Reflexion über Machtmissbrauch und Freundschaft
Benjamin Stuckrad-Barres Roman »Noch wach« hat bereits viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Geschichte, die auf realen Ereignissen von Machtmissbrauch, Lügen, Täuschung, Angst und Wut basiert, geht ...
Benjamin Stuckrad-Barres Roman »Noch wach« hat bereits viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Die Geschichte, die auf realen Ereignissen von Machtmissbrauch, Lügen, Täuschung, Angst und Wut basiert, geht jedoch weit über eine weitere MeToo-Erzählung hinaus und genau deshalb werde ich mich nicht den real zugrunde liegenden Ereignissen widmen.
Im Roman wird die Geschichte des Chefredakteurs eines Fernsehsenders erzählt, der seine Macht missbraucht, um Affären mit überwiegend jungen Frauen ausleben zu können. Stuckrad-Barre gelingt es hier deutlich, die perfiden Methoden, das Klima von Manipulation und Angst aufzuzeigen, die der Chefredakteur anwendet. Der Autor gibt den Frauen in beeindruckender Weise eine eigene Stimme. Das ist bewegend, emotional und gibt tiefe Einblicke. So kommt man nicht umhin, über das Thema nachzudenken, ist es ja nicht nur auf die Chefetagen großer Konzerne beschränkt.
Doch wer diesen Roman nur unter den Aspekten von Machtmissbrauch und übergriffigem Verhalten betrachtet, dem entgeht die ergreifende Geschichte einer tiefen Männerfreundschaft zwischen dem Ich-Erzähler und seinem Freund, dem Besitzer des Senders. Die Verbindung zwischen den beiden Männern wirkt an vielen Stellen liebevoll, und der Autor findet berührende Worte, um sie zu beschreiben.
Zitat:
»Wir wussten beide nicht, ob wir uns jetzt umarmen sollten, merkten wir, als wir uns bereits ungelenk ineinander verschränkten und einander mit verklemmter Herzlichkeit auf die Ohren küssten. Menschsein, es ist und bleibt die groteskeste Komödie überhaupt.«
Noch wach – Benjamin von Stuckrad-Barre
Dieser Nachsatz im Zitat hat sein müssen, trifft er doch so genau männliche Gefühlswelten.
Vermutlich bestünde diese Freundschaft noch, wäre da nicht der bereits erwähnte übergriffige Chefredakteur, der als Antagonist agiert. Stück für Stück schiebt er sich mit seinem Verhalten und seinen Ansichten zwischen die beiden. Eine klare Positionierung des Freundes bleibt aus. Schließlich kommt es zum Showdown der drei Männer, der das Ende der jahrelangen Freundschaft besiegelt.
Verwebt sind diesen beiden Geschichten durch die Darstellung von Auswüchsen der Medienwelt und die Allmachtsfantasien einflussreicher Firmenbosse in der Medienwelt und außerhalb. Fast grotesk und zugleich erschreckend real ist es etwa, wenn ein Ministerpräsident demütig vor Elon Musk buckelt. An anderer Stelle stellt man sich fast zwangsläufig die Frage der moralischen Schuld, als durch die Berichterstattung eine junge Frau in den Tod getrieben wird.
Es scheint, als sei »Noch wach« ein Buch, das aus Wut und Empörung, aber auch aus Schmerz und Wehmut geschrieben wurde. Wut und Empörung darüber, wie einige Männer Frauen behandeln, wie sie ungestraft davonkommen; Schmerz und Wehmut über das Zerbrechen der erwähnten Freundschaft. Literarisch mag der Roman nicht immer tiefgründig sein, doch wird dies durch die kraftvollen Emotionen und die sprachliche Originalität mehr als ausgeglichen. Die Figur des Ich-Erzählers erscheint mir manchmal etwas zu korrekt, fast erhaben über den Dreck der Welt. Gelegentlich hatte ich den Eindruck, dass das Buch auch eine Rechtfertigung ist. Doch diese Aspekte mindern keinesfalls die Gewaltigkeit des Romans und sind völlig legitim.
Der Schreibstil von Benjamin von Stuckrad-Barre ist eine explosive Mischung aus autobiografischer Hingabe, sprachlicher Wucht und provokanter Radikalität. Der Text ist wie eine dynamische Klangcollage, die mich mit ihrer wilden Sprachakrobatik und scharfzüngiger Ironie durch eine Welt voller Emotionen schleuderte.
Wieder einmal präsentiert sich Stuckrad-Barre als ein literarischer Störenfried, der mit seiner ungestümen, mitunter auch verstörenden Erzählweise die Grenzen des Erzählens auslotet. Neue, ungewöhnliche Wortschöpfungen, unorthodoxe Ausdrucksweisen und befremdliche Schreibweisen (viele Worte in Großbuchstaben, was ich absolut passend fand) lassen das ganze Werk rebellisch wirken. In jedem Fall wirkt der Roman sehr intensiv, teils aber auch poetisch.
Fazit:
»Noch wach« ist eine eindringliche Reflexion über Machtmissbrauch und Freundschaft, die mit einer Prise Kapitalismuskritik gewürzt wurde. Die Emotionalität und sprachliche Originalität des Autors machen den Roman zu einem intensiven Leseerlebnis, das zum Nachdenken anregt. Für mich ist das Buch ein echtes Highlight.