Ein Wimmelbild an Motiven und Gesellschaftskritik
In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman wirft Tess Gunty den Blick auf einen kleinen Ort mitten im Rust Belt der USA, auf dessen Bewohner und somit auch auf die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft. ...
In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman wirft Tess Gunty den Blick auf einen kleinen Ort mitten im Rust Belt der USA, auf dessen Bewohner und somit auch auf die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft. Das ist wild, überbordend und experimentell.
Gleich zu Beginn erfahren wir, dass die 19jährige Blandine Watkins in einer heißen Sommernacht aufgeschlitzt auf dem Boden ihrer WG-Apartment C4 liegen und ihren Körper im Zuge dessen verlassen wird. Das Apartment ist eins von vielen in einem günstigen Sozial-Wohnblock, genannt „Der Kaninchenstall“. Sofort wird aber der Blick von dieser angerissenen Szenerie wieder weg gelenkt hin zu anderen Apartments, hin zu anderen Bewohnern dieses Sozialbaus. Wir treten einen Schritt zurück ein paar Tage in die Vergangenheit und nähern uns dann zusammen mit verschiedenen Beteiligten erneut dieser verhängnisvollen Nacht.
Über verschlungene Pfade erfahren wir stückchenweise mehr über den Hintergrund von Blandine, aber auch von anderen Personen, sogar gerade verstorbenen, die gar nichts mehr zum eigentlichen Plot beitragen. Durch diese Methode nimmt die Autorin Personen aus der Hollywood-High-Society ebenso ins Visier wie ganz einfache Menschen mitten im Nirgendwo der USA. Wir lernen einen Ort, Vacca Vale, südlich des Lake Michigan gelegen, kennen, der mit der Reagan-Ära anfing unterzugehen und sich nun versucht neu zu erfinden. Statt Auto- und Metallindustrie sollen digitale Start-Ups in den Ort gelockt werden. Dafür muss ein (das einzige) Naherholungsgebiet des Ortes bebaut werden, etwas, was Blandine nicht akzeptieren will und sich dagegen wehrt.
Aber eigentlich ist es schwer, die Handlung dieses Buches sinnvoll zu illustrieren. Greift doch der Roman sehr viele aktuelle gesellschaftliche Themen der USA auf. Die Protagonisten sind vielmehr Spiegel der Gesellschaft. In ihren Gedanken, Gefühlen und Handlungen erkennt man sehr heiß diskutierte Themenkomplexe der vergangenen Jahre wieder. Machtmissbrauch und Missbrauch durch Personen mit Macht, Klimawandel und Umweltkatastrophen, soziale Medien und dadurch unsozial gewordene Menschen, und und und. Häufig bringt die Autorin diese Themen ganz latent durch ihre Figuren ein, manchmal aber auch mit der Holzhammer-Methode, wenn gerade Blandine (durchaus pointierte und nachvollziehbare) Monologe zu Problemthemen hält. An einer Stelle hat mich das gestört, da es nicht mehr zur Romanhandlung zu passen und Blandine in diesem Moment aus ihrer Rolle innerhalb der Szenerie zu treten scheint. Im Großen und Ganzen konnte ich allerdings akzeptieren, dass dieses Anreißen von Themen dem Stil dieser jungen amerikanischen Autorin, die scheinbar alle sie belastenden Themen in ihr Erstlingswerk einbringen wollte, entspricht. Mein Lesefluss wurde dadurch nicht unterbrochen.
Über weite Strecken bin ich der Autorin sehr gern in ihr wildes Wimmelbild der maroden amerikanischen Gesellschaft gefolgt, vor allem, da sie immer wieder (pop-)kulturelle Motive aufgreift, die sich durch den Roman ziehen. So tauchen immer wieder weiße Kaninchen auf, die eine potentielle Realitätsflucht, ähnlich wie Alice dem weißen Kaninchen in seinen Bau und damit ins Wunderland gefolgt ist, andeuten. Auch Parallelen zur Dorothy („Der Zauberer von Oz“) werden angedeutet. Taucht dann auch noch im Buch ein verstorbener Kinderstar auf, muss man gleich an Judy Garland denken, die die Dorothy mimte. Neben diesen Anspielungen, von denen ich wahrscheinlich nur die Hälfte erkannt habe, ist der Roman aus wiederkehrenden Motiven zusammengesetzt. So geht es immer wieder um Reizüberflutung, überreizte Haut, Hypersensibilität, Mystik bzw. Mystikerinnen vergangener Jahrhunderte, psychedelische Farben und andere Wahrnehmungselemente. Traumatisierung einzelner wird mit Kapitalismuskritik gepaart. Ab und an könnte der Roman dadurch überladen wirken, ergibt aber meines Erachtens im Gesamtkonzept Sinn und lässt nachvollziehen, warum die Autorin mit David Foster Wallace vergleichen wird, auch wenn sie seine Klasse definitiv (noch) nicht erreicht.
Allein mit dem Ende des Romans konnte ich weniger anfangen. Für mich wirkte das Ganze nicht so richtig rund und ließ mich eher unbefriedigt zurück. Ohne um den heißen Brei herumzureden: Ich habe das Ende wahrscheinlich auch gar nicht gänzlich verstanden.
Insgesamt hat mir dieser Roman aber sehr gut gefallen. Ich bin Tess Gunty sehr gern in den Kaninchenstall gefolgt, war angefixt durch die Rahmenhandlung, deren Grundstock ja schon auf den ersten beiden Seiten gelegt wurde und habe ihre Anspielungen bzw. die Suche nach diesen geliebt. Von mir gibt es daher eine Leseempfehlung für Mutige, die einen experimentellen Stil mit wechselnden Erzählperspektiven und mitunter visuellen Elementen gepaart mit Gesellschaftskritik auf vielen Ebenen gern lesen. Eine neue kreative literarische Stimme, die ich gern in der Zukunft weiterverfolge.
4/5 Sterne