Episoden eines verregneten, schicksalhaften Sommertags
SommerwasserWer denkt beim Wort „Sommerwasser“ schon an einen verregneten Urlaub in einer Ferienhaussiedlung an einem schottischen Loch (See)? Bei unserem derzeit (zum Glück!) verregneten Sommer hier in Mitteleuropa ...
Wer denkt beim Wort „Sommerwasser“ schon an einen verregneten Urlaub in einer Ferienhaussiedlung an einem schottischen Loch (See)? Bei unserem derzeit (zum Glück!) verregneten Sommer hier in Mitteleuropa ist dieses Szenario vielleicht sich gar nicht so schwer vorzustellen. Aber wem es an Vorstellungskraft fehlt, der wird durch diese großartige Geschichte von Sarah Moss und ihren unbestechlichen Schreibstil definitiv abgeholt und mitgenommen in die Highlands.
Sieben alte, morsche Holzhäuschen gehören zur kleinen Feriensiedlung, in der der Roman von Moss angelegt ist. Sie werden von jungen und alten Paaren sowie von Familien mit noch ganz kleinen Kindern oder schon fast ganz ausgewachsenen Teenagern bewohnt. Während sich die Handlung über nur einen Sommertag hinweg erstreckt, tauchen wir ganz tief in die Geschehnisse dort ein und schauen fast in jedem Häuschen vorbei. Dabei schnappt sich Moss in jedem Personen-Kapitel ein Familienmitglied und beschreibt deren Gedanken, Gefühle und Handlungen in genau diesem Moment durch die Brille der personalen Erzählerin. Zwischengeschoben sind Kurzkapitel, die die Stimmung in der umgebenden Natur widerspiegeln und immer mehr von Unheil künden.
Beginnt der Roman noch meines Erachtens recht amüsant mit Einblicken in die Gedanken z.B. einer bei Tagesanbruch joggenden, jungen Mutter, eines pensionierten Arztes, der verwundert die frühmorgendliche Joggerin beobachten oder einer jungen, frisch verlobten Frau, die während des morgendlichen, sportlichen Sexes sich nicht so recht konzentrieren kann. Die Stimmung kippt jedoch zunehmend und das Unheil, welches bereits durch die Zwischenkapitel durch die Naturbeschreibungen angedeutet wird, wird scheinbar immer konkreter. Menschliche Abgründe tun sich auf, wenn Moss so unglaublich authentisch und glaubhaft in die Köpfe von Jungen und Alten, Männern und Frauen hineinspringt und deren Motivationen erforscht. Psychologisch vollkommen schlüssig konstruiert sie ihre Figuren, sodass ein Puzzleteil nachvollziehbar ins nächste passt.
Wirklich brillant inszeniert Moss diesen nur 180 Seiten kurzen Episodenroman zu einem echten menschlichen Drama, steigert die Spannung sowohl über den großen feriensiedlungsübergreifenden Bogen aber auch immer wieder im Kleinen bezogen auf die Erlebnisse jeder einzelnen Figur, sodass man gar nicht mehr aufhören will, dieses Bravourstück zu lesen, bevor man nicht genau erfahren hat, wie das alles nur ausgehen wird.
Während der Text ganz nah an den Gedanken der Protagonist:innen entlanggeführt wird, scheint aber auch immer wieder Gesellschaftskritisches durch diese hindurch bzw. wird durch sie verdeutlicht. Somit bekommt der Roman nicht nur eine kluge psychologische Tiefe sondern auch im übergeordneten Sinne weitere Dimensionen.
Insgesamt konnte mich Sarah Moss‘ Roman von Anfang bis Ende durch seine großartige Figurenzeichnung, die mit Auslassungen spielende Sprache, welche immer zur entsprechenden Figur passt, die heraufbeschworene, unheilvolle Atmosphäre, die Spannung, die Gesellschaftskritik und die kluge Konstruktion der übergreifenden Geschichte uneingeschränkt überzeugen. Deshalb gibt es von mir eine ebenso uneingeschränkte Leseempfehlung für diesen auf vielen Ebenen ausgezeichneten Roman.
5/5 Sterne