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Veröffentlicht am 07.09.2023

Aufwühlend, stimmt nachdenklich

Alle Farben grau
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Wenn ein geliebter Mensch sein Leben lässt, egal wie, dann ist das immer unfassbar traurig. Wenn aber ein Jugendlicher entscheidet, dass dieses Leben ihm nichts mehr zu geben hat und es für ihn das Beste ...

Wenn ein geliebter Mensch sein Leben lässt, egal wie, dann ist das immer unfassbar traurig. Wenn aber ein Jugendlicher entscheidet, dass dieses Leben ihm nichts mehr zu geben hat und es für ihn das Beste ist, ebenjenes freiwillig zu beenden, dann ist das besonders tragisch. Genau davon erzählt Martin Schäuble in seinem Roman „Alle Farben Grau“.

Pauls Welt hat sämtlichen Glanz und jegliche Farbe verloren. Häuser, Wände, Bäume, Straßen, sogar Menschen, alles um ihn herum ist grau. Und dazu lässt ihn seine innere Stimme immer wieder wissen, dass er nichts wert ist und niemandem etwas bedeutet. Immer wieder, damit Paul es keinesfalls vergisst.

Einfühlsam und bewegend erzählt der Autor die Geschichte des 16-jährigen Paul, der keinen anderen Ausweg aus seinen Problemen sieht, als sich selbst das Leben zu nehmen. Dabei sind die ständigen Perspektivwechsel, die Schäuble verwendet, wohl überlegt gewählt. Sowohl Paul als auch Freunde, Mitschüler und seine Familie erzählen in der Ich-Perspektive von ihren Erlebnissen und Erinnerungen. So fügen sich nach und nach sämtliche Teilchen zu einem traurigen, aber brillant erzählten Gesamtbild zusammen.

Einmal begonnen, konnte ich dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen. Pauls Story hat mich bewegt und gleichzeitig entsteht beim Lesen ein tiefes Verständnis dafür, dass man, so offensichtlich die Dinge auch zu sein scheinen und so gut man jemanden zu kennen glaubt, eben doch nicht in das Innerste eines Menschen blicken kann und wir nur das sehen, was wir sehen wollen oder eben auch sollen.

Schäubles Roman ist ein Weckruf, Depressionen und Suizidgedanken nicht zu tabuisieren. Das Leben kommt mitunter knallhart daher, aber es ist in den strahlendsten Farben bunt und es lohnt sich dafür zu kämpfen.

Fazit: Schon lange hat mich ein Buch nicht mehr so sehr berührt wie „Alle Farben Grau“. Pauls Geschichte wird mich noch eine ganze Weile begleiten. Definitiv keine leichte Kost, dennoch absolut empfehlenswert!

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Veröffentlicht am 06.09.2023

Histo-Krimi mit Gänsehautfaktor

Flammentochter
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Unsere Hauptprotagonistin ist die 13-jährige Margaretha, die nach dem Pesttod der Eltern vom Bruder zur Müllerin abgeschoben wurde, die Kinder als billige Arbeitskräfte aufnimmt. Ich hatte sofort Mitgefühl ...

Unsere Hauptprotagonistin ist die 13-jährige Margaretha, die nach dem Pesttod der Eltern vom Bruder zur Müllerin abgeschoben wurde, die Kinder als billige Arbeitskräfte aufnimmt. Ich hatte sofort Mitgefühl mit dem zarten Mädchen, das mit ansehen musste, wie ihr Elternhaus abgebrannt wurde, in dem die Mutter gerade starb. Ich wollte sie in die Arme nehmen und weinen lassen. Alles was sie möchte, ist, mit ihrem Bruder zusammen zu sein. Sie wünscht es sich so sehr, dass sie sich selbst als Hexe bezichtigt, nachdem sie in der Schule von den Hexenprozessen gehört hat. Was muss in dem Mädchen vorgehen, dass sie sich zu einem solch drastischen Schritt entscheidet?

Im Fokus steht de facto der Prozess gegen Margaretha. Interessant fand ich die unterschiedlichen Sichtweisen und Sympathien für das Mädchen von Seiten, von denen ich es nicht erwartet hätte. Natürlich gibt es einen dunklen Gegenspieler, der die Situation zugunsten eines Glaubensmachtkampfes ausnutzen möchte und der den Ereignissen noch zusätzliche Spannungsmomente beschert.

Was mich am meisten beeindruckt, ist Margarethas Sichtweise auf den Glauben, der in der damaligen Zeit geradezu das ganze Leben bestimmte. Sie stellt Fragen, die mich heute selber noch beschäftigen. Obwohl sie gläubig ist und ich nicht, konnte ich mich in den Gesprächen, die sie mit dem Pfarrer im Gefängnis führte, wiederfinden. Man mag sich heute gar nicht vorstellen, wie furchtbar das war: Kälte, Nässe, Gestank, Ratten und schimmeliges Stroh um sich herum. Da bekomme ich schon von der Vorstellung Gänsehaut.

Gut fand ich die Kapitelgliederung, die in die jeweiligen Tage, Monate und das Jahr eingeteilt sind.
Das Ende kam etwas abrupt; es ist definitiv passend, aber ich dachte: Ups, schon zu Ende?!
Wichtig ist der Epilog, in dem viel erklärt wird über die tatsächlichen Personen und in dem der Hintergrund nochmal anders beleuchtet wird.

Großes Kompliment an die - mit 20 Jahren wirklich sehr junge - Autorin, wegen ihrer guten Recherche, dem Eintauchen in die eigene Familiengeschichte und einem guten, schnökerlosen Schreibstil.

Fazit: Leseempfehlung für Freunde historischer Romane, insbesondere über das düstere Kapitel des Dreißigjährigen Krieges, über Pest und Hexenverbrennung.

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Veröffentlicht am 18.07.2023

Bedrückende und emotionale Familiengeschichte

Nimm mich mit dir, wenn du gehst
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Bea hat die Nase voll. Sie will sich nichts mehr von ihrer Mutter Anne und deren Partner Darren vorschreiben lassen. Und schon gar nicht mehr will sie sich der psychischen und teilweise auch körperlichen ...

Bea hat die Nase voll. Sie will sich nichts mehr von ihrer Mutter Anne und deren Partner Darren vorschreiben lassen. Und schon gar nicht mehr will sie sich der psychischen und teilweise auch körperlichen Misshandlung der beiden aussetzen. In einer Nacht- und Nebelaktion verschwindet sie und lässt ihren geliebten Bruder Ezra zurück. Doch sie hinterlässt ihm eine E-Mail-Adresse, mit der alles beginnt und das Schicksal seinen Lauf nimmt...

Die Story besteht einzig aus E-Mails, die sich Bea und Ezra hin- und herschicken. Dabei offenbaren sie sich Geheimnisse, tauschen sich über ihr trauriges Leben bei ihrer Mutter aus und geben sich gegenseitig Halt. Als Bea jedoch den wahren Grund ihres Verschwindens bekannt gibt, zieht sich Ezra zunächst zurück. Doch ohne seine Schwester kann er einfach nicht sein - und genau darauf hat das Autorenduo den Fokus gesetzt. Blut ist nicht immer dicker als Wasser, aber manche Menschen braucht man einfach in seinem Leben, weil sie einem guttun.

Der Schreibstil ist locker und leicht verständlich. Die angesprochenen Themen sind nichts für schwache Nerven, denn häusliche Gewalt, zerstörte Familienverhältnisse und eine dramatische Vergangenheit ließen mich die Handlung noch emotionaler erleben. Gerade als Mutter ist man von den Erzählungen sicher sehr ergriffen und würde die Geschwister am liebsten in die Arme nehmen. Es handelt sich zwar um eine fiktive Geschichte, dennoch ist es unglaublich traurig, dass tatsächlich viele Kinder in solchen Familienverhältnissen leben und keine Hilfe erhalten.

Umso schöner fand ich die Verbindung, die Bea und Ezra untereinander haben. Ich kann gar nicht sagen, wer mir sympathischer war, denn beide sind auf ihre Art nahbar und real gezeichnet. Es hat mich fasziniert, wie stark so eine Geschwisterliebe tatsächlich sein kann und wie wichtig sie gleichzeitig ist. Gerade wenn man zusammen so eine Vergangenheit erlebt hat. Ezra und Bea geben sich trotz der räumlichen Trennung Halt und achten aufeinander.

"Wenn dir dein Leben nicht gefällt, ändere es. Hör auf herumzujammern und ändere an dir, was du in der Welt verändert sehen willst. Sei selbst die Veränderung. Du bist für größeres geschaffen. (Zitat Pos. 3560)

Die klärenden E-Mails, die zum Ende hin die Runde machen, fand ich als Abschluss sehr gelungen. Ich habe mich in einigen Passagen selbst wiedererkannt und war fasziniert, welche Wirkung diese "Befreiung" auch auf mich selbst hatte.

Fazit: Eine bedrückende und emotionale Familiengeschichte, die mich zum Nachdenken bewegt hat und bestimmt noch ein wenig nachwirken wird. Für alle, die ein bisschen Mut gebrauchen können, ist dies die perfekte Lektüre!

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Dreckig, wendungsreich, überraschend

City of Dreams
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Wer den ersten Teil der City on Fire-Saga bereits gelesen hat, kennt Danny und hat ihn (wahrscheinlich) lieben und hassen gelernt. Den Draufgänger. Den Wagemutigen. Den Lebemann, den man für seine Abenteuer ...

Wer den ersten Teil der City on Fire-Saga bereits gelesen hat, kennt Danny und hat ihn (wahrscheinlich) lieben und hassen gelernt. Den Draufgänger. Den Wagemutigen. Den Lebemann, den man für seine Abenteuer beneidet, aber mit dem man trotzdem nicht tauschen möchte.

„City of Dreams“ greift ebenjene unterschwellige Spannung in 1988 auf und rotzt uns all das, was Winslow in seinem Hinterstübchen ausklamüsert hat, ungeschönt vor die Füße. Und wir lieben das, oder? Wir können gar nicht ohne diesen Sarkasmus und diese Ironie, brauchen das Drama ebenso sehr wie die Tragik. All das verknüpft Winslow gekonnt - und setzt noch einen oben drauf.

Von Danny kann man halten, was man möchte, aber dieser Kerl weiß zu unterhalten. Wir begleiten ihn durch sämtliche Eskalationen, lauschen den Dialogen und lassen uns berieseln vom Glanz und Glamour des untergehenden Hollywoods. Dabei hat der Ire alle Hände voll zu tun. Nachdem er ein bisschen Heroin von italienischen Mafiosi gemoppst und einen FBI Agenten umgenietet hat, schnappt er sich seine Klamotten, seine Hood, und ab geht's gen Westen. Was wäre ein guter Winslow ohne die anschließende Action? Selbstverständlich muss sich Danny einigen Hindernissen stellen und aufpassen, nicht dabei drauf zu gehen. Der Roman schildert seinen verzweifelten Versuch, sich von seiner Vergangenheit zu lösen und ein neues Leben zu beginnen. Das sei ihm durchaus gegönnt, allerdings hat er sich dafür mit den falschen Leuten angelegt. Nichts wird vergeben, nichts wird vergessen, Blut wird mit Blut bezahlt. Und Danny wäre nicht Danny, wenn stets alles reibungslos klappen würde...

Der Autor hat ein paar spannende Twists eingebaut, die den Plot unterwegs gut auflockern und den Leser bei Laune halten. Er spielt gekonnt mit den Worten, weiß, wie er Situationen, Personen und Umgebungen so beschreibt, dass das Kopfkino auf Hochtouren läuft. Auch wenn die Geschichte für sich alleine stehen kann, sollte man vielleicht zuerst „City on Fire“ lesen, da der Vorgänger Hintergrundinformationen liefert, die fürs Verfolgen der Ereignisse wichtig sind.

In Winslows Romanen geht es typischerweise um große, komplizierte Handlungsstränge mit weitreichenden geografischen und zeitgenössischen historischen Ausblicken. Sein neuestes Werk bildet da keine Ausnahme. „City of Dreams“ ist nicht gewalttätiger als viele andere Krimis, aber es entsteht zunehmend ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Man verliert sich zuweilen zwischen den Zeilen, wird melancholisch, sehnt sich nach Ruhe, zeitgleich nach den klassischen Merkmalen des bedeutenden Hollywoods, will ausbrechen, das Leben genießen, dann doch wieder einfach nur die Tür zuschließen. Für Danny ist es ein ewiges Auf und Ab.

„City of Dreams“ hat einen faszinierenden Schauplatz: Hollywood, einen Ort, an dem die High Society, die Filmindustrie und die kriminelle Klasse sich überschneiden. Und der Autor scheint beim Schreiben viel Spaß gehabt zu haben, da er zweifellos daran interessiert war, seine eigenen Erfahrungen mit dem Filmgeschäft in seine Arbeit einfließen zu lassen. Hat mir außerordentlich gut gefallen.

Fazit: Dreckig, gewalttätig, voller Überraschungen. Ein düsterer Roadmovie, der problemlos mit seinem Vorgänger mithalten und großartig unterhalten kann.

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Veröffentlicht am 01.05.2023

Ein Kampf um Leben und Liebe

So weit der Fluss uns trägt
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„Für Fans von Der Gesang der Flusskrebse“ – so wurde das Buch von Shelley Read beworben. Und so weit auseinander sind die Bücher nicht, auch wenn die Geschichten nicht unterschiedlicher sein könnten.

Im ...

„Für Fans von Der Gesang der Flusskrebse“ – so wurde das Buch von Shelley Read beworben. Und so weit auseinander sind die Bücher nicht, auch wenn die Geschichten nicht unterschiedlicher sein könnten.

Im Mittelpunkt steht Victoria, noch nicht volljährig, die nach dem Zweiten Weltkrieg und einem tragischen Unfall versuchen muss, wieder auf die Beine zu kommen. So viele geliebte Menschen wurden ihr genommen. So gut es geht, versucht sie, die Aufgaben ihrer verstorbenen Mutter zu übernehmen und die Farm und ihre Brüder zu versorgen. Auf ihren Schultern ruht die Last einer Mutter, von Jetzt auf Gleich muss sie neben ihrer eigenen Trauer auch noch diese schwere Verantwortung übernehmen.

Doch Shelley Read versteht es, die Protagonistin nicht als gebeutelte Figur darzustellen, mit der man Mitleid hat – Victoria ist eine starke junge Frau, die sich dem Leben entgegen stellt. Als in ihrem kleinen Dorf ein Fremder einkehrt, bleibt das nicht lange unbemerkt. Gerade in solchen Orten brodelt die Gerüchteküche schneller, als man schauen kann. Und obwohl man als Leser oft anders handeln würde, war Victorias Tun für mich stets nachvollziehbar. Sie wirkte trotz ihres jungen Alters gefestigt. Mir hat das sogar ein wenig imponiert.

In diesem Roman geht es unter anderem um die Liebe. Aber nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen, die sich gefunden haben. Sondern um so viele Facetten davon. Es geht um die Frage: Wo ist Heimat? Was ist Heimat? Mache ich es abhängig von einem Ort oder einer Person? Trotz allem war die Geschichte nie kitschig, geschweige denn langweilig.

Fazit: Kein Pageturner im klassischen Sinne, aber doch ein Buch, welches einen von der ersten Seite an fesselt. Tolles Setting, spannender Plot - empfehle ich gerne weiter.

Und es stimmt: Wer "Der Gesang der Flusskrebse" mochte, wird auch diese Story lieben!

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