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Veröffentlicht am 13.07.2023

Ein Klassiker neu übersetzt

Hunger
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Ein Künstler an der äußersten Grenze einer Zeit und ihrer Überzeugungen. Ein Protagonist, der vorausschreitet, der sich durch den Akt des Hungern davon befreit (oder: zwangsläufig befreien muss), was die ...

Ein Künstler an der äußersten Grenze einer Zeit und ihrer Überzeugungen. Ein Protagonist, der vorausschreitet, der sich durch den Akt des Hungern davon befreit (oder: zwangsläufig befreien muss), was die Gesellschaft ihm auferlegt; von der Allmacht von Religion und dem Schicksal. Das Hungern als eine Art der Selbstbestimmung.
So zumindest habe ich Knut Hamsuns Roman "Hunger" wahrgenommen.

Hungernde Künstler sind natürlich nichts Außergewöhnliches in der Literatur. Und Hunger als Mittel, um andere, höhere Formen der Wahrnehmung zu erreichen, auch nicht.
Was Hamsuns Roman ausmacht, ist die Dringlichkeit und Körperlichkeit, das sehr Reale, das von jeder (Kunst-)Theorie Losgelöste, mit der sie erzählt werden und vor allem auch die Charakterentwicklung, die sie einleiten.

Hamsuns Protagonist lebt in Oslo. Es ist das Jahr 1890. Er ist arm, schreibt Artikel für Zeitungen, die fast nie angenommen werden, hungert, kann seine Miete nicht zahlen, verkauft bald sein einziges Hab und Gut, schreibt unaufhörlich weiter und isst wochenlang fast gar nichts. Am Leben zu bleiben wird für ihn zur Anstrengung, zur Qual.

Er ist ein Außenseiter. Ein Außgestoßener. Seine Kunst und seine Beharrung auf ihr berauben ihn nicht nur fast seines Lebens, sondern schaffen auch eine Distanz zur Gesellschaft. Künstler zu sein, sein zu wollen, bedeutet Armut, Hunger, Elend. Ein Zustand, den der Protagonist scheinbar nicht überwinden kann.

Bis er Grenzen überschreitet. Beispielsweise sprachliche. Er denkt sich ein neues Wort aus, erfindet also Sprache neu bzw. erweitert sie und widersetzt sich damit ihren Begrenzungen.

"Hunger" ist ein Roman, der viel sagt, der sehr zum Nachdenken anregt und viele eigene Gedanken und Interpretationen zulässt (was sich sicher in meinen Worten hier widerspiegelt) und der nicht umsonst als Klassiker zählt.

Bei @manesse.verlag ist er jetzt in der Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg erschienen. Sehr zu empfehlen!

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Ein soghaftes Debüt

Meeresleuchten
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Um das Phänomen des Meeresleuchtens zu erforschen, verbringen zwei Wissenschaftlerinnen den Sommer in einer Küstenstadt in Neufundland. Als Vivienne eines nachts anstelle von Quallen und Fischen eine Kreatur ...

Um das Phänomen des Meeresleuchtens zu erforschen, verbringen zwei Wissenschaftlerinnen den Sommer in einer Küstenstadt in Neufundland. Als Vivienne eines nachts anstelle von Quallen und Fischen eine Kreatur aus dem Wasser zieht, die keiner bekannten Art ähnelt, nimmt der Forschungsaufenthalt eine neue Richtung an. Moralische Bedenken und Empathie gegenüber dem merkwürdigen Lebewesen bei der einen stoßen auf Anerkennungsdrang und die Aussicht auf Ruhm und Berühmtheit bei den anderen.

Inmitten dieser Geschichte steht das Wesen aus der Tiefe. Man könnte zunächst denken, es sei eine Art Meerjungfrau, eine Mutation oder gar ein Seeungeheuer. Doch der Roman liefert  schließlich eine andere Beschreibung: Offenbar ist es ein Wesen, das Merkmale von Mensch, Fisch und Meerespflanze in sich vereint.

Es ist ein soghaftes, sprachlich gelungenes Debüt, das Barbeau liefert. Das Thema des unbekannten Meereswesens, das an Land gefischt wird, ist natürlich keine Neuerfindung der Autorin. Zu Beginn hat mich der Roman zum Beispiel immer wieder an "Die Meerjungfrau von Black Conch" und an den Film "Shape of Water" erinnert.

Aber nicht alles muss immer komplett neu oder noch nie dagewesen sein. Barbeau benutzt das Motiv, ohne ins Fantastische abzurutschen. Bei ihr stehen Fragen nach Moral, Empathie, Menschlichkeit und dem Umgang mit anderen Lebewesen im Vordergrund. In dieser Hinsicht hat der Roman also auch eine wichtige, gekonnt umgesetzte, ökokritische Dimension.

Ein großes Lob gebührt der Übersetzerin Ute Brammertz und auch das Cover finde ich sehr gelungen!

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Eine Entdeckung

Mistral
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Mistral von Maria Borrély in der Übersetzung von Amelie Thoma

Worum geht es?

Marie lebt in einem kleinen Dorf in der Provence, es ist der Beginn des 20. Jahrhunderts. Als sie Olivier kennenlernt, einen ...

Mistral von Maria Borrély in der Übersetzung von Amelie Thoma

Worum geht es?

Marie lebt in einem kleinen Dorf in der Provence, es ist der Beginn des 20. Jahrhunderts. Als sie Olivier kennenlernt, einen jungen Mann aus dem Nachbarort, verliebt sie sich. Doch ihre Liebe bleibt unerwidert und vor der Kulisse der provenzalischen Landschaft nimmt das Schicksal seinen Lauf.

Worum geht es wirklich?

Wie der deutsche Titel schon vermuten lässt, geht es eigentlich um die Natur und vor allem um das Mit- und Gegeneinander von Mensch und Natur. Borrély greift Themen auf, die wir jetzt, fast ein Jahrhundert später, als relevant betrachten: Umweltzerstörung, Klimawandel und Tierwohl. Der Text hat in dieser Hinsicht fast schon eine prophetische Qualität und ist nicht zuletzt durch seine außergewöhnliche Sprache und seinen modernen Stil seiner Zeit voraus.

Daneben geht es auch um das Schicksal einer jungen Frau, die mit ihren Gefühlen an die Grenzen der Gesellschaft stößt, in der sie lebt, und schließlich im Wahnsinn den einzigen Ausweg aus ihrem Unglück sieht.

Welches Zitat gehört an den Küchenschrank gepinnt?

„Man hat die Erde kaputt gemacht, das Klima verändert. Es regnet immer weniger. Die Quellen versiegen. [...] Die Erde ist alt geworden. Unter ihrer gelben Haut treten die Felsen, die ihre Knochen sind, hervor.“

Welche Frage würdest Du dem Autor gerne stellen?

Ich würde ihr für diesen Roman danken, der so anders und besonders ist und der meine persönliche Entdeckung dieses literarischen Frühlings war. Dank gebührt natürlich auch der Übersetzerin Amelie Thoma, die sich des Romans angenommen hat und ihn für ein deutsches Publikum wieder zugänglich gemacht hat.

Wer dieses Buch mag, mag auch …

… „Singe ich, tanzen die Berge“ von Irene Solà. Ein Roman, der auch einen ganz eigenen und unverkennbaren Sound hat.

Aus: Magazin Literatur Rheinland (literatur-rheinland.de)

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Ein Roman über Mutterschaft

Eva
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"Eva" von Verena Kessler ist ein Roman über Mutterschaft. Es ist ein Roman für die heutige Zeit. Fern aller Verklärungen und Beschönigungen erzählt er darüber, was Muttersein bedeutet, was es bedeuten ...

"Eva" von Verena Kessler ist ein Roman über Mutterschaft. Es ist ein Roman für die heutige Zeit. Fern aller Verklärungen und Beschönigungen erzählt er darüber, was Muttersein bedeutet, was es bedeuten kann.

Da ist zunächst die Journalistin Sina, die unbedingt Mutter werden will, aber nicht schwanger wird. Eva Lohaus, eine Lehrerin, die von Sina interviewt wird, spricht sich dafür aus, keine Kinder zu kriegen. Sie begründet es mit dem Klimawandel und der Überbevölkerung. Ihre Aussagen erzeugen nicht zuletzt durch den Artikel von Sina regelrechte Wellen des Hasses. Sinas Schwester Mona hingegen ist Mutter dreier Kinder und hat mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Und dann ist da noch die Mutter, die ihr Kind verliert...

Vier Frauen, vier ganz unterschiedliche Schicksale und Erfahrungen des Mutterseins. Anhand dieser zeigt Kessler, wie wir als Gesellschaft mit den Themen Kinderkriegen und Muttersein umgehen. Welchen Druck baut die Gesellschaft auf, mit welchen Sorgen und Ängsten lassen wir Mütter alleine? Und wie viel Freiheit bleibt überhaupt am Ende übrig, wenn es um das Thema Kinderkriegen geht? Was darf man sagen und was nicht? Wie gehen wir mit Frauen um, die keine Kinder kriegen wollen/können und was macht das mit diesen Frauen?Aber vor allem: Wie viele Geschichten bleiben unerzählt oder stehen im Schatten all der Idealvorstellungen von Mutterschaft?

"Ich weiss nicht, ob ich mir je sicher sein werde, dass die Entscheidung richtig war. Vielleicht geht das auch gar nicht. Woher soll man das auch wissen? Man hat entweder Kinder, oder man hat keine. Niemand macht beide Erfahrungen."

Der Roman ist, wie ich finde, ein Roman, der nötig war. Der geschrieben werden musste und der gelesen werden muss. An alle, die noch zögern oder unschlüssig sind: Es lohnt sich. I promise!

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Berührend, bewegend

Brüderchen
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Ein Baby kommt mit Beeinträchtigungen zur Welt. Es kann sich nicht bewegen, ist blind, reagiert und kommuniziert nicht. Es wird in eine Familie hineingeboren, die neben den Eltern aus zwei gesunden Geschwistern ...

Ein Baby kommt mit Beeinträchtigungen zur Welt. Es kann sich nicht bewegen, ist blind, reagiert und kommuniziert nicht. Es wird in eine Familie hineingeboren, die neben den Eltern aus zwei gesunden Geschwistern besteht, einem älteren Bruder und einer Schwester.

In mehreren Teilen taucht der Roman in das ein, was mit den einzelnen Familienmitgliedern durch die schwere Behinderung des Babys passiert. Er zeigt, wie die anderen beiden Kinder sich verhalten, welchen Einfluss die Situation auf ihre Entwicklung hat. Während der Bruder übermäßig fürsorglich wird, sich in seinem Leben bald alles um das kranke Geschwisterchen dreht, entwickelt die Schwester eine unbändige Wut und einen Drang zur Rebellion.

"Brüderchen" ist ein Roman, der mir nahe gegangen ist. Auf kluge Weise stellt er dar,
wie viel Schmerz und Leid die Krankheit eines Familienmitglieds bedeuten kann und wie sehr wir innerhalb einer Familie auf die Gesundheit der anderen angewiesen sind. Für mich legt der Roman die Abhängigkeitsstrukturen innerhalb von Familien und Lebensgemeinschaften offen und er tut dies durch scharfe Beobachtungen und durch die klaren Zeichnungen seiner Figuren.

"Denn die Kinder, denen es scheinbar gut geht, verstummen, sie lernen, mit den scharfen Kanten ihres Lebens umzugehen, stellen keine Forderungen, passen sich dem Schmerz an."

Leseempfehlung mit dem Hinweis darauf, dass die Geschichte die Kraft hat, sich tief in einem festzusetzen.

Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck.

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