanistan, wohin sie geschickt wird. Nach vielen Jahren treffen sich nun die beiden zufällig im Winter an der Ostsee wieder und vertiefen eine zwischenzeitlich abgekühlte Freundschaft.

Sehr langsam und bedächtig erzählt Bukowski davon, was sogenannte „friedenssichernde Auslandseinsätze“ mit den Soldaten und Soldatinnen psychologisch machen. Denn dieser Roman ist über einen längeren Zeitraum erzählt. Immer wieder in regelmäßigen Abständen treffen sich Lisbeth und Die Kriegerin wieder, immer mehr sieht man dem psychischen Veränderung Der Kriegerin zu und steht dem ebenso hilflos wie Lisbeth gegenüber. Lisbeth, die an Neurodermitis leidet, einer Erkrankung, die so stark wie kaum eine andere psychosomatisch ihre Spuren hinterlässt. Die eigenen aber auch die psychischen Belastungen anderer schreiben sich in die Haut von Lisbeth ein. Durch Rückblicke erfahren wir Stück für Stück, was mit Lisbeth über ihr Leben hinweg passierte, bis zu dem Punkt, an welchem sie ihre Familie verlassen hat. Der Ausgangspunkt des Romans. Gleichzeitig treibt die Autorin die Handlung um Die Kriegerin voran und lässt alles auf ein spannendes Finale hinauslaufen.

Zwischendurch kommt es zu ein, zwei recht großen Zufällen, die den Plot vorantreiben und zum Schluss wird geht alles dann gefühlt sehr schnell. Mir hätte ein durchgängig ruhiger Erzählstil mit einem methodischen Freilegen der Vergangenheit und der Auswirkungen auf die Psyche der Personen in der Gegenwart etwas besser gefallen, als es dann letztlich die Autorin mit dem angezogenen Erzähltempo gelöst hat. Geschenkt.

Das ist nur Gemecker auf hohem Niveau, denn insgesamt beleuchtet der Roman ein bisher übersehendes Themengebiet dermaßen authentisch und mitreißend, dass ich die volle Punktzahl dieser wichtigen Geschichte nicht vorenthalten will. Mich hat der Roman von Helene Bukowski gepackt und in eine emotionale Achterbahn gesteckt. Es ist gut, dass es Frauen in der Bundeswehr geben darf, und gleichzeitig bedarf es einer tiefgründigen Auseinandersetzung damit, was dies speziell zur Folge haben kann. Viele Eindrücke im Kampfeinsatz werden wohl bei allen Beteiligten eine ähnliche Wirkung haben, aber manche davon sind nun einmal spezifisch weiblich und sie gehören benannt. Umso besser, dass sich Bukowski nun damit beschäftigt.

Meines Erachtens handelt es sich hierbei um ein definitiv empfehlenswertes, sehr gut recherchiertes Buch. Der Roman legt den Finger in verschiedene traumatische Wunden von Frauen, oder um im Koordinatensystem des Romans zu bleiben: er kratzt immer wieder die Wunden auf, die scheinbar in der (weiblichen) Menschheitsgeschichte nie verheilen und sich immer wieder entzünden.

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Ein doppelbödiges Szenario

Eine Seuche in der Stadt
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In „Eine Seuche in der Stadt“ entwirft Ljudmila Ulitzkaja auf nur 105 Seiten (ohne Nachwort) ein reales wie auch doppelbödig-humorvolles Szenario um einen Lungenpestausbruch in Russland im Jahre 1939.

Der ...

In „Eine Seuche in der Stadt“ entwirft Ljudmila Ulitzkaja auf nur 105 Seiten (ohne Nachwort) ein reales wie auch doppelbödig-humorvolles Szenario um einen Lungenpestausbruch in Russland im Jahre 1939.

Der Infektiologe Rudolf Iwanowitsch Mayer reist nach Moskau, um dort die Fortschritte seiner Forschung an einer Impfung gegen die Lungenpest vor dem großen Gesundheitskomitee vorzustellen. Was er beim Antritt seiner Reise nicht weiß, was den Lesenden aber recht schnell klar wird: er hat sich bereits mit der Erkrankung angesteckt und verteilt sie nun im Zug, bei der Sitzung mit den hohen Tieren und im Hotel. Nach Diagnose des Erkrankung wird der große Geheimdienstapparat der Sowjetunion aktiviert, um mit ihren Mitteln die Seuche einzudämmen.

Was Ulitzkaja hier deutlich macht, ist, dass wohl das einzige und letzte Mal in der Geschichte von Stalins Schreckensherrschaft dessen Terrorapparat positiv für die Belange der Einwohner genutzt wurde. Ganz grandios stellt die Autorin dar, was es damals bedeutet hat, wenn mitten in der Nacht es an der Tür klopfte. Hier werden „nur“ potentiell Infizierte eingesammelt. Meist waren es zu dieser Zeit aber Menschen, die nur ein falsches Wort gesagt haben oder vermeintlich ein falsches Wort gesagt haben, und in Lager oder den Tod geschickt wurden. Was dieses Anklopfen mit einzelnen nur ganz kurz vorgestellten Personen macht, welche Handlungen es auslöst, ist authentisch wie auch mitunter etwas kabarettistisch dargestellt. Allein schon wie Stalin u.a. im Text und auch im Personenregister genannt wird, ist zum Schreien: „Ein Mächtiger Mann mit georgischem Akzent“. Und ja, es gibt selbst für diese kurze Geschichte, die die Bezeichnung „Szenario“ trägt, ein Personenregister. Typisch für große russische Romane. Denn hier gibt es gefühlt den gleichen Umfang an Personal, wie es aus den dicken, russischen Schinken bekannt ist. Auch das meines Erachtens ein mit Augenzwinkern gewählter Schachzug der Autorin.

Der Text unterdessen ist nicht brandaktuell entstanden, auch wenn erschienen in 2020 unter dem Eindruck von Covid-19 taufrisch wirkt, sondern schon im Jahre 1978 geschrieben. Wie aus dem erhellenden Nachwort der Autorin hervorgeht, erfuhr sie über die Tochter des als fiktive Figur auch im Text vorkommenden, realen Pathologen, dass damals ein Lungenpestausbruch in Moskau aufgrund der Geheimdienstmethoden des Staates eingedämmt werden konnte. Publik wurde dieser und ähnliche andere Ausbrüche nie gemacht.

So spannt die Autorin mit ihrem Szenario aber auch mit dem tollen Nachwort den Bogen vom Jahre 1939 ins Pandemie-Jahr 2020. Eine wirklich empfehlenswerte Lektüre, nicht nur in pandemischen Zeiten, sondern auch Zeiten, in denen Der Mächtigste Mann Russlands mit Leningrader Akzent“ wieder ein Despot ist und ähnliche Machtinstrumente anwendet wie damals Stalin. 4,5 Sterne.

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Veröffentlicht am 31.05.2023

Strapaziös? Definitiv. Genial? Auch das.

Unendlicher Spaß
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Dieses fast 1600 Seiten starke Machwerk von David Foster Wallace (DFW) in inhaltlich in einer kurzen Rezension darzustellen, erscheint ein fast unlösbares Unterfangen. Wartet doch der 1996 erstmals im ...

Dieses fast 1600 Seiten starke Machwerk von David Foster Wallace (DFW) in inhaltlich in einer kurzen Rezension darzustellen, erscheint ein fast unlösbares Unterfangen. Wartet doch der 1996 erstmals im englischsprachigen Original veröffentlichte Roman mit einer massiven Themendichte auf.

Die „Rahmenhandlungen“ (Plural!) spielen sich grob in einer Tennisakademie für 10 bis 18jährige angehende Profisportler, einem nahegelegenen Entzugswohnheim für Drogen- und Alkoholabhängige sowie auf einem Felsbrocken zwischen zwei Agenten. Im ersten Setting geht es hauptsächlich um die Sucht nach Erfolg, Leistungsdruck und Belastungen der jugendlichen Sportler:innen, aber auch um das familiäre System einer der Schüler und gleichzeitig Hauptprotagonist Hal Incandenza. Dessen durch Selbstmord bereits verstorbener Vater gründete die Akademie, widmete sich danach dem Drehen von post-avangardistischen Filmprojekten. Eines dieser Projekte ist der Film „Unendlicher Spaß“, welcher zur Hirnerweichung und dem Tod führt. Das holt die Agenten franko-kanadischer Separatistengruppen sowie des US-Geheimdienstes auf den Plan. Jetzt auch noch verständlich den Erzählstrang in dem Entzugswohnheim hier zu erklären, ist mir einfach nicht sinnvoll möglich.

Sie verschiedenen Erzählstränge werden in nicht-chronologischer Reihenfolge, in wechselndem Muster im Buch angebracht, über die ersten 500 Seiten hat man prinzipiell keine Ahnung, was so wirklich vor sich geht, im Mittelteil hat man das Gefühl, langsam zu verstehen, wohin der Autor mit der ganzen Sache möchte, und verliert diese Idee zum Ende hin wieder vollständig. Das klingt wirr? Ist es auch. Warum lohnt sich trotzdem potentiell eine Lektüre?

Der Roman spielt hauptsächlich im Jahre 2012, was also ca. 16 Jahre vom Entstehungszeitpunkt in der Zukunft liegt. DFW beschreibt die Zersetzung von Individuen und damit auch einer Gesellschaft in einem Maße, was im Jahre 2022 den Leser:innen eine Gänsehaut bescheren kann. Für mich grandios an diesem Roman war jedoch nicht unbedingt die hier erschaffene Welt als Ganzes, sondern bestimmte Textsegmente zu speziellen Themengebieten, die dermaßen authentisch geschildert sind, dass sie Augen öffnend sind. So wird Drogenkonsum, -trips, -abhängigkeit, -entzug usw. wirklich so ausführlich wie – zumindest von mir – noch nie gelesen dargestellt. Auch der Themenkomplex um Anhedonie und schwere Depressionen ist mehr als gelungen. Mit dem Wissen, dass sich DFW in 2008 selbst nach jahrzehntelanger schwerer Depression suizidiert hat, lässt die Beschreibungen diesbezüglich noch einmal in einem ganz intensiveren Licht dastehen. Noch nie hat mir ein Text so stark verdeutlicht, warum es Menschen mit dem Krankheitsbild der schweren Depression den Suizid als einzige alternativlose Möglichkeit sehen zu handeln.

Womit aber dieser Roman und damit auch der Autor DFW am meisten brilliert ist die Sprache. Es ist nicht in Worte zu fassen, wie kreativ der Autor die Sprache zu seinem Mittel macht, um nicht nur eine bitterböse Analyse der Gesellschaft und Kritik an ebendieser zu vermitteln, sondern einfach auch amüsante Plotbausteine einzuweben. Gerade wenn man versucht die aberwitzigen Geschehnisse in diesem Roman einer anderen Person, die das Buch nicht gelesen hat, zu vermitteln, wird das Ausmaß des Humors erst so richtig sichtbar. Bisher habe ich in noch keinem Buch so viele kreative Ideen im Umgang mit Sprache und Handlung erlebt. Was sich vor allem in den kongenialen Anmerkungen des Autors zeigt. Diese umfassen fast 200 Seiten allein, gehören definitiv zum Plot dazu, können und sollten also keinesfalls übersprungen werden, und erzählen mitunter eigene Geschichten für sich. Eigentlich lese ich lieber Fußnoten direkt unten auf der entsprechenden Seite, wie es bei kürzeren Werken DFW‘ gehandhabt wird, aber hier ist dies nicht ansatzweise möglich, wenn allein die „Filmografie“ von Hals Vater ganze 12 Seiten einnimmt.

Und wenn von Sprache die Rede ist, dann muss in Verbindung mit „Unendlicher Spaß“ zwingend der Übersetzer Ulrich Blumenbach - nicht nur genannt, nein - geehrt werden! Glücklicherweise bekam er die Zeit zugestanden, die er für die Übersetzung eines solchen Werkes auch brauchte, nämlich sechs (!) Jahre. Was dieser Mensch hier erarbeitet hat, kann man nicht hoch genug loben. Es handelt sich um Zauberei.

Ich habe das Gefühl, meine Rezension ist einfach nur wirr und zerfasert. Und ganz ehrlich? Der vorliegende Roman ist eine wirre, zerfaserte Zettelkiste. Ein wilder Montageritt, der gleichzeitig unglaublich zäh sein kann. Durch diese knapp 1600 Seiten habe ich mich in vier vierhundert Seiten Abschnitten genähert, durchgekämpft, sie bezwungen. Unverhohlen: Die Lektüre von „Unendlicher Spaß“ kann unendlich anstrengend sein und lässt sich keinesfalls süffig runterlesen. Deshalb ist das Buch keinesfalls etwas für jede Person. Viele werden es frustriert abbrechen. Also kann ich trotz meiner vergebenen vollen Punktzahl hier keinesfalls eine allgemeine Leseempfehlung aussprechen, kann aber garantieren, wer sich die Mühe macht, sich durch diesen Zettelkasten mit den Stimmen von vielen wirklich schwer beschädigten Figuren durchzukämpfen, wird mit einer genialen Gesellschaftskritik, Humor, Kreativität und Spaß an der Sprache belohnt werden.

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