Eine gelungene andere Perspektive
Kalmann ist ein ganz besonderer Held und von so liebenswerter Einfältigkeit, dass man ihn einfach mögen muss. Man lernt, seine überschaubare Welt aus seinen Augen zu betrachten – denn in seinem Kopf laufen ...
Kalmann ist ein ganz besonderer Held und von so liebenswerter Einfältigkeit, dass man ihn einfach mögen muss. Man lernt, seine überschaubare Welt aus seinen Augen zu betrachten – denn in seinem Kopf laufen die Räder manchmal rückwärts. Und das weiß er, also »kein Grund zur Sorge«.
In dem kleinen isländischen Dörfchen Raufarhöfn läuft auch einiges rückwärts, zum Beispiel die Einwohnerzahlen und die Fischfangquoten. Doch die restlichen Bewohner arrangieren mit dem harten Leben kurz vor dem Polarkreis. Das plötzliche Verschwinden des einzigen Hoteliers bringt etwas Aufregung in die Dorfgemeinschaft, denn es könnte verheerende Folgen für den Ort haben, da ihm auch die letzte Fangquote gehörte und er einen Plan hatte, Touristen in Islands Einöde zu locken. Und ausgerechnet Kalmann entdeckt die Blutlache. Das wird seinen beschaulichen Alltag gehörig durcheinanderbringen. Denn er will, dass alles seinen routinierten Gang geht. Na ja, eine Frau will er eigentlich auch noch.
Schmidt erzählt uns die Geschichte aus der Perspektive von Kalmann (34), dessen Weltsicht eine kindlich naive ist und doch von so einer bestechenden Logik. Alles, was er weiß, weiß er von seinem Großvater, bei dem er aufwuchs und der jetzt mit Demenz in einem Altenheim lebt. Ihm verdankt es Kalmann, dass er ein recht eigenständiges Leben führen kann, denn er ist leidenschaftlicher Haifischfänger und stellt den besten Gammelhai in der Gegend her. Kalmann wurde als Kind gemobbt, wird heute noch von den Bewohnern belächelt oder auch beschimpft, aber man akzeptiert ihn so wie er ist. Und er ist selbsternannter Sheriff des Dorfs, läuft nie ohne Cowboyhut, Sheriffstern und Mauser umher. Wenn man über ihn lacht, lacht er am liebsten mit – soviel hat er verstanden, dann fühlt er sich besser.
Aber Kalmann ist auch ein unzuverlässiger Erzähler, der manches durcheinanderbringt, ab und zu was vergisst und sich von seinen abschweifenden Gedanken leiten lässt. Für uns Leser macht es das nicht immer einfach, weil man sich ständig fragt, was er tatsächlich über das Verschwinden McKenzies weiß.
Wie anders Kalmann ist, kann man als Leser durchweg miterleben und spüren, denn Schmidt hat es sprachlich brillant umgesetzt. Es fühlte sich tatsächlich so an, als würde Kalmann denken und seine simple Logik brachte mich oft zum Schmunzeln. Doch er hat auch seine Schattenseiten, ist manchmal unwirsch, kann ziemlich heftig ausrasten und schreckt nicht davor zurück, sich und andere zu verletzen, wenn etwas nicht seinen Vorstellungen entspricht. Schmidt zeigt auch, wie viel Einfühlungsvermögen es bedarf, Kalmann so zu nehmen, wie er ist, gerade für Außenstehende wie die Polizistin Birna, die nicht sicher scheint, ob er nur ein Zeuge ist.
Die Geschichte spielt vor der wunderschönen Kulisse Islands, seiner überwältigenden Landschaft, der Ruhe und Gemächlichkeit der Abgeschiedenheit. Das alles schildert Schmidt so eindrucksvoll bildhaft, dass ich verstehe, weshalb der Schweizer Island zu seiner Wahlheimat gemacht hat. Er zeigt uns aber auch genauso eindringlich die Schattenseiten der abgelegenen Gegenden Islands, in denen die Menschen kaum noch eine Zukunft haben. Wohlgemerkt alles durch Kalmanns Augen, denn sogar der hat kapiert, das manch eine Entscheidung, die im entfernten Reykjavík getroffen wird, nicht zum Wohle aller ist.
Ein sehr außergewöhnliches Buch, das durch die einzigartige Perspektive besticht, ruhig und schnörkellos erzählt wird, mich sehr berührt hat und für das ich eine unbedingte Leseempfehlung aussprechen möchte.