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Veröffentlicht am 14.07.2023

Wichtige Themen

Fremde Federn
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Als er einen neuen Job beginnt, zieht Tom in das Haus seiner Großmutter ein: Eine ungewöhnliche Form der WG, die aber zu funktionieren scheint. Bis Tom Rosmarie eines Abends in seinem Zimmer schlafwandeln ...

Als er einen neuen Job beginnt, zieht Tom in das Haus seiner Großmutter ein: Eine ungewöhnliche Form der WG, die aber zu funktionieren scheint. Bis Tom Rosmarie eines Abends in seinem Zimmer schlafwandeln sieht. Kurze Zeit darauf stürzt sie schwer, muss operiert werden und ist vor allem für mehrere Tage stark verwirrt. Es drängt sich eine Diagnose auf: Demenz.

"Und er tauchte mit einem Kopfsprung in das eisige Wasser einer ihm völlig unbekannten Dimension des Lebens ein. Ins unselbstständige Altsein."

Damit beginnt eine Zeit des Unbekannten, der Entscheidungen und der Überforderung. Tom will seine Großmutter nicht ins Pflegeheim bringen, muss aber gleichzeitig einsehen, dass er die Last der neuen Situation alleine nicht tragen kann. Also stellt er eine 24h-Betreuung ein, die fortan mit den beiden im Haus lebt.

"Denn wenn er das Licht ausmachte, fragte [die Stimme in seinem Kopf] ihn ganz leise, was geschähe, wenn er einfach gehen würde."

Der Roman widmet sich wichtigen Themen, die in der Gegenwartsliteratur viel präsenter sein müssten und alleine deshalb verdient er Aufmerksamkeit.

Diese Themen, also die Pflege von Angehörigen, der geistige Verfall eines Familienmitglieds durch Demenz sowie die Arbeit und das Zusammenleben mit Betreuerinnen, hätten meiner Meinung nach sogar noch eindringlicher, noch fokussierter erzählt werden können.

Denn manchmal schweift der Roman ein wenig ab, dann geht es beispielsweise um die Beziehung von Tom, die eigentlich in der Vergangenheit liegt und die in der Geschichte auch nicht richtig fortgeführt wird oder es geht seitenlang um seine Arbeit in einem Start-up, das Mehlwürmer als Nahrungsmittel produziert. Obwohl das generell sicher nicht uninteressant ist und auch nicht schlecht erzählt, lässt es insgesamt weniger Platz für das, worum es eigentlich geht.

Es muss jedoch betont werden: Trotz dieser kleinen Mängel lohnt sich die Lektüre! Es lohnt sich, Menschen, die pflegen oder gepflegt werden, zuzuhören. Es lohnt sich, genauer hinzuschauen und Empathie zu entwickeln. Die Gesellschaft und die Literatur sind den Betroffenen das Hinschauen und Zuhören schuldig.

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Ein Schatz

Maud Martha
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Vergessen kann ein Unrecht sein. Im Fall von Gwendolyn Brooks ist es das ganz besonders. Für eine afroamerikanische Schriftstellerin, die sich im Laufe ihres Lebens zunehmend radikalisiert hat, um gegen ...

Vergessen kann ein Unrecht sein. Im Fall von Gwendolyn Brooks ist es das ganz besonders. Für eine afroamerikanische Schriftstellerin, die sich im Laufe ihres Lebens zunehmend radikalisiert hat, um gegen den Rassismus in den USA zu kämpfen, war kein Platz im weiß-bestimmten Kanon. Sie gewann zwar als erste afroamerikanische Autorin den Pulitzerpreis, weitere Preise und Auszeichnungen folgten, doch das war noch vor ihrem Engagement in der Bürgerrechtsbewegung und dem Black Arts Movement.

Umso wichtiger ist es, dass der @manesse.verlag Brooks einzigen Roman jetzt auf Deutsch in der hervorragenden Übersetzung von Andrea Ott herausgegeben hat!

Es ist ein Roman über ein gewöhnliches Leben, über Maud Marthas Leben, um genau zu sein. Maud, eine "lovely little person", wie Brooks ihre Protagonistin selbst bezeichnete, wächst 1940 in Chicago auf. Der Alltagsrassismus ist Teil ihres Lebens, ist allgegenwärtig: Die Angst vor dem Verlust des Familienhauses, die Unterbezahlung, die verschmutzten und kleinen Wohnungen im Viertel, die rassistischen Äußerungen einer weißen Frau im Frisörsalon oder das Desinteresse des Kaufhaus-Weihnachtsmanns an ihrer Tochter... All das findet gleichzeitig zu Mauds Träumen statt, zu ihrer Sehnsucht nach einem Leben in New York, oder zumindest in einer schönen Wohnung und nach einer Ehe, in der sie nicht nur für ihr Inneres, sondern auch für ihr Äußeres geliebt wird.

In seinem Nachwort schreibt @thedanielschreiber, dass Maud sich ihre Würde in einer Welt bewahrt, "die ihr diese Würde eigentlich nicht zugestehen möchte". Treffender kann man es kaum formulieren. Denn es ist diese Würde, die Maud auszeichnet, ihr stets positiver Blick auf das Leben, ihre Fähigkeit, sich ihren Optimismus nicht nehmen zu lassen, trotz aller Ungerechtigkeit und Rückschläge, trotz aller  verlorenen Träume.

Brooks erzählt von diesem Leben in kurzen Auszügen, die sich skizzenhaft lesen und sich am Ende zu einem lebendig-bunten Mosaik zusammensetzen.

Man könnte noch so viel mehr sagen, aber ich finde, dass das Buch eigentlich gar keine Fürsprecher braucht. Es zu lesen sollte sich ganz von selbst verstehen. ❤️

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Ein Klassiker neu übersetzt

Hunger
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Ein Künstler an der äußersten Grenze einer Zeit und ihrer Überzeugungen. Ein Protagonist, der vorausschreitet, der sich durch den Akt des Hungern davon befreit (oder: zwangsläufig befreien muss), was die ...

Ein Künstler an der äußersten Grenze einer Zeit und ihrer Überzeugungen. Ein Protagonist, der vorausschreitet, der sich durch den Akt des Hungern davon befreit (oder: zwangsläufig befreien muss), was die Gesellschaft ihm auferlegt; von der Allmacht von Religion und dem Schicksal. Das Hungern als eine Art der Selbstbestimmung.
So zumindest habe ich Knut Hamsuns Roman "Hunger" wahrgenommen.

Hungernde Künstler sind natürlich nichts Außergewöhnliches in der Literatur. Und Hunger als Mittel, um andere, höhere Formen der Wahrnehmung zu erreichen, auch nicht.
Was Hamsuns Roman ausmacht, ist die Dringlichkeit und Körperlichkeit, das sehr Reale, das von jeder (Kunst-)Theorie Losgelöste, mit der sie erzählt werden und vor allem auch die Charakterentwicklung, die sie einleiten.

Hamsuns Protagonist lebt in Oslo. Es ist das Jahr 1890. Er ist arm, schreibt Artikel für Zeitungen, die fast nie angenommen werden, hungert, kann seine Miete nicht zahlen, verkauft bald sein einziges Hab und Gut, schreibt unaufhörlich weiter und isst wochenlang fast gar nichts. Am Leben zu bleiben wird für ihn zur Anstrengung, zur Qual.

Er ist ein Außenseiter. Ein Außgestoßener. Seine Kunst und seine Beharrung auf ihr berauben ihn nicht nur fast seines Lebens, sondern schaffen auch eine Distanz zur Gesellschaft. Künstler zu sein, sein zu wollen, bedeutet Armut, Hunger, Elend. Ein Zustand, den der Protagonist scheinbar nicht überwinden kann.

Bis er Grenzen überschreitet. Beispielsweise sprachliche. Er denkt sich ein neues Wort aus, erfindet also Sprache neu bzw. erweitert sie und widersetzt sich damit ihren Begrenzungen.

"Hunger" ist ein Roman, der viel sagt, der sehr zum Nachdenken anregt und viele eigene Gedanken und Interpretationen zulässt (was sich sicher in meinen Worten hier widerspiegelt) und der nicht umsonst als Klassiker zählt.

Bei @manesse.verlag ist er jetzt in der Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg erschienen. Sehr zu empfehlen!

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Ein soghaftes Debüt

Meeresleuchten
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Um das Phänomen des Meeresleuchtens zu erforschen, verbringen zwei Wissenschaftlerinnen den Sommer in einer Küstenstadt in Neufundland. Als Vivienne eines nachts anstelle von Quallen und Fischen eine Kreatur ...

Um das Phänomen des Meeresleuchtens zu erforschen, verbringen zwei Wissenschaftlerinnen den Sommer in einer Küstenstadt in Neufundland. Als Vivienne eines nachts anstelle von Quallen und Fischen eine Kreatur aus dem Wasser zieht, die keiner bekannten Art ähnelt, nimmt der Forschungsaufenthalt eine neue Richtung an. Moralische Bedenken und Empathie gegenüber dem merkwürdigen Lebewesen bei der einen stoßen auf Anerkennungsdrang und die Aussicht auf Ruhm und Berühmtheit bei den anderen.

Inmitten dieser Geschichte steht das Wesen aus der Tiefe. Man könnte zunächst denken, es sei eine Art Meerjungfrau, eine Mutation oder gar ein Seeungeheuer. Doch der Roman liefert  schließlich eine andere Beschreibung: Offenbar ist es ein Wesen, das Merkmale von Mensch, Fisch und Meerespflanze in sich vereint.

Es ist ein soghaftes, sprachlich gelungenes Debüt, das Barbeau liefert. Das Thema des unbekannten Meereswesens, das an Land gefischt wird, ist natürlich keine Neuerfindung der Autorin. Zu Beginn hat mich der Roman zum Beispiel immer wieder an "Die Meerjungfrau von Black Conch" und an den Film "Shape of Water" erinnert.

Aber nicht alles muss immer komplett neu oder noch nie dagewesen sein. Barbeau benutzt das Motiv, ohne ins Fantastische abzurutschen. Bei ihr stehen Fragen nach Moral, Empathie, Menschlichkeit und dem Umgang mit anderen Lebewesen im Vordergrund. In dieser Hinsicht hat der Roman also auch eine wichtige, gekonnt umgesetzte, ökokritische Dimension.

Ein großes Lob gebührt der Übersetzerin Ute Brammertz und auch das Cover finde ich sehr gelungen!

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Veröffentlicht am 13.07.2023

Eine Entdeckung

Mistral
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Mistral von Maria Borrély in der Übersetzung von Amelie Thoma

Worum geht es?

Marie lebt in einem kleinen Dorf in der Provence, es ist der Beginn des 20. Jahrhunderts. Als sie Olivier kennenlernt, einen ...

Mistral von Maria Borrély in der Übersetzung von Amelie Thoma

Worum geht es?

Marie lebt in einem kleinen Dorf in der Provence, es ist der Beginn des 20. Jahrhunderts. Als sie Olivier kennenlernt, einen jungen Mann aus dem Nachbarort, verliebt sie sich. Doch ihre Liebe bleibt unerwidert und vor der Kulisse der provenzalischen Landschaft nimmt das Schicksal seinen Lauf.

Worum geht es wirklich?

Wie der deutsche Titel schon vermuten lässt, geht es eigentlich um die Natur und vor allem um das Mit- und Gegeneinander von Mensch und Natur. Borrély greift Themen auf, die wir jetzt, fast ein Jahrhundert später, als relevant betrachten: Umweltzerstörung, Klimawandel und Tierwohl. Der Text hat in dieser Hinsicht fast schon eine prophetische Qualität und ist nicht zuletzt durch seine außergewöhnliche Sprache und seinen modernen Stil seiner Zeit voraus.

Daneben geht es auch um das Schicksal einer jungen Frau, die mit ihren Gefühlen an die Grenzen der Gesellschaft stößt, in der sie lebt, und schließlich im Wahnsinn den einzigen Ausweg aus ihrem Unglück sieht.

Welches Zitat gehört an den Küchenschrank gepinnt?

„Man hat die Erde kaputt gemacht, das Klima verändert. Es regnet immer weniger. Die Quellen versiegen. [...] Die Erde ist alt geworden. Unter ihrer gelben Haut treten die Felsen, die ihre Knochen sind, hervor.“

Welche Frage würdest Du dem Autor gerne stellen?

Ich würde ihr für diesen Roman danken, der so anders und besonders ist und der meine persönliche Entdeckung dieses literarischen Frühlings war. Dank gebührt natürlich auch der Übersetzerin Amelie Thoma, die sich des Romans angenommen hat und ihn für ein deutsches Publikum wieder zugänglich gemacht hat.

Wer dieses Buch mag, mag auch …

… „Singe ich, tanzen die Berge“ von Irene Solà. Ein Roman, der auch einen ganz eigenen und unverkennbaren Sound hat.

Aus: Magazin Literatur Rheinland (literatur-rheinland.de)

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