Ein absoluter Geniestreich!
Mit "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" ist Mitte Januar endlich der dritte Teil der Chaos-Walking-Trilogie von Patrick Ness erschienen, welcher die Geschichte von Todd und Viola zu einem Ende bringt ...
Mit "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" ist Mitte Januar endlich der dritte Teil der Chaos-Walking-Trilogie von Patrick Ness erschienen, welcher die Geschichte von Todd und Viola zu einem Ende bringt und ein letztes Mal ins dystopische New World führt. Nachdem Lesen bin ich nun genau wie nach den vorherigen Bänden emotional gefangen zwischen Entsetzen und Faszination, Abscheu und Begeisterung und weiß nur, dass das, was auf diesen 608 Seiten passiert KRASS KRASS KRASS ist!
Wem die Handlung, der Autor oder die Namen der Figuren bekannt vorkommen: Patrick Ness´ Trilogie ist schon 2009 unter den Namen "New World - Die Flucht", "New World - Das dunkle Paradies" und "New World - Das brennende Messer" im Ravensburger Buchverlag erschienen. Schon im Januar 2021 ist Band 1 der Reihe erneut bei cbt erschienen und trug ein Filmcover passend zur Verfilmung von Lionsgate mit Tom Holland und Daisy Ridley (HIER geht´s übrigens zur Filmkritik). Band 3 ist nun genau wie Band 2 schon stark an der Originalausgabe orientiert und zeigt den Titel in großen, weißen Buchstaben, welcher sich vom dunklen Hintergrund mit wildem Buchstabengekritzel in einem interessanten Kontrast abhebt. Auch wenn mir sowohl der Kontrast als auch die optisch und haptisch hervorgehobenen Buchstaben des Hintergrund gut gefallen und ich auch den Untertitel "Die Zukunft der Welt" treffend gewählt finde, sind zwei Dinge an der Gestaltung schade. Erstens passt die äußere Gestaltung des zweiten und dritten Teils schlecht zum ersten (wobei die Paperbacks immerhin dieselbe Größe haben). Und zweitens gibt es keinen treffenderen Titel als den Originaltitel "Monsters of Men".
Erster Satz: "Krieg", sagt Bürgermeister Prentiss mit funkelnden Augen. "Endlich ist es soweit."
Dafür gefällt mir die innere Gestaltung dieses Finalbands wieder sehr gut. Genau wie in den vorherigen Bänden ist auch hier der sogenannte "Lärm" der männlichen Bewohner von New World als wildes Gekritzel in unterschiedlichen Schriftarten quer über die Seiten dargestellt und der Wechsel der Erzählperspektiven zwischen den beiden Hauptfiguren Todd und Viola wird ebenfalls durch einen Wechsel der Schriftart deutlich gemacht. Genau wie in Band 1 und 2 hat Patrick Ness seine Handlung darüber hinaus wieder in acht übergeordnete Abschnitte eingeteilt, welche wiederum in 24 Kapitel inklusive eines unnummerierten Prologs und Epilogs unterteilt sind. Zusätzlich erleichtert uns eine kurze "Was bisher geschah"-Zusammenfassung den Einstieg. Anders als zuvor kommt in "Chaoswalking - Die Zukunft der Welt" noch eine dritte Erzählperspektive hinzu, die den Einstieg in jedes der 24 Kapitel darstellt. Dazu später mehr...
Zeitlich knüpft Teil 3 wieder punktgenau an das Ende des zweiten Bandes an und erzählt, was passiert, nachdem Todd und Viola Bürgermeister Prentiss endlich bekämpft haben, nur um ihn angesichts der nahenden Spackle-Armee und des landenden Raumschiffs der Siedler wieder freilassen zu müssen. Eine unbedachte Handlung von Viola, der Kriegswille des Bürgermeisters und die Rachlust der Spackle treffen aufeinander und schon befindet sich New World in einem großen letzten Krieg mit mehreren Fronten, der das Ende des Planeten zu bedeuten scheint...
Todd: "Hier kommt es.
Das Ende
Das Ende von allem
"Oh ja, Todd", sagt der Bürgermeister und reibt sich die Hände. "Oh ja, in der Tat", wiederholt er, und sagt es, als wäre gerade sein allergrößter Traum in Erfüllung gegangen.
"Krieg".
Ich hatte sehr geringe Erwartungen und noch weniger Ideen davon, in welche Richtung sich die Geschichte nach dem offenen Ende von Band 2 weiterentwickeln würde. Dass wir hier von Seite 1 an mitten in einem blutigen Krieg voller Psychospielchen, Populismus, Genozid, Terrorismus und Grausamkeit zu tun bekommen würden, hätte ich aber nicht in tausend Jahren gedacht. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen meiner großen Überraschung kann ich nur meinen Hut vor Patrick Ness ziehen, der hier auf interessante Art und Weise davon erzählt, wie sich scheinbar aus dem Nichts ein Krieg entwickeln und wie eine ganze Zivilisation von den Ideen einzelner gelenkt untergehen kann. Neben den erschreckenden Entgleisungen befasst sich der Autor auch auf eindringliche Art und Weise mit den Themen Gehorsam, Verantwortung, Moral, Macht, Rache, Wiedergutmachung, Frieden, kollektive Traumata, Schuld und Menschlichkeit und legt damit den Finger in eine aufgrund des aktuellen Weltgeschehens offene Wunde. Patrick Ness zeigt hier, dass die Entscheidung jedes einzelnen zählt und dass wir alle die Verantwortung dafür haben zu entscheiden, in was für einer Welt wir leben möchten.
Neben der politischen Message und den vielen schweren Themen überzeugt "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" auch mit einer verrückt hohen Handlungsdichte. Hier passiert auf jeder Seite ALLES und NICHTS ist unmöglich, ein Kampf folgt auf den nächsten, folgt auf den nächsten, folgt auf den nächsten und ich konnte kaum atmen, weil ich Angst hatte, was auf der kommenden Seite passiert. Ich habe selten so sehr mitgelitten, geschwitzt und gehofft, dass nicht doch noch etwas schief geht und die Situation weiter eskaliert. Ich habe selten so oft innehalten müssen, um zu verstehen, was gerade passiert ist. Selten so dringend weiterlesen müssen, um endlich zu erfahren, wie das Ganze ausgehen wird. Allein für den einzigartigen Zustand zwischen Hoffen und Bangen, in den mich die Geschichte versetzt hat, müsste ich schon 5 Sterne geben.
Viola: "Man kann einen Krieg nicht aus persönlichen Gründen führen", widerspreche ich ihm. "Sonst wird man nie die richtigen Entscheidungen treffen."
"Wenn man keine persönlichen Entscheidungen trifft, dann ist man kein Mensch mehr."
Ganz objektiv betrachtet hätte ich schon Band 1 und 2 für den meisterhaften Schreibstil, die originelle Grundidee, die schneidende Gesellschaftskritik, die irrsinnig hohe Spannung und die menschlichen Figuren, die uns selbst den Spiegel vorhalten mindestens 4,5 Sterne geben müssen. Ich habe das jedoch nicht getan, da sie beim Lesen eine Flut an negativen Gefühlen ausgelöst haben, die ich kaum ertragen konnte. "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" ist ebenso düster und ernst wie die vorherigen Bände, für mich war dieses Finale aber lange nicht so emotional belastend. Aufgrund der zuvor genannten Themen müssen wir auf den über 600 Seiten sehr viel Grausamkeit ertragen. Folter, sexuelle Übergriffe, Verstümmelung, Entwürdigung, Unterdrückung und gezielter Mord - die hier beschriebenen Verbrechen gegenüber Menschen (insbesondere Frauen), aber auch gegenüber der einheimischen Bevölkerung des Planeten, den Spackle ist kaum zu ertragen und unterstreicht erneut, dass "Chaos Walking" trotz des jungen Alters der Hauptfiguren keine wirkliche Kinder- oder Jugendbuchreihe ist! Auch das Leiden der beiden Hauptfiguren trägt zu dringlichen, düsteren, unter die Haut gehenden Atmosphäre der Geschichte bei, welche mich vor allem beim Lesen des zweiten Bandes dazu gebracht hat, das Buch an die Wand werfen zu wollen.
Todd: "Beherrsche deinen Lärm und du beherrschst dich selbst. Und wenn du dich sich selbst beherrschst..."
"Dann beherrschst du die Welt", beende ich seinen Satz. "Ja, ich habe Euch schon beim ersten Mal verstanden. Aber ich will nur mich selbst beherrschen, vielen Dank. Der Rest der Welt interessiert mich nicht."
"Das sagen sie alle. Bis sie die Macht zum ersten Mal gekostet haben."
Nach wie vor wird die Geschichte abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Todd und Viola erzählt. Der Autor nutzt dabei sehr viele direkte Gedanken, die manchmal in langen Satzreihen mit vielen Absätzen oder fließenden Nebensätzen beinahe gedankenstromartig aus den jungen Erzählern herausströmen. Wie beim "Lärm" - der innovativen Grundidee der Geschichte - scheint es hier keinen Filter zu geben, sodass sich die Erzählung sehr erlebnisnah liest. Diese Art der Erzählweise reißt zwar mit, man ist dem was passiert aber auch ausgeliefert. Genauso ist es auch mit dem allgemeinen Sprachstil, der recht derb und direkt ist und sich kaum Zeit für Beschönigungen, Erklärungen oder Beschreibungen nimmt. Gewöhnungsbedürftig ist auch, dass Todd uns LeserInnen an einigen Stellen direkt anspricht, indem er Fragen stellt, sein Verhalten erklärt oder sich rechtfertigt. So ist man schon recht bald in einem Zwiespalt zwischen dem Drang, sich etwas von Handlung und Erzähler zu distanzieren und dem mitreißenden Sog durch die erlebnisnahe Erzählweise. Ich habe lange überlegt, weshalb dieser dritte Band in mir nicht denselben Abscheu und Abwehrmechanismen getriggert hat wie die vorherigen Bände und bin zu dem Schluss gekommen, dass es an der höheren Kontrolle der beiden Figuren über die Handlung liegt. Während Todd und Viola zuvor allen schrecklichen Geschehnissen hilflos ausgeliefert waren, sind sie nun endlich am Zug, gestalten mit und erhalten auch Unterstützung von verschiedenen Seiten.
Viola: "Ich hätte es genauso gemacht, Viola", sagt Todd noch einmal, und ich weiß, dass ist die reine Wahrheit. Aber mir geht ein Gedanke nicht aus dem Kopf, obwohl Todd mich zum Abschied wieder in den Arm nimmt. Wenn wir alles füreinander tun würden, tun wir dann das Rechte? Oder sind wir nicht doch eine Gefahr für alle anderen?"
Ein zweiter Punkt ist, dass die beiden deutlich älter und erwachsener wirken, durch die zu vorigen Geschehnisse gestählt und weiterentwickelt wurden. Auch wenn beide einige furchtbare Dinge tun, die ich ihnen nicht verzeihen kann (und sie selbst sich auch nicht) und ich vor allem Todd an einigen Stellen fast gehasst habe, ist es Patrick Ness´ große Stärke, hinterrücks dafür zu sorgen, dass man die Figuren trotz allem lieben muss. Denn all die Verfehlungen, all die Handlungen, all die Entscheidungen, all die Gefühle sind so menschlich und nachvollziehbar geschildert, dass man sich nie ganz sicher sein kann, dass man in der Situation nicht anders gehandelt hätte. Ich denke, dass jeder von uns davon überzeugt ist (oder zumindest stark hofft), in Situationen großer Ungerechtigkeit oder Grausamkeit nicht einfach nur dazustehen, sondern sich laut für die Wahrheit einzusetzen und NEIN zu sagen. Dadurch dass wir Viola und Todd trotz ihrer Fehler und Schwäche verstehen können, stellt genau diese intrinsische Überzeugung aber in Frage, was natürlich unbequem ist und weh tut - aber eben auch dringend notwendig ist, um uns in der Realität vor Gleichmut und Abstumpfung zu schützen. Somit ist "Chaos Walking" auch ein Buch über Freundschaft, über Liebe und über Entscheidungen. Denn egal in welcher Situation wir uns befinden sind es doch unsere Entscheidungen, die uns zu dem machen, was wir sind.
Todd: "Ich schaue ihm in die Augen, in das Schwarze seiner Augen, in eine Schwärze, die mich verschlingt.
ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH. Das ist alles, was ich noch hören kann."
Neben Todd und Viola stehen nach wie vor die beiden in Band 2 entwickelten Lager rund um den Bürgermeister Prentiss und Mistress Coyles "Antwort" im Vordergrund. In "Chaos Walking - Es gibt immer eine Wahl" wurden ja beide schon als zwei Seiten derselben Medaille enthüllt. Absolute Diktatur und terroristischer Widerstand, beide gefährlich für Land und Menschen. Besonders die Charakterentwicklung des Bürgermeisters, der ja von Anfang an sowohl etwas Wahnsinniges als auch etwas Geniales und Übernatürliches an sich hatte, hat mich hier sehr mitgerissen. Auf berührende Weise wird enthüllt, was hinter seinem wachsenden Wahnsinn und seiner wachsenden Macht steckt, was ihn zum besten Bösewicht aller Zeiten macht.
Mit dem gelandeten Schiff der Siedler kommen außerdem zwei neue Figuren und damit eine neue Partei mit hinzu, die moderne Waffensysteme zur Verfügung stehen hat, aber auch über die Zukunft von 5000 schlafenden neuen Siedlern im Raumschiff entscheiden muss.
Das mit Abstand BESTE an dieser Geschichte ist jedoch die vierte neue Partei und damit auch die zuvor erwähnte neue Erzählperspektive, die hier dazukommt: die Spackle! Zu Beginn eines jeden Kapitels dürfen wir einen Abschnitt aus der Perspektive von 1017 lesen, welcher dank Todd als einziger Spackle den Genozid des Bürgermeisters überlebt hat und seither auf Rache sinnt. Durch ihn bekommen wir einen Einblick in die kollektive Gemeinschaft der Spackle, die sich selbst "das Land" nennt und deren Lärm sich zu einer gemeinsamen Stimme vermischt hat, die durch ihren Anführer, "den Himmel", spricht. Die Beschreibung der Spackle, die klar keine Menschen sind, aber dennoch fühlende und intelligente Wesen, die wie ein einziger Organismus denken, aber dennoch aus Individuen bestehen und zugleich vom Wunsch nach Rache und dem Bedürfnis nach Frieden angetrieben werden, fand ich inspirierend, originell und wahrhaft großartig!!!!
1017: "Das Land zeigt mir den Weg. Aber bei all ihrer Hilfsbereitschaft vernehme ich auch ihre Zweifel. Wer bin ich denn schließlich? Bin ich ein Held? Ein Retter? Oder bin ich ein Gebrochener? Eine Gefahr? Bin ich Anfang oder bin ich Ende? Gehöre ich wirklich zum Land? Wenn ich ehrlich bin, ich weiß es nicht. Und so weisen sie mir den Weg zum Himmel, während ich durch ihre Mitte gehe, und ich fühle mich wie ein Blatt, das auf dem Fluss treibt, in dem Fluss, mit dem Fluss. Aber bin ich auch Teil des Flusses? Und dann senden sie Kunde aus von meinem Kommen. "Der Zurückgekehrte kommt", teilen sie einander mit. "Der Zurückgekehrte kommt." Denn so nennen sie mich: der Zurückgekehrte. Aber ich habe noch einen anderen Namen."
Damit werden in "Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" die letzten verbliebenen Fragen und offenen Punkte des Worldbuildings geklärt. Das außerirdische, sehr ursprüngliche, naturbelassene Setting, das an das unkolonialisierte Amerika erinnert, nur dass die Weiten der Landschaft nicht von grasenden Büffeln, sondern von seltsamen Geschöpfen wie die vogelstraußartigen "Cassors" oder laut die "HIER!"-denkenden "Viecher" bewohnt werden und alle Lebewesen durch ihren Lärm sprechen können, war in Band 1 und 2 sowohl ein Quell an Originalität als auch Verwirrung. Wer sind die Spackle? Was ist im ersten großen Krieg passiert? Woher nimmt der Bürgermeister seine Kraft? Was ist sein Plan für die Welt? Weshalb kamen die Siedler ursprünglich nach New World? Was ist in Prentisstown wirklich passiert als Todd noch klein war? Und vor allem: Wie wird die Zukunft dieser Welt aussehen? Wie Patrick Ness es geschafft hat, neben der Charakterentwicklung, den vielen Themen, der Vorstellung einer gänzlich neuen Lebensform und dem unnormal hohen Erzähltempo auch noch all die offenen Fragen befriedigend zu beantworten ist wirklich ein Wunder. Ich ziehe mein Hut in Verehrung vor diesem Autor und packe alle seine weiteren Werke umgehend auf meine Wunschliste!
Fazit:
"Chaos Walking - Die Zukunft der Welt" überzeugte mich mit einem großartig weiterentwickelten Worldbuilding, einer sinnigen politische Message, pointierten Figuren, einem intensiven Spannungsbogen und originellen Schreibstil. Mit Themen wie Krieg, Gehorsam, Macht, Rache, Wiedergutmachung, kollektivem Traumata, Genozid, Schuld und Menschlichkeit ist die Geschichte über Todd und Viola weiterhin emotional anstrengend und teilweise fast nicht zu ertragen. Mit diesem Finale gelingt Patrick Ness allerdings ein Geniestreich, der für alle emotionalen Unannehmlichkeiten entschuldigt.