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Veröffentlicht am 26.09.2017

Gehört in jede Handtasche, Rucksack, Jutebeutel

Das Kommunikationsbuch
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Was ist Kommunikation? Das einfachste Prinzip besagt dabei, dass es einen Sender gibt, eine Botschaft und einen Empfänger. Wir codieren und decodieren automatisch und nicht immer ohne Bedeutungsverlust. ...

Was ist Kommunikation? Das einfachste Prinzip besagt dabei, dass es einen Sender gibt, eine Botschaft und einen Empfänger. Wir codieren und decodieren automatisch und nicht immer ohne Bedeutungsverlust. Stille Post geht auch sehr laut. Die Willkürlichkeit von Sprache und dem Verstehen von Sprache lässt uns oft unsicher werden. Was hat der andere gesagt? Was hat er wirklich gemeint? Ist meine Botschaft angekommen? Das Kommunikationsbuch beschäftigt sich genau damit. Kommunikationswissenschaft für jeden, anschaulich und verständlich, im kompakten Format.
Ich nickte und staunte, überlegte und las die Seiten nochmal, denn dieses Buch bietet Vieles, was mir persönlich aus dem Studium, aber auch aus dem Leben bekannt ist. Dabei wertet es nicht. Wie ein „großes“ Fachbuch zeigt es Thesen, Theorien und Überlegungen, ohne sie zu kommentieren. Am Ende jedes Kapitels steht ein Merksatz. Im Grunde lassen sich die einzelnen Theorien auch mit diesen Merksätzen schon erklären, die oft humorvoll gehalten sind. Überhaupt zeigt dieses Buch: nehmt auch die Kommunikationswissenschaft nicht so ernst. Kommunikation passiert täglich. Wir wissen, dass auch Schweigen eine Aussage hat und dass wir oft mehr sagen, als wir müssten.
Es war für mich schön, bekannte Namen und Regeln wieder zu lesen. Und ehrlich: hätte ich dieses Buch im ersten Semester Germanistik oder gar in der Oberstufe bereits gehabt, wäre mir das Lernen und Verstehen vieler Fachbegriffe wesentlich leichter gefallen. Das Kommunikationsbuch bricht sie mit einfachen Mitteln herunter, macht sie greifbar und leicht verständlich. Natürlich entstehen dabei kleine Lücken, die aber erst dann wichtig werden, wenn jemand wirklich Kommunikationswissenschaft studiert.
Mit einer wunderbaren Leichtigkeit bringt dieses Buch näher, was uns alltäglich ist und doch so komplex, dass wir immer wieder darüber stolpern. Kommunikation. Was ist das überhaupt und welche Spezialfälle gibt es? Was ist eigentlich feministische Linguistik und warum ist sie wichtig? Was ist die Arschloch-Methode oder das Harvard-Konzept? Mit kleinen Anekdoten und vor allem einen faszinierenden Wissensschatz beeindruckte mich das Buch immer wieder. Prousts Fragebogen, die Sorry-Matrix, die Salamitaktik oder das Eisbergmodell zeigen allein schon in den Begriffen, dass es hier nicht verkopft zugeht, sondern menschlich und mit Begeisterung.

Veröffentlicht am 15.09.2017

Ehrlich, fanszinierend, süchtig machend. Bitte mehr, viel mehr davon!

Schneepoet
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Lukas zieht nach Frankreich und trennt sich von Inga, seiner großen Liebe. Nicht, weil er nicht mehr bei ihr sein möchte, sondern weil er das Ungesagte nicht mehr aushält. Er leidet und Depressionen und ...

Lukas zieht nach Frankreich und trennt sich von Inga, seiner großen Liebe. Nicht, weil er nicht mehr bei ihr sein möchte, sondern weil er das Ungesagte nicht mehr aushält. Er leidet und Depressionen und dem Gefühl unvollständig zu sein. Denn Inga kennt sein Geheimnis nicht. Er hat einen Zwillingsbruder, der einst von der Familie zurückgelassen wurde. Schuld und Scham verfolgen Lukas, der in Frankreich Luc genannt wird. Sie treiben ihn in Exzesse, Selbstzerstörung und zu einer Menge Frauen. Dabei ist es nur eine, die er nicht loswird. Inga.
Das Buch startet mit Lukas Trennung von Inga. Bereits in Frankreich suhlt er sich zwischen Selbstmitleid und Selbsthass. Allein der Glaube, sie damit zu retten, hält ihn davon ab, sofort zurück zu fahren. Und natürlich Silas, der Zwillingsbruder, den er noch immer verschweigt, die Hälfte seines Lebens, an der Inga nie teilhaben konnte. Der inneren Zerrissenheit des Protagonisten wird eine physische nebenangestellt. Silas, die Spiegelung von Lukas. Zwei Menschen, die sich erschreckend ähnlich und gleichzeitig so different sind in jedem Bereich, angefangen beim Aussehen.
Gleichzeitig pendelt Lukas Identität zwischen Deutschland und Frankreich, den beiden Sprachen und dem, was er in keiner der beiden Sprachen ausdrücken kann. Lukas schreibt auf Deutsch, weil ihm das französische Vokabular der Umgangssprache teilweise fehlt und kann gleichzeitig seine Identität in seiner „Vaterssprache“ Deutsch nicht klar ausdrücken. Die Banalität dieser Tatsache ist tiefgreifend. Eine psychische Blockade, die sich durchsetzt. So wie Lukas Inga versucht aus allem herauszuhalten, was in Frankreich passiert, ist sie doch der gedankliche Fixpunkt und die Obsession lässt den Leser auch ohne direkte Beschreibung gut verstehen, wie es vorher mit Silas gewesen sein muss.
Lukas ist von seinem Schamkomplex derart gefangen genommen, dass er selbstzerstörerisch wird. Zwischen Manie und Depression sucht er die Kicks nach oben und findet sie bei emotionslosem Sex und Drogeneskapaden. Die Art und Weise wie diese Zustände und Entscheidungen angegangen werden finde ich absolut faszinierend. Denn das Tagebuchformat des Romans erlaubt es, Lukas‘ Selbstreflexion wahrzunehmen und seinen Gedankengängen zu folgen. So werden seine Schritte erschreckend plausibel. Immer wenn ich Angst hatte, die Figur würde oberflächlich werden, haut er eine Selbstbetrachtung raus, die genau das zunichtemacht. Denn Lukas ist genau das nicht und zeigt eine Tiefe, die beeindruckt und für mich doch nachvollziehbar bleibt.
Gleichzeitig sind auch die anderen Figuren des Romans greifbar. Nur wenige bleiben in der Peripherie oder haben regelrechte Gastauftritte. So wie Lukas‘ eigene Geschichte voller psychologischer Feinheiten und Wendungen ist, ist es auch die seines Bruder Silas. Auch er hat ein Geheimnis, das ihn mehr und mehr belastet. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Folgen für Silas, Lukas und ihre Mitmenschen sind nicht nur faszinierend, sondern tatsächlich ungewöhnlich in der deutschen Literatur.
In Schneepoet und dem folgenden zweiten Band wird Depression als das dargestellt, was sie ist. Eine Krankheit, die nicht durch Liebe magisch heilbar ist. Die Ehrlichkeit des Romans ist regelrecht umwerfend. Für jeden, der je eine depressive Phase hatte (oder mehr) sei hiermit eine Trigger-Warnung ausgesprochen. Ich hatte relativ kurz vor dem Lesen ein Dreitagestief und war zwischenzeitlich sofort wieder dort. Lukas Selbstreflexion darauf war meinen Gedankengängen – auch zu früheren Episoden – in den Grundzügen sehr ähnlich. Das hat mir unwahrscheinlich geholfen. Diese Figur, die so ungemein anders handelt als ich und doch das gleiche Gefühl beschreibt. Die Warnung bleibt aber bestehen! (Gilt übrigens auch für sexuelle Gewalt)
Das ist für mich aber auch die Stärke des Romans. Er zeigt eine Authentizität, die ich vermisse. Nicht nur was die fatale Romantisierung von Depression angeht, sondern auch in der ganzen Auffassung der Welt. Es gab Stellen, die im ersten Moment banal wirkten, weil sie Lukas‘ Alltag zeigten. In seiner Gänze aber beschreibt auch das nur das Auf und Ab der Depression, die Last des Alltags und seinen Reiz. Das Buch schließt mit einem Crescendo und wer keine offenen Enden mag, sollte sich beide Bücher gleich im Doppelpack besorgen.

Veröffentlicht am 18.08.2017

Wird mich nie mehr loslassen

Sieben Minuten nach Mitternacht
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Conor lebt allein mit seiner Mutter, die an Krebs erkrankt ist. An seiner Schule hat er sich völlig zurückgezogen und wird vom Schulschläger attackiert, nachts raubt ihm ein unsagbarer Albtraum den Schlaf. ...

Conor lebt allein mit seiner Mutter, die an Krebs erkrankt ist. An seiner Schule hat er sich völlig zurückgezogen und wird vom Schulschläger attackiert, nachts raubt ihm ein unsagbarer Albtraum den Schlaf. Doch plötzlich tauch ein Monster auf, ein richtige, dass die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen lässt. Während seine Großmutter, die er nicht leiden kann, kommt, um seiner Mutter zu helfen, geht das Monster mit Conor seinen ganz eigenen Weg. In dunkle Abgründe, in graue Schatten, bis zu dem, was Conor nie verraten will.
Siobahn Dowd, die das Konzept zum Roman erarbeitet hat, starb an Krebs, ehe sie ihn schreiben konnte. Dieser Hintergrund verleiht dem Roman eine geradezu greifbare Ebene. Was Patrick Ness weitergesponnen, umgeschrieben, hineingelegt hat – ich kann den Unterschied als Leserin nicht ausmachen – ist ein feinfühliger, tiefgehender Roman, der mich vom ersten Satz bis zum letzten Punkt gefangen hatte. Ich habe gelacht, gehofft, gelitten und geweint. Als Beobachterin eine solche Nähe zu verspüren war mir lange nicht vergönnt.
Conor ist eine starke Figur, die gerade am Anfang unumstößlich erscheint. Gleichzeitig merkt der Leser durch die angedeutete Schrecklichkeit des Albtraums, dass Conor ein Geheimnis hat. Eines, das er vor sich selbst verleugnet. In diese Abgründe führt das Monster ihn, bei dem die Frage bleibt, wie monströs es eigentlich ist. Die Geschichten, die Conor erfährt, sind nichts anderes als Metaphern zu seiner eigenen Situation und genauso vielschichtig. Gut und Böse, Richtig und Falsch, Held und Monster – alles verschwimmt dabei und die Perspektiven wechseln immer wieder. Eine gekonnte Strategie, die auch Connors scheinbar geordnetes Leben, seinen Charakter und Vieles in seinem Alltag in andere Lichter rückt.
Mit psychologischem Feingefühl wird Conors Figur regelrecht auseinandergenommen, während die Handlung ihrem Finale entgegensteuert, dessen Unausweichlichkeit doch immer wieder in Frage gestellt wird. Eine emotionale Achterbahn für den Protagonisten wie für den Leser. Nennenswert sind auch die Details zwischen den Zeilen. Sieben Minuten nach Mitternacht ist ein Buch, das ebenso klar wie vieldeutig ist. Mich jucken so viele Analyseansätze in den Fingern und doch sagt die Geschichte im Ganzen mehr, als jede Untersuchung es je könnte.

Veröffentlicht am 05.07.2017

Einfach genial

Der Araber von morgen, Band 3
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Das Farbschema orientiert sich an den beiden ersten Bänden. Der Junge Riad wächst in Syrien auf, wo alles rötlich ist, leicht bedrohlich, trocken, heiß. Frankreich, das Land, aus dem seine Mutter kommt, ...

Das Farbschema orientiert sich an den beiden ersten Bänden. Der Junge Riad wächst in Syrien auf, wo alles rötlich ist, leicht bedrohlich, trocken, heiß. Frankreich, das Land, aus dem seine Mutter kommt, ist blau, kalt, nicht wirklich gemütlicher. Ein leichter Kontrast, aber kein absoluter. Und dazwischen Riad, der seinen kleinen Bruder nicht leiden kann. Im Gegensatz zu den ersten beiden Bänden hat der Junge sich hier mehr und mehr von der Mutter abgenabelt. Die Zeit des Vaters ist gekommen.

Riad Sattouf erzählt in der Araber von morgen seine eigene Kindheit. Die Graphic Novel ist dafür ein grandioser Schritt. Denn die Zeichnungen sind immer leicht verzerrt, nie bilden sie die Realität eins zu eins ab. Die Metapher, dass auch unsere Erinnerung unsere Vergangenheit nicht wirklich abbilden kann. Alles ist verzerrt, egal wie sehr wir uns bemühen, Wahrheiten zu finden, wir finden nur Eindrücke. Die depressive Mutter wird wieder schwanger, der Vater jagt träumen hinterher. All das sieht der Junge nicht. Für ihn ist die Mutter müde, der Vater wird zum Held.
Doch neben dieser familiären Struktur erfährt Riad die Formung durch eine Gesellschaft. Er hat Angst, wenn andere Kinder behaupten, er wäre ein Jude. Er versteht nicht, warum seine syrischen Verwandte keine Weihnachtsgeschenke bekommen, er will stark sein, groß. Aber was ist dieses Groß eigentlich. Mit dem Blick auf die uns fremde Gesellschaft erreicht der Zeichner damit auch, dass wir einen kritischen Blick auf unsere eigene werfen. Wann beeinflussen wir unsere Kinder dieses oder jenes zu mögen? Würden wir es überhaupt erkennen?
Hier wird nicht nur die Mutter entmystifiziert, was im zweiten Band bereits angefangen hat, sondern auch Frankreich. Längst ist es nicht mehr das Land der vollen Regale und fantastischen Spielzeuge, in dem Riad als kreatives Kind gelobt wird. Er wird aufgrund seiner „Andersartigkeit“ auch dort ausgegrenzt und erkennt Schattenseiten, auch wenn er sie noch nicht versteht. Es sind Momentaufnahmen, die exemplarisch sind. Die Nachbarin, die die Katzen totschlagt kommen äquivalent zu dem gequälten Hündchen im vorherigen Band.
Es ist die Komplexität des Aufbaus, die mich beeindruckt. Anekdoten sammeln sich zu Eindrücken, die tief greifen und im Ganzen eine große Aussagekraft besitzen. Beispielsweise die Lehrer, die Riad im Laufe der Zeit kennenlernt. War es im letzten Band eine Lehrerin, die von einem Tag auf den anderen verschwand, wird hier gezeigt, unter welcher permanenten Anspannung der christliche Lehrer des Jungen steht. Hier wie dort finden sich Manipulationsstrategien. Dass Der Araber von morgen sie einfach aufzeigt, liegt einmal an der kindlichen Sicht des Protagonisten und daneben an den Kommentaren des Erzählers. Beides steht nebeneinander, greift ineinander und deckt dabei auf, ohne direkt etwas erklären zu müssen. Es ist eine unglaubliche Stärke der ganzen Reihe.

Veröffentlicht am 01.06.2017

Unbedingt lesen!

Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch
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Ich kenne Essays vor alle als Texte, die eine klaren Ursprung haben, eine Frage, einen Moment, dem sie auf den Grund gehen wollen. Sie schweifen mal ab, sind mal sehr fokussiert oder auch mal einfach literarisch. ...

Ich kenne Essays vor alle als Texte, die eine klaren Ursprung haben, eine Frage, einen Moment, dem sie auf den Grund gehen wollen. Sie schweifen mal ab, sind mal sehr fokussiert oder auch mal einfach literarisch. Aber immer bewegen Essays zum Nachdenken, zum Überlegen und Infragestellen. Der Leser arbeitet mit.
So ist es auch bei Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Mit sehr unterschiedlichen Ansätzen berichtet Aslı Erdoğan aus der Türkei, aus ihrer Heimat, die sie liebt, die ihr entgleitet. Sie schreibt über Gräueltaten mit versteckten Worten, die unter die Haut gehen und von eigenen traumatischen Erlebnissen, die bewegen. Sie wird sachlich und nutzt gelungen Argumente. Kurz: Sie zeigt in diesen Essays eine gewaltige Bandbreite an schriftstellerischem Können.
Das beeindruckt und bewegt. Gleichzeitig informiert es. Fußnoten erklären auf welche Ereignisse die Autorin anspielt und selbst in den literarischen Tendenzen zeigt sich vieles, was dem europäischen Beobachter in Bezug zur Türkei nicht klar ist. Einzelfälle, historische Ereignisse, Momente von Aslı Erdoğans Leben, die mit der aktuellen Geschichte der Türkei verwoben sind. Großartig geschrieben.
So berichtet die Autorin vom jüngsten Putschversuch, von Diskriminierungen und den Andenken an Ermordete. Sie zeigt einen sehr persönlichen, liebevollen Blick auf Land und Leute, einen sehr kritischen und wachen auf politische Geschehnisse. Persönlich, also subjektiv und gewiss nicht wertfrei, aber so reflektiert, dass Raum für den Leser und seine eigene Meinung bleibt. Das ist sehr gut gemacht und steigert sowohl das Interesse an den Essays, als auch das spätere Auseinandersetzen mit ihnen.
Cem Özdemir hat die Einführung geschrieben und die biografischen Eckdaten der Autorin eingearbeitet. Ihre Gefangennahme, ihr Ausreiseverbot, ihr kleiner Kampf, der groß geworden ist. Allein das ist schon faszinierend. Nicht einmal das Schweigen gehört noch uns spielt genau darauf an. Dass die Option, mit den Augen zu rollen und stumm zu bleiben, keine mehr ist. Schweigen ist für Aslı Erdoğan unmöglich geworden, so unmöglich wie das direkte Aussprechen. Und damit liefert und dieses Buch aktuelle Zeitgeschichte. Unbedingt lesen!