Mein Überraschungsbuch des Jahres! Ich fand zunächst einfach das Cover interessant und ansprechend, da ich selbst gerne schwimme. Doch schon die erste Seite hat mich direkt in die Geschichte gezogen. Tilda ...
Mein Überraschungsbuch des Jahres! Ich fand zunächst einfach das Cover interessant und ansprechend, da ich selbst gerne schwimme. Doch schon die erste Seite hat mich direkt in die Geschichte gezogen. Tilda an der Supermarktkasse errät anhand der Artikel, Eigenschaften und Merkmale der Kundinnen und Kunden. Das ist zunächst ziemlich unterhaltsam und wie das gesamte Buch sehr flüssig und einnehmend geschrieben. Im weiteren Verlauf wird das Buch jedoch viel mehr als „nur“ unterhaltsam, unglaublich berührend beschreibt Caroline Wahl die Geschichte von Tilda, Ida und Viktor. Dabei werden Themen wie Alkoholismus, Gewalt, Tod und Trauer, Rassismus und Ausgrenzung, ebenso wie Freiheit, Selbstverwirklichung und Liebe in zeitgemäßer Form und Erzählweise behandelt. Ich habe gelacht, geweint und viel gelernt. Mehr kann man sich von einem Buch nicht wünschen.
Ganz im Gegensatz zum Titel seines neuen Romans „Die spürst du nicht“ gibt Glattauer seinen Leserinnen und Lesern beim Lesen viel zu spüren. In die Gesellschaft und in sich selbst hinein. Zwei bekannte ...
Ganz im Gegensatz zum Titel seines neuen Romans „Die spürst du nicht“ gibt Glattauer seinen Leserinnen und Lesern beim Lesen viel zu spüren. In die Gesellschaft und in sich selbst hinein. Zwei bekannte Familien, (grüne) Politik, ein Wissenschaftler, erfolgreiche Weinbauern, das ist der Kontext in den Glattauer erst am Rande und dann im weiteren Verlauf des Buches in den Mittelpunkt der Geschichte das Leben einer geflüchteten somalischen Familie einwebt. Dabei seziert er nicht nur die Blase der Erfolgreichen und Mächtigen, in der Menschen mit weniger Glück und Chancen im Leben nur als Randnotiz oder Charityprojekt taugen. Einen sensiblen Blick wirft Glattauer auch auf den vermeintlichen Rand der Gesellschaft, und skizziert ein Beispiel von echter Solidarität und Freundschaft unter denen, die egal ob geflüchtet oder nicht, im Diskurs der Mächtigen nie als Subjekt stattfinden und sich nur gemeinsam Gehör verschaffen können.
Der Roman liest sich flüssig und sehr kurzweilig. Aufgelockert wird der Erzählstil immer wieder von Posts und Chatnachrichten. Dass er diese zeitgenössischen Kommunikationsmittel und -Formen in Literatur übersetzen kann, hat Glattauer bereits in seinen Romanen „Gut gegen Nordwind“ und „Alle sieben Wellen“ (auch lesenswert!) bewiesen.
Ein Roman, der auch vor dem Hintergrund des aktuellen europäischen Asylkompromisses, unbedingt lesenswert ist und der abstrakten politischen Debatte ein Gesicht und (Mit)Gefühl gibt.
Samuel Finzis Schauspiel begeistert. Doch kann er dieses Talent auch in Literatur übersetzen? Er kann es! Man kann das Buch als noch eine Schauspielerbiographie lesen. Oder, und das macht es für mich eigentlich ...
Samuel Finzis Schauspiel begeistert. Doch kann er dieses Talent auch in Literatur übersetzen? Er kann es! Man kann das Buch als noch eine Schauspielerbiographie lesen. Oder, und das macht es für mich eigentlich erst besonders und uneingeschränkt lesenswert, als einen kurzweiligen und sehr unterhaltsamen Einblick in das Bulgarien der 70er und 80er Jahre, und das Aufwachsen, die Träume und Gedanken eines neugierigen und schon früh seines Unterhaltungstalents bewussten Jungen, in einem künstlerisch- intellektuell geprägten Subsystem des Staatssozialistischen Landes. Finzi schreibt in prägnanten Bildern, die auch beim Leser unmittelbar ein Gefühl für die Situation evozieren. So zum Beispiel, wenn er über die Zeit bei seinen Großeltern außerhalb von Sofia schreibt „Ich bleibe noch eine Weile liegen, ich mag diese Geräusche, die mir sagen, dass Sommer ist und ich bei meinen Großeltern bin.“ In einer fast schon unbedarften Erzählweise thematisiert Finzi auch ernste Themen wie Antisemitismus, die Zwänge des und alltäglichen Herausforderungen im Staatssozialismus und seine Militärzeit. Am Ende des Buches, nach knapp 200 Seiten, ist Finzi Anfang 20 und startet in eine neue Etappe seines Lebens. Das einzig Negative des Buches ist, dass es hier endet und den Leser auf eine Fortsetzung hoffen lässt.
Mit Views ist dem Autor der Känguru Chroniken ein hochaktueller, spannender und temporeicher Thriller gelungen. Yasira ist Beamtin beim BKA mit Migrationsgeschichte in der zweiten Generation. Sie lebt ...
Mit Views ist dem Autor der Känguru Chroniken ein hochaktueller, spannender und temporeicher Thriller gelungen. Yasira ist Beamtin beim BKA mit Migrationsgeschichte in der zweiten Generation. Sie lebt gemeinsam mit ihrer 16 Jährigen Tochter in Berlin. Während eines Dates mit einem Journalisten geht online ein Video einer Vergewaltigung einer 16 Jährigen viral und trifft damit als fatales Öl in das Feuer einer ohnehin schon angespannten gesellschaftlichen Stimmung aus brennenden Unterkünften von Geflüchteten und dem Sturm auf das Kapitol in den USA. Yasira wird zur leitenden Ermittlerin ernannt und ermittelt mit ihrem Team zwischen Internetnerds, Heimatschutz und einer alles beobachtenden, gereizten Netzgemeinde. So nimmt ihr ganz persönlicher Albtraum seinen Lauf, in dem sie vieles zuvor als sicher geglaubtes überdenken muss.
Gekonnt spielt der Autor mit zeitgenössischen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und zeigt eindrucksvoll deren Gefahren auf. Die Aufmerksamkeitsökonomie im Netzzeitalter, die Macht von Influencerinnen, vernachlässigter Klimaschutz, Reichsbürger und
der Hass auf alles Fremde.
Unglaublich gut hat mir auch der Schreibstil gefallen, locker, klug, zuweilen sarkastisch und trotzdem der ernsten Handlung angemessen. Insider- und 90er Jahre Jokes kommen nicht zu kurz. Klare Empfehlung von mir!
Giulia ist zehn Jahre alt, als die drei Jahre jüngere Cristi in ihr Leben tritt, und ahnt noch nicht, dass Cristi dieses bis zu ihrem Lebensende beeinflussen wird. Mit 60 Jahren, unter dem Eindruck schwerer ...
Giulia ist zehn Jahre alt, als die drei Jahre jüngere Cristi in ihr Leben tritt, und ahnt noch nicht, dass Cristi dieses bis zu ihrem Lebensende beeinflussen wird. Mit 60 Jahren, unter dem Eindruck schwerer Krankheit und dem nahenden Lebensende, ist es Cristi, die ihr ins Bewusstsein kommt und so begibt sich Giulia an den Ort ihrer Kindheit und der ersten Begegnung mit Cristi.
Es ist das Jahr 1991 in einer Kleinstadt in der italienischen Provinz, hier lebt Giulia mit ihren Eltern ein ruhiges Leben, die Familie ist angesehen, hat ein Haus, Giulia selbst ist Klassenbeste und hat viele Freundinnen. Da bittet die alte Nonna Ida, eines Sommers Giulias Mutter, ob sich Giulia nicht an den Vormittagen ihrer Enkelin aus Bologna annehmen kann, Cristi.
So unterschiedlich die beiden Mädchen sind - Giulia als Klassenbeste, überlegt, mit gesundem Appetit, für die Sonne unempfindlicher Haut und Cristi, blond, mager, schlecht in der Schule und Legasthenikerin, impulsiv - üben sie eine gegenseitige Faszination aufeinander aus.
In sechs Teilen von 1991 an begleitet Baldelli das Kennenlernen, Aufwachsen, die Annäherung und das Erwachsenwerden von Giulia, Cristi und etwas später auch Mattia, der die Dynamik der Freundschaft im zweiten Sommer entscheidend verändern soll, und ihrer komplexen Beziehung zueinander. So zeichnet die Autorin auch ein Porträt des Aufwachsens in der italienischen Provinz in den 90ern und lässt uns in Bräuche, Kultur, Zusammenhalt aber auch Gerüchte und Vorurteile eintauchen, die das kleinräumige Zusammensein mit sich bringt. Insbesondere Cristis Nonna Ida hat mich hier sehr beeindruckt, die als Analphabetin und in Armut lebend, ihren Weg geht und sich gegen Gerüchte und Vorurteile in der Kleinstadt behauptet. Die zugewandte, und nie oberflächliche Zeichnung der Protagonist*innen und ihre gelungene Einbettung in die Erzählung hat die Geschichte für mich zusätzlich bereichert.
Die Sprache ist unglaublich einnehmend und zieht sofort in den Bann der Geschichte. Aus Giulias Perspektive tauchen wir ein in ihre ersten Begegnungen mit Cristi, die anfänglichen Vorbehalte, die sich mit Bewunderung und Zuneigung mischen, den Konflikt widerstrebender Gefühle in ihr und schließlich das zunächst zarte, jedoch schnell fester werdende Band zwischen Giulia und Cristi, das im weiteren Verlauf des Lebens nicht seine Widersprüche verliert und trotzdem das Schicksal der einstigen Kinder untrennbar vereint. So spinnt Baldelli komplexe soziale Beziehungen und Charaktere, und verliert dabei auch die Prägung durch die Klassenlage mit all ihren Konsequenzen nicht aus dem Blick.
Etwas ärgerlich sind lediglich einige Logikfehler durch Verwechslung der Namen, hier hätte ich mir mehr Sorgfalt im Korrektorat gewünscht.
Man mag kaum glauben, dass es sich um ein Debüt handelt, so wohl konstruiert ist die Geschichte und einnehmend die Sprache. Ein wundervoller Roman, der mich auf weitere Publikationen der Autorin hoffen lässt!