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Veröffentlicht am 23.08.2023

Eine verbotene Liebe in Belfast 1975

Übertretung
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1975 vergeht kein Tag in Belfast und Umgebung, an dem es keine Verletzten oder Toten gibt. Es zählt nicht, wer du bist, sondern was – katholisch oder protestantisch.
Cushla Lavery, 24, ist katholisch und ...

1975 vergeht kein Tag in Belfast und Umgebung, an dem es keine Verletzten oder Toten gibt. Es zählt nicht, wer du bist, sondern was – katholisch oder protestantisch.
Cushla Lavery, 24, ist katholisch und bedient im Pub ihres Bruders Eamonn überwiegend protestantische Gäste. Zu Hause muss sie sich um ihre Mutter kümmern, die seit dem Tod ihres Mannes trinkt.
Vormittags arbeitet Cushla an einer Grundschule, wo die Unterrichtsstunde mit den neusten Nachrichten und deren Gräueltaten beginnen. Sprengfallen, Brandsätze, Plastiksprengstoff – gehören zum Wortschatz eines siebenjährigen Kindes.
Den kleinen Davy hat Cushla besonders in Herz geschlossen, da er von den anderen Mitschülern gemobbt wird und aus schwierigen Verhältnissen kommt, denn seine Eltern haben unterschiedliche Konversionen und sind immer wieder Ziel von Anfeindungen. Als wäre ihr Leben nicht schon kompliziert genug, verliebt sie sich in den älteren, protestantischen, verheirateten Anwalt Michael, der auch IRA-Mitglieder verteidigt.
Es ist erschütternd zu lesen, wie Cushla in diesen unsicheren Zeiten versucht, einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten, den Kindern in der Schule trotz allem Sicherheit und Mitgefühl zu geben.
Im Vordergrund steht aber Cushlas verbotene Liebe zu Michael. Welche Konsequenzen das für sie haben kann, wird mit dem Fortgang der Geschichte immer deutlicher. Lehrerinnen sind schon für weniger entlassen worden. Doch auch ihre Hilfsbereitschaft für Davys Familie ist anderen ein Dorn im Auge und wird ihr, aber vor allem Davy, schneller zum Verhängnis, als gedacht.
Ich kenne diese Phase des Nordirlandkonfliks nur noch als Kind, aber es haben sich einige Bilder bei mir eingebrannt, die durch diese Geschichte wieder lebendig wurden.

Kennedy schafft eine zunehmend bedrückende Atmosphäre, denn die tägliche Gewalt zieht sich fast beiläufig und nüchtern durch den Roman. Wir erleben, wie der Alltag mitten im Nordirlandkonflikt aussieht, wie gewöhnliche Menschen sich nicht einschüchtern lassen und versuchen eine gewisse Normalität beizubehalten, ihr Leben trotz allem zu genießen, eine Hochzeit zu feiern, auch wenn diese verlegt werden muss, weil auf das gebuchte Hotel am Vortag ein Brandanschlag verübt wurde. Die Angst lauert hinter jeder Ecke, schaut man mit bangem Blick doch laut Verhaltensregeln morgens erst unter sein Autor, bevor man zur Arbeit fährt. Selbst auf dem Weg zur Party muss man mit den Schikanen britischer Soldaten rechnen.
Trotz ständig gegenwärtiger Gewalt pflanzt Kennedy immer wieder kleine Momente der Hoffnung ein, oder humorvolle, herzerwärmende Szenen, ohne kitschig zu werden. Doch alles weist von Beginn an darauf hin, dass die Geschichte nicht gutausgehen kann. Ständig zieht die Spannungsschraube an, aber auf die Wendung, die Kennedy am Ende einbaut, war ich nicht gefasst, auch wenn die Anzeichen die ganze Zeit da waren.
Ihr Schreibstil ist betont nüchtern und sachlich, auch die Liebesgeschichte wird wenig romantisch erzählt. Trotzdem schafft es Kennedy, uns die Charaktere, insbesondere Cushla und Davy, sehr nahezubringen und uns an sie zu binden. Und das war auch der Grund, weshalb mir das Ende sehr naheging.
Ich hatte zwar das Gefühl, dass Kennedy hier einiges an Geschichtswissen voraussetzt, das mir fehlte und mir dadurch vielleicht ein paar Kleinigkeiten entgangen sind, aber es bleiben trotzdem alle Zusammenhänge verständlich. Hilfreich sind auch die Anmerkungen im Anhang, die einige politische Details erklären.
Ein aufwühlender und intensiver Roman voller scharfsinniger Beobachtungen und brillanten Details, der absolut lesenswert ist und mich noch eine ganze Weile beschäftigen wird.
»Übertretung« ist der erste Roman der irischen Autorin Louise Kennedy und stand auf der Shortlist des Women‘s Prize for Fiction.

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Veröffentlicht am 20.08.2023

Ein Sommernachtstraum aus Österreich

Nincshof
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Jahrhundertelang liegt Nincshof versteckt von der Außenwelt zwischen den Sümpfen an der ungarisch-österreichischen Grenze – bis diese trockengelegt werden. Sehr zum Ärger der Nincshofer und Nincshoferinnen. ...

Jahrhundertelang liegt Nincshof versteckt von der Außenwelt zwischen den Sümpfen an der ungarisch-österreichischen Grenze – bis diese trockengelegt werden. Sehr zum Ärger der Nincshofer und Nincshoferinnen. Denn die sind ein recht sonderbares Völkchen, das gern seine Ruhe vor der Außenwelt hat.

Ach wo soll ich nur anfangen bei dieser wunderbaren Geschichte? Am besten mit Erna Rohdiebl, die mit ihren fast 80 Jahren und zwei Plastikhüften nachts bei der verreisten Nachbarin über die Hecke steigt und im Pool baden geht. Wie in jedem Dorf üblich, wissen morgens alle davon. Auch der Bürgermeister, denn genau so eine freiheitsliebende und mutige Mitstreiterin hat ihm noch gefehlt. Zu dritt überzeugen sie Erna bei Pusztafeigenschnaps und Speckbroten, den Oblivisten beizutreten. Seit Monaten entfernen sie Ortsschilder, löschen Wikipediaeinträge, manipulieren sogar Navis und besprühen auswärtige Radfahrer mit Jauche, damit um Himmelswillen keiner den Weg nach Nincshof findet. Denn sie wollen am liebsten von allen vergessen (lat. oblivisci) werden und zurück in ihr heimeliges, eigenbrötlerisches Dorfleben – so, wie es früher laut einer Legende einmal war. Wären da nicht die Zuagrasten mit ihren leuchtenden Irrziegen, die daraus am liebsten eine Touristenattraktion machen wollen.

Man sollte hier keine oberflächliche nur auf Humor abzielende Dorfgeschichte erwarten. Ja, ich hatte ein Dauergrinsen im Gesicht, denn das kauzige Personal hat das Herz am rechten Fleck und die Autorin ist nie drüber mit ihren skurrilen Schilderungen. Außerdem lehnt sie sich an den österreichischen Sprachgebrauch an, was ich wirklich gern lese. Hinter ihrer fast märchenhaften Geschichte verbirgt sich einiges. Wünschen wir uns nicht alle gern mal in dieser medial aufmerksamgeilen Welt ein ruhiges Plätzchen? So ganz ohne Verpflichtungen, Steuern, Oberhäuptern und Religion?

Was das Buch aber so liebenswert macht, sind die herzigen und aberwitzigen Details. Hier vererben die Frauen ihren Nachnamen und zetteln die kleinste Revolution der Welt an, hier gibst ein Jesusschwein im Krippenspiel, Pusztafeigen, mit denen man zwar monatelang überleben kann, aber auch schnell Gespenster sieht. Bisschen Asterixfeeling hat man schon beim Lesen, das gebe ich zu. Und wer sich jetzt an die Leky erinnert fühlt – ja, mir ist es auch ein bisschen so gegangen.
Hin und wieder sind ein paar Passagen zu langatmig geworden, wie zum Beispiel die Erörterung des Oblivismus. Auch Selma hätte es nicht in der Ausführlichkeit gebraucht, da es sehr von der Geschichte ablenkte. Aber das ist Meckern auf hohem Niveau.
Es ist einfach herrlich schräg, ich kann es nur jedem als DAS SOMMERBUCH ans Herz legen. Und wenn es abends bisschen kühler ist, lässt sich auch über das eine oder andere nachdenken. Erna Rohdiebl hat jetzt einen festen Platz in meinem Herzen. Ich hoffe, wir bekommen noch mehr von der jungen Autorin zu lesen.

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Veröffentlicht am 15.08.2023

Unheimlich bewegend und mitreißend

Kontur eines Lebens
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Kurz nach dem Tod ihres Mannes Louis zieht Frieda Tendeloo ins Pflegeheim. Plötzlich ist sie allein, alles um sie herum ist fremd, von dem, was sie besaß, ist ihr nicht viel geblieben und der Rest wird ...

Kurz nach dem Tod ihres Mannes Louis zieht Frieda Tendeloo ins Pflegeheim. Plötzlich ist sie allein, alles um sie herum ist fremd, von dem, was sie besaß, ist ihr nicht viel geblieben und der Rest wird derweil von ihrem Sohn und seiner schwangen Frau auf dem Sperrmüll entsorgt. In den einsamen Stunden drängen nach und nach alte Erinnerungen ans Licht.
Damals in den 60ern lebte sie mit Anfang 20 noch bei ihren Eltern. Eingeengt von deren autoritären Erziehung und konservativen Wertvorstellungen blieb kaum Freiraum für ihre persönliche Entwicklung, geschweige denn für ihre Träume und Wünsche. Dann verliebte sie sich in den verheirateten Otto und wurde trotz aller Vorsicht schwanger – ein absoluter Skandal, vor allem für ihre Eltern.

»Du bist eine ordinäre Schlampe!« … die Worte ihrer Mutter.

»Du musst es zur Welt bringen und danach vergessen.« … die Worte ihres Vaters.

Diese Worte blieben mir beim Lesen fast im Hals stecken. Für mich unvorstellbar, aber in der damaligen Zeit wohl keine Seltenheit.
Jetzt mit über achtzig Jahren kehren alle Erinnerungen zurück, die sie verdrängt und nie jemandem erzählt hat. Auch nicht ihrem Louis, den sie später geheiratet hat und mit dem sie sehr glücklich war. Doch sie spürt, dass das Erlebte heraus muss, dass sie sich endlich aussprechen muss.

Was für eine emotionale Achterbahnfahrt. Schon bei Friedas erster Nacht im Heim hatte der Autor mich emotional voll am Wickel. Vielleicht liegt es an meinem Alter und dass mich vielleicht nicht mehr allzu viele Jahre von dem Thema Pflege trennen. Es war fast fühlbar, wie unsicher Frieda war in der neuen, fremden Umgebung, wie sie unwirsch wird, ihr alles zu viel wird. Ihre Scham, auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen zu sein. Die Spannungen zwischen ihr und ihrem Sohn, das Unverständnis füreinander. Langsam reift in ihr der Vorsatz, ihre Vergangenheit zu verarbeiten und nicht mehr zu schweigen.

Auch die junge Frieda mit ihrer Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben, nach Freiheit, Liebe und Verständnis, konnte Robben sehr authentisch einfangen. Doch ab dem Moment, als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verheimlichen konnte, hat es mich innerlich zerrissen. Ich war schockiert, weil es sich trotz Fiktion so real angefühlt hat. Robben hat einen sehr einfühlsamen Schreibstil, sehr lebendig und schafft eine Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Die abwechselnden Zeitebenen in jedem Kapitel treiben die Geschichte in einer Geschwindigkeit voran, dass mancher Krimi daneben verblassen würde. Verschnaufpausen sind kaum drin.

Ich denke, die meisten von uns kennen die 60er Jahre nur aus Erzählungen, zumindest geht es mir so. Dennoch ist uns das Rollenbild der Frau aus der Zeit bekannt. Sittsamkeit, Jungfräulichkeit, Unterordnung werden von der Kanzel gepredigt. Und »ist es doch mal passiert«, schweigt man es tot, löst man es ungesehen vor der Nachbarschaft, ja sogar vor dem Rest der Familie. Und die Lösung hieß in den meisten Fällen, dass die Mutter das Kind wegzugeben hatte. Und die Kirche hatte dabei keinen unerheblichen Anteil.
Mit Frieda hat Robben hier stellvertretend eine Frauenfigur geschaffen, die dieses Schicksal duldsam, schweigsam hinnahm, die ohnmächtig gegenüber der damaligen Moralvorstellungen war. Die aber beeindruckende Stärke zeigte, sich nicht dem Schicksal untergeordnet hat und mit Louis eine zweite Chance auf eine glückliche Beziehung bekam und Mutter wurde.

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Veröffentlicht am 25.06.2023

Wer bezahlt für die Träume von einem besseren Leben?

Wenn ich wiederkomme
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Der vierte und damit letzte Roman, den ich von Balzano gelesen habe, dreht sich wieder um sein Kernthema „Fortgehen und Dableiben“. Er erzählt die Geschichte von Daniela, eine Rumänin, die ihre Familie ...

Der vierte und damit letzte Roman, den ich von Balzano gelesen habe, dreht sich wieder um sein Kernthema „Fortgehen und Dableiben“. Er erzählt die Geschichte von Daniela, eine Rumänin, die ihre Familie verlässt, um in Italien als schlechtbezahlte Pflegerin zu arbeiten.
Im ersten Teil „Wo bist du“ erleben wir aus der Perspektive des zwölfjährige Manuels, wie es sich für ihn anfühlt, als seine Mutter eines Morgens verschwunden war. Der arbeitsscheue Vater hat schon lange keinen Job mehr und das bisschen Geld, das Daniela verdient, reicht nicht, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Doch Manuel träumt von einem einfachen Leben, für ihn zählt die Nähe der Familie, das Zusammensein.

„Zu Hause hieß es die ganze Zeit nur: „Das hat sie für uns getan“, „Wir sollten ihr dankbar sein“, „Was sie alles auf sich nimmt für die Familie“ … Mich überzeugte das kein bisschen. Und wenn mein Vater Sachen sagte wie: „Sie wischt den Alten den Arsch ab, damit du studieren kannst“, hätte ich ihm am liebsten geantwortet: und damit du dich auf dem Sofa mit Bier vollaufen lassen kannst.“ S.30

Im zweiten Teil „Weit weg“ kommt Daniela selbst zu Wort und schildert uns nicht nur ihre Beweggründe, sondern auch die harte Arbeit als 24/7-Pflegekraft in verschiedenen Familien, die mit der Pflege ihrer Angehörigen selbst überfordert sind. Wozu freie Tage nehmen, wo sie doch jeden Euro braucht, um ihn in die Heimat zu schicken. Also arbeitet sie bis zur Erschöpfung, die in ihrer Heimat einen eigenen Namen hat – Italienkrankheit. Doch mit dem, was sie zu Hause erwartet, hat sie nicht gerechnet.

Angelica, die älteste Tochter, hat sich in all den Jahren der Familie entfremdet und wir erfahren im dritten Teil „Bumerang“, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt.

Das Tolle an dem Buch war tatsächlich, dass Balzano sich hier für die drei unterschiedlichen Perspektiven entschieden hat. Das machte für mich das ganze Leid, das diese Entscheidung mit sich brachte, greifbar und nachfühlbar. Zu sehen, welche Auswirkungen das auf jeden Einzelnen hat, dass die eigenen Träume nicht immer die der Kinder sind, war sehr ergreifend. Das große Problem der Arbeitsmigration bekommt hier ein sehr persönliches Gesicht, mit all dem Leid, das daraus erwächst. Erschreckend war für mich auch, dass es speziell in Rumänien für die bis zur Erschöpfung arbeitenden Frauen einen eigenen Begriff gibt „Italienkrankheit“ oder „Italiensyndrom“. Dabei ereilt die Kinder hier noch das bessere Schicksal, denn sie haben ihre Großeltern, die sich liebevoll um sie kümmern. Andere Kinder landen einfach im Heim und werden somit zu „Eurowaisen“. Ein wirklich brisantes Thema, das er tief ausgearbeitet hat, was allerdings etwas zu Lasten der Charaktere ging, die mich diesmal nicht so tief berühren konnten wie in seinen anderen Romanen.
In seinem mehrseitigen Nachwort erläutert Balzano, wie er zu dieser Idee gekommen ist und dass er in Rumänien Einrichtungen besucht hat, die sich um die zurückgebliebenen „Home-Alone-Children“ kümmern.

Nichtsdestotrotz möchte ich das Buch schon allein der Thematik wegen wärmstens empfehlen. Denn die hallt auch jetzt nach Tagen noch immer in mir nach. Ich spüre die tragische Sehnsucht, die schon im Titel angelegt ist. Mit so vielen Träumen könnte man den Satz: „Wenn ich wiederkomme“ beenden und doch bleiben sie alle auf der Strecke.

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Veröffentlicht am 06.06.2023

Wie weit ist man bereit zu gehen für die, die man liebt?

Dunkelzeit
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1985 – Das Wochenende, an dem die Jagdsaison für Hirsche im ländlichen Nebraska beginnt. (Deer Saison, Originaltitel) Auch Hal geht mit seinen Freunden jagen, kommt aber mit einer Beule in seinem Pick-Up ...

1985 – Das Wochenende, an dem die Jagdsaison für Hirsche im ländlichen Nebraska beginnt. (Deer Saison, Originaltitel) Auch Hal geht mit seinen Freunden jagen, kommt aber mit einer Beule in seinem Pick-Up zurück und einer toten Hirschkuh, für die er keine Jagderlaubnis hatte.
Es ist auch das Konfirmationswochenende von Milo, dessen Schwester in der letzten Nacht anscheinend nicht nach Hause gekommen ist. Noch sind alle der Meinung, dass sie bald wieder auftauchen wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich mit ihren Freunden betrunken hätte. Als sie nach zwei Tage immer noch nicht zurück ist, ist man im Dorf einhellig der Meinung, Hal hat sie getötet.
Hal ist geistig beeinträchtigt und oft Zielscheibe der Bewohner von Gunthrum. Alma und Clyle haben Hal vor einiger Zeit auf ihrer Farm angestellt und sorgen dafür, dass Hal ein relativ selbstbestimmtes Leben führen kann. Jetzt, wo er von allen öffentlich verurteilt wird, versucht Alma ihn nach Kräften zu verteidigen. Sie weiß, dass er nicht immer die Folgen seines Handelns abschätzen kann, aber sie kann sich nicht vorstellen, dass Hal etwas mit dem Verbrechen zu tun hat. Oder doch? Woher stammte die Beule an seinem Pick-up und das ganze Blut in seiner Wohnung?

Wir verfolgen die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Da ist Alma, die Schulbusfahrerin, die mit den Wechseljahren zu kämpfen hat, mürrisch ist und sich vom Leben betrogen fühlt. Weil ihre Ehe mit Clyle kinderlos blieb, kümmert sie sich um Hal wie um einen eigenen Sohn. Sie würde ihn mit ihrem Leben beschützen. Clyle hat derweil mit seiner Farm zu kämpfen, der Schweinestall ist sein Rückzugsort, wenn Alma ihm mal wieder auf die Nerven geht.

Und da wäre noch Milo, der aufgeweckte 12-Jährige, dem seit Jahren nichts in seinem Elternhaus entgeht, weil er nur zugern die Erwachsenen belauscht. Jetzt, wo seine Schwester verschwunden ist, reimt er sich das merkwürdige Verhalten der Erwachsenen zusammen und stellt Fragen.

Das Buch ist alles andere als ein gewöhnlicher Krimi, ich würde es auch eher als soziales Drama beschreiben, eine charakterbasierte Gesellschaftsstudie. Der Fall der vermissten Peggy steht nicht im Fokus und wir folgen auch keinen direkten Ermittlungen. Flanagan hat hier hervorragende Charaktere geschaffen. Wir bekommen tiefe Einblicke, wie es ist, in diesem Dorf ein Außenseiter zu sein. Alma lebt inzwischen 14 Jahre hier, obwohl sie nur für eine Saison ihrem Mann zuliebe herkam, ihren Job als Sozialarbeiterin aufgegeben hat und eigentlich zu gern ein Teil des Ortes zu sein. Doch der Frust in ihr ist über die Jahre übermächtig geworden und Hal scheint nun der einzige Fixpunkt neben ihren verdrängten Eheproblemen zu sein. Auch Milo ist auf seine Art anders. Er kann sich nahezu unsichtbar machen und interessiert sich mehr für die Probleme der Erwachsenen als für seine Freunde. Und bei Hal kann man sich nie sicher sein, wozu er fähig ist.
Wenn sich nach und nach alle Puzzlestücke zusammenfügen, bekommt man das komplette Bild einer komplizierten Beziehung der Bewohner von Gunthrum, ein Ort, den es wohl zu jeder Zeit überall gibt. Was das Buch somit auch zeitlos macht.

Außerdem mochte ich Flanagans Schreibstil, der voller wunderbarer zitierfähiger Sätze ist, dass ich manche Passagen zwei Mal gelesen habe.
Ich empfehle das Buch gern allen, die nicht auf vordergründige Spannung aus sind, sich dafür lieber von tiefgründigen Figuren begeistern lassen.

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