O: The Mysterious Affair At Styles. Das erste Buch von Agatha Christie, 1920 in Großbritannien erschienen, das erste mit Poirot, mit Kriminalinspektor James Japp von Scotland Yard, und Hastings, seinem “Watson”. Wie bei Sherlock Holmes ähnlich, beginnt dieser Krimi damit, dass die Handlung schriftlich von Hastings in der Ich-Perspektive niedergelegt wird, was er mit einer entsprechenden Bitte von Poirot und der betroffenen Familie begründet. Ebenso wie Watson, ist auch Hastings Soldat, er wurde wegen einer Verwundung im Ersten Weltkrieg von der Front in die Heimat geschickt und hat jetzt noch Heimaturlaub.
Styles ist das Landgut der (Stief-) Mutter von John Cavendish, einem alten Bekannten, in Essex. Er ist mindestens 15 Jahre älter als Watson und 45, also ist Watson höchstens 30.
Das Testament von John Cavendishs verstorbenem Vater begünstigte seine letzte Frau zuungunsten der beiden Söhne John, einem Rechtsanwalt, der allerdings mit seiner Frau Mary nur vom „Monatswechsel“ seiner Stiefmutter lebt, und Lawrence, einem Dichter, der im Medizinstudium gescheitert war. Alle wohnen in Styles.
Die verwitwete Mrs. Emily Cavendish hat sich nun wieder verheiratet mit ihrem früheren Privatsekretär Alfred Inglethorp, einem zwanzig Jahre jüngeren Mann. „Er ist ein ganz unmöglicher Mensch – er hat einen großen schwarzen Vollbart und trägt bei Wind und Wetter Lackstiefel!“ S. 7 Zum Haushalt gehören außerdem noch Cynthia Murdoch, die Nichte einer Schulkameradin von Mrs. Cavendish, Dienstmädchen Dorkas, Annie und Baily, drei Gärtner,… und Haushälterin Evie Howard. Weitere Personen wohnen im Ort: Toxikologe Dr. Bauerstein ist mit der jungen Mary Cavendish befreundet (zum Leidweisen Hastings und ihres Mannes), Mrs Raikes ist die Frau des Pächters und findet in Alfred Inglethorp einen Anhänger.
Hastings berichtet, vor dem Krieg Versicherungsagent gewesen zu sein, aber heimlich von einer Karriere als Detektiv geträumt zu haben: „Ich lernte einmal in Belgien einen berühmten Detektiv kennen, der mich sehr beeindruckte. Er war ein ganz famoser Kerl und erklärte mir, daß es nur darauf ankäme, planmäßig und durchdacht zu arbeiten. Mein System beruht auf seiner Methode; natürlich habe ich es inzwischen vervollkommnet.“ S. 11f. Natürlich. Hastings hält durchaus große Stücke auf sich selbst. Bei Frauen hingegen neigt er zu Schwärmerei. Im Dorf nun begegnet Hasting ebendiesem Poirot wieder, der dort als Flüchtling lebt. „Poirot sah recht sonderbar aus. Er war nur etwa einen Meter fünfzig groß, aber seine Haltung war sehr merkwürdig. Er hatte einen Eierkopf, den er stets ein wenig zu Seite geneigt hielt, und einen kleinen, sehr steifen und militärischen Schnurrbart. Er war unglaublich korrekt gekleidet, ich glaube, daß ihm der kleinste Schmutzfleck unangenehmer gewesen wäre als eine Schußwunde. Und doch war dieser überelegante kleine Mann, der, wie ich zu meinem Bedauern feststellte, jetzt stark hinkte, seinerzeit einer der gefeiertsten Angehörigen der belgischen Kriminalpolizei gewesen.“ S. 22
Eines Nachts nun eilen fast alle Mitglieder des Haushalts zu Mrs. Inglethorps Schlafzimmer – sie ist darin eingeschlossen, hat schwere Krämpfe und stirbt schließlich. Hausarzt wie Giftspezialist Bauerstein veranlassen beide eine Untersuchung aufgrund des Verdachts eines Giftmordes – Hastings geht indessen zu Poirot und berichtet, leider konfus. Poirot erklärt ihm „Die erste Tatsache führt zur zweiten, und paßt die dritte dazu? Ja – merveilleux! Also weiter! Nun folgt eine ganz unscheinbare Kleinigkeit – aber nein – sonderbar – hier fehlt etwas. Ein Glied in der Kette fehlt.“ S. 36
Agatha Christie spielt nun munter Katz und Maus mit dem Leser:
„ ‚Wundervoll, ganz wundervoll‘, murmelte er [Poirot]. ‚Diese Symmetrie! Sehen Sie sich das halbmondförmige Beet an, und dieses Rechteck – ein wahrhaft erfreulicher Anblick. Auch die Pflanzen sind bewunderungswürdig angeordnet, sie sind wohl erst kürzlich gepflanzt worden?‘
[Hastings:]‘Ja, ich glaube gestern Nachmittag. Bitte kommen Sie ins Zimmer, Poirot, Dorkas [das Hausmädchen] ist hier.‘
‚Eh bien, eh bien. Gönnen Sie mir diese Augenweide für einen kleinen Moment.‘
‚Natürlich, aber diese Angelegenheit ist wichtiger.‘
‚Und woher wissen Sie, daß die schönen Begonien nicht ebenso wichtig sind?‘ “ S. 45
Im Laufe der Ermittlungen, zu denen bald Inspektor Japp von Scotland Yard dazustößt, wird klar: „Emily war eine egoistische alte Frau; sie war zwar großzügig, aber sie erwartete, daß ihre Großzügigkeit belohnt wurde. Sie sorgte dafür, daß niemand ihre Wohltaten vergaß – und deshalb wurde sie von niemandem geliebt.“ S. 70 Poirot jedoch lässt sich nicht beirren:
Hastings: "Aber die Beweise sind so überzeugend."
...
Poirot: "Ja, ja, zu überzeugend. .... Die wirklichen Beweise sind meistens unbestimmt und nicht sehr zufriedenstellend." S. 98
Ab hier möge bitte jeder selbst weiter seine Schlüsse ziehen:
Lawrence spricht vor Gericht von der Möglichkeit eines natürlichen Todes seiner Mutter, obwohl ihm als ehemaligem Medizinstudenten die Unmöglichkeit dieser Option klar sein müsste.
Alfred Inglethorp weigert sich erkennbar, ein Alibi anzugeben.
Mary Cavendish will nichts von einem Streit ihrer Schwiegermutter wiedergeben können.
Warum war Dr. Bauerstein so früh am Morgen vor Ort?
Haushälterin Elsie trauert als einzige um ihre Herrin.
Warum hörte Cyntha Murdoch nicht, wie der Tisch umfiel?
Lügt John Cavendish?
Es folgt die bei Agatha Christie fast obligatorische Versammlung aller Verdächtigen im Wohnzimmer. Ich muss gestehen, dass ich diese in moderneren Krimis gelegentlich vermisse. Im Prinzip habe ich meine „Krimi-Ausbildung“ von Poirot und Miss Marple erhalten,
die Autorin war mein Übergang von Enid Blyton zu Büchern, die für Erwachsene geschrieben wurden. Prinzipiell hat hier der Leser immer die gleichen Spuren präsentiert bekommen, die auch dem Ermittler zu Verfügung stehen. Und zur Not steht Hastings immer als Stichwortgeber parat. Halali!
Das Milieu Agatha Christies ist hier wie immer das der Mittelschicht, meist der gehobenen Mittelschicht - „man“ hat Personal, mindestens ein „Mädchen“ oder einen „Burschen“ (bei den ehemaligen Soldaten), lebt auf dem Land und von seinem Vermögen (oder dem eines anderen). Dazu gehört oft obligatorisch ein Adliger, aber eher als Randfigur, ein Oberst meist im Ruhestand, häufig taucht jemand auf, dessen Verhalten oder Herkunft sich so „einfach nicht gehören“, z.B. ein Künstler oder ähnliches. Ausländern gegenüber ist man misstrauisch. Diese Welt ist bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens der Bücher untergehend und man kann ihrer Auflösung häufig in den Büchern beiwohnen, indem beispielsweise die Beschwerde kommt, dass heutiges Personal zu viele eigene Ideen hat. Der Zeitgeist spiegelt sich auch in heutigen Un-Wörtern wider wie „Zigeunergesicht“ S. 83 oder der Darstellung einer Verkleidung als „Neger“ S. 117. Ja, in einem Werk in der Jetzt-Zeit bitte nicht; nein, in einem Buch von 1920 bereitet mir das kein Kopfzerbrechen, und nochmals nein, ich fände eine Sprachüberarbeitung nicht sinnvoll. Zu anderen Themen ist Agatha Christie wohl etwas moderner: Ein deutscher Spion wird von Poirot als Patriot empfunden – vom wackeren Hastings natürlich als Schuft. Frauen dürfen durchaus Männer verlassen, die nicht ausreichend Liebe für sie zeigen.
Meine Auflage ist von 1984 und hat noch den älteren Scherz-Umschlag mit Spielkarten mit einem der Hercule-Poirot-Darsteller auf dreien davon (ich meine, es ist David Suchet), s. Scan, ISBN 3502509883.
Übersetzerin Dorothea Gotfurt (1959), in Wikipedia wird ferner Anna Drawe für die Erstübersetzung genannt (1929) und Nina Schindler für die aktuelle (2003).
Auch der letzte Poirot-Roman wird auf Styles spielen. Alle Poirots chronologisch:
1.(1920) Das fehlende Glied in der Kette (gleichzeitig erstes AC überhaupt)
2.Mord auf dem Goldplatz
3.(1924) Poirot rechnet ab (Kurzgeschichten)
4.(1926) Alibi
5.(1927) Die großen Vier
6.(1928) Der blaue Express
7.Das Haus an der Düne
8.Dreizehn bei Tisch
9.Mord im Orient-Express / Die Frau im Kimono / Der rote Kimono
10.Nikotin
11.Tod in den Wolken
12.Die Morde des Herrn ABC