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Veröffentlicht am 27.10.2023

Porzellanpuppe

All die Frauen, die das hier überleben
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Die ukrainische Autorin Natalja Tschajkowska hat ihren Roman im Original „Porzellanpuppe“ genannt, denn dies ist nicht nur einer der wenigen Besitztümer, den Marta mit in die überstürzte Ehe mit Maksym ...

Die ukrainische Autorin Natalja Tschajkowska hat ihren Roman im Original „Porzellanpuppe“ genannt, denn dies ist nicht nur einer der wenigen Besitztümer, den Marta mit in die überstürzte Ehe mit Maksym mitbringt, sondern steht auch für sie selbst, die zunehmend der häuslichen Gewalt ihres Ehemanns ausgesetzt ist und wie eine Porzellanpuppe zu zerbrechen droht.

Tschajkowska geht in ihrem tonnenschweren Roman gleich zu Beginn einen Schritt auf ihre Leser:innen zu, indem sie mit dem Ende beginnt. Wir nehmen in der Ich-Perspektive von Marta an der Beerdigung ihres verstorbenen Mannes in 2021 teil. Schon hier erfahren wir mindestens zwei Dinge: Erstens waren die letzten fünf Jahre von Martas Eheleben ein einziges Martyrium unter dem gewalttätigen Tyrann Maksym. Und zweitens wissen wir aber gleich: Sie hat es überstanden und er ist nun tot und keine Bedrohung mehr. Wie es zu all dem gekommen ist, erkunden wir nun gemeinsam mit Marta ganz von Anfang an, als sie 2016 Maksym kennen- allerdings nicht lieben lernt, und ihn doch heiratet. Was zunächst noch mit kleineren Wutausbrüchen beginnt, entwickelt sich schnell zu einer lebensbedrohlichen Situation für Marta, die es lange, zu lange, in dieser Beziehung aushält und erst spät beginnt einen Ausweg zu suchen aus diesem physischen wie auch psychischen Gefängnis.

Ein muss gesagt sein: Dieser Roman ist wirklich ganz schwer verdaulich und auch nur schwer zu verkraften. Das liegt meines Erachtens nicht nur an der grundsätzlich scheußlichen Thematik der häuslichen Gewalt, sondern auch an der Erzählperspektive, die die Autorin hier gewählt hat. Da wir stets in der Ich-Perspektive von Marta bleiben, treten deren schrecklichen Erlebnisse ganz nah an uns Lesende heran. Da sie sich, wie so unglaublich viele andere betroffene Frauen, in einem Teufelskreis befindet, aus welchem sie lange Zeit keinen Ausweg für sich findet, können sich die 365 Seiten dieses Buches wie eine schier endlose Qual anfühlen. Das muss man aushalten können. Ich konnte es nur durch Leseunterbrechungen.

Die Tatsache, dass der Roman von Tschajkowska genau das bei einer Leserin auslösen kann, zeigt das Können der Autorin. Sie entwirft ein über weite Strecken psychologisch stimmiges Bild einer Frau, die es zunächst nicht schafft aus ihrem eigenen, inneren Gefängnis auszubrechen, bevor sie auch nur eine Chance hat, aus dem äußeren Gefängnis der Ehe mit psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt auszubrechen. Komplett Außenstehende tendieren häufig zu schnell dazu zu denken: „Warum geht verlässt sie ihn nicht einfach?“, wenn sie die Geschichten von Betroffenen hören. So einfach ist das aber sehr häufig nicht und Tschajkowska verdeutlicht dies sehr gut in ihrem Roman.

Leider gab es für mich eine Stelle zum Ende des Romans hin, indem die Autorin ihre Protagonistin tatsächlich sehr blauäugig (und hier sind nicht die Hämatome um ihre Augen herum gemeint!) agieren lässt. Das passte an dieser Stelle nicht mehr zum inneren Entwicklungsstand der Protagonistin und ließ sie dumm wirken. Das ist etwas, was ich niemals über Betroffene von häuslicher Gewalt denken möchte, dass sie dumm seien. Denn dies entspräche dem Vorurteil, dass sie „zu dumm sind“, um sich endgültig zu trennen. Aber danach fängt die Autorin die Romanhandlung wieder ab und wirft zum Schluss noch einmal wichtige moralische Fragen zu dem Thema auf, mit welchen Mitteln sich eine Gepeinigte aus den Fesseln einer solch schlimmen Situation lösen kann und darf.

Meines Erachtens handelt es sich hierbei um einen äußerst wertvollen Roman, der aufgrund seiner intensiven Erzählperspektive ganz ungefiltert das Thema beleuchtet.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 15.09.2023

Die Weißen können schlafen, die Schwarzen müssen dienen

Der Schlafwagendiener
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Suzette Mayr, eine kanadische Autorin mit deutschen und afro-karibischen Wurzeln, greift im vorliegenden Roman ein in Vergessenheit geratenes Themenfeld auf. Sie setzt den Schwarzen Schlafwagendiener Baxter, ...

Suzette Mayr, eine kanadische Autorin mit deutschen und afro-karibischen Wurzeln, greift im vorliegenden Roman ein in Vergessenheit geratenes Themenfeld auf. Sie setzt den Schwarzen Schlafwagendiener Baxter, der für den Großteil des Romans einen Zug von Montreal nach Vancouver im Jahre 1929 betreut, ins Zentrum ihrer Geschichte. Dieser muss nicht nur mit dem Rassismus der Passagiere und Vorgesetzten klarkommen, sondern auch seine Homosexualität verheimlichen, die ihn damals mindestens ins Gefängnis gebracht hätte. Wir folgen nun diesem Zug auf seiner vier Tage (plus) Tour quer durch Kanada und erleben auf eindrückliche Weise, wie menschenunwürdig Baxter und seine anderen Schlafwagendienerkollegen behandelt werden.

Mit Baxter hat die Autorin eine äußerst interessante Figur geschaffen. Er arbeitet schon seit vielen Jahren als Schlafwagenfahrer, das alles aber nur, um sich die Fortführung seines Zahnmedizinstudiums leisten zu können. Neben seinem Faible für Zahnstellungen und dentalen Erkrankungen ist er außerdem ein großer Science-Fiction-Fan und steckt stets die Nase in ein entsprechendes Buch. Aber diese beiden Eigenarten stellen natürlich keine Gefahr für ihn dar. Im Gegensatz dazu existiert jedoch eine ständige Bedrohung durch den massiven Rassismus und die Homophobie der damaligen Zeit. Mayr rückt nicht nur diese beiden Formen der Unterdrückung ins Zentrum ihrer Geschichte, auch Klassismus und die fehlenden Rechte der Arbeiterklasse werden aufgegriffen. Alles hängt hier ohne Frage miteinander zusammen und scheint Baxter zu zerstören.

Die Autorin entwirft sprachlich gekonnt verschiedenste Passagiercharaktere, die scheinbar alle nur ihre eigenen Befindlichkeiten im Blick haben und auf sehr hohem Niveau über jede Kleinigkeit im Zug und in der Gesellschaft zum Meckern ansetzen. So schreibt sie auf Seite 46-47:

„Die Leute richten sich auf den weichen Matratzen ihrer Kojen ein, mitsamt ihren Koffern und Schachteln, ihren Hüten, Nachthemden und Morgenröcken, ihren überflüssigen Ansichten und den unerschöpflichen Bedürfnissen und Scheinbedürfnissen der Gutsituierten:…“

Während zu Beginn dieses Konglomerat aus Gutsituierten noch wie ein hochnäsiger Einheitsbrei wirkt, zeichnen sich vor allem zum Ende hin feine Differenzierungen zwischen den Fahrgästen ab, die einem nicht sämtliche Hoffnungen auf das Gute im Menschen verlieren lassen. Im absoluten Kontrast zum Leben auf der Seite der Bedienten im Zug und in der Gesellschaft steht das der Diener. Diese leben, stellvertretend dargestellt durch Baxter, am Existenzminimum, können sich kaum das Essen in der Angestelltenkantine leisten und arbeiten sich um ihre physische wie auch psychische Gesundheit, bekommen sie doch kaum Schlaf und Nahrung, sind ständig auf den Beinen. So entwickeln sich bei Baxter zunehmend Ausfallerscheinungen im Sinne von zum Beispiel kaum noch von der Realität zu unterscheidende Halluzinationen.

Wie lang so ein mehrtägiger Arbeitseinsatz, eingeschlossen in einem Zug, mit der ständigen Angst sogenannte Strafpunkte durch angebliches Fehlverhalten zu sammeln und letztlich entlassen zu werden, vermittelt Mayr passend durch ihren Schreibstil. Man hält das unablässige Klingeln nach dem „George“ (alle Schwarzen Diener erhielten den Namen George und wurden nicht bei ihrem richtigen Namen genannt), die nervenden Wünsche, Sonderbarkeiten und Typen der Passagiere kaum aus, hat das Gefühl der Zug und die Geschichte komme kaum voran, bis es dann doch endlich erlösend weitergeht. Zeitweise erscheinen 240 Buchseiten unendlich lang, aber das ist meines Erachtens literarisch so gewollt und erfüllt damit eine Funktion, nämlich die wichtige des „Show, don‘t tell“.

Trotzdem erzählt uns Mayr natürlich sehr viel mit ihrem Roman und weck dadurch nicht nur ein Bewusstsein für die vielen Wege der Unterdrückung von Minderheiten sondern auch für ein historisches Detail, welches sonst fast vergessen wäre, nämlich die „10 000 Black Men Named George“ (nach einem Filmtitel von Regisseur Robert Townsend), die Schwarzen Diener einer weißen Oberschicht. Übrigens ist der Filmtitel nur eine von sehr vielen Literatur- bzw. Quellenhinweisen, die die Autorin ihrem Buch angehängt hat. Neben der großartigen Recherchearbeit der Autorin sollte außerdem noch die ebenso großatige Übersetzungsleistung von Anne Emmert gewürdigt werden, die den Text von Mayr gekonnt ins Deutsche gebracht hat.

Deshalb gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für dieses Buch mit einem selten beleuchteten Setting.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 24.07.2023

Eine Hochstaplerin betrügt die Schönen und Reichen

Die Einladung
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Der englische Originaltitel von Emma Clines Roman „Die Einladung“ ist eigentlich „The Guest“. Meines Erachtens passt dieser Titel dann doch besser als die deutsche Auswahl. Warum? Weil es hier um eine ...

Der englische Originaltitel von Emma Clines Roman „Die Einladung“ ist eigentlich „The Guest“. Meines Erachtens passt dieser Titel dann doch besser als die deutsche Auswahl. Warum? Weil es hier um eine 22jährige, ehemalige Escort-Dame und Hochstaplerin handelt, die sich im Laufe des Romans eine Woche lang durch die High-Society-Strandhäuser in den Hamptons lügt und betrügt. Sie macht sich selbst zum ungebetenen „Gast“, bekommt mitunter nicht einmal eine „Einladung“.

Aufgrund von Drogenkonsum und entstandenen Schulden ist die junge Alex nämlich gerade nicht gern gesehen in „der Stadt“, in New York. Ihr auf den Fersen: der On-Off-Ex-Freund Dom, ein ungemütlicher Geselle, der das Geld wiederhaben möchte, welches sie nach dem letzten Techtelmechtel hat mitgehen lassen. Nun hat sie sich auf eine neue Masche eingestellt. Statt als Escort-Dame von bessergestellten Männer gebucht zu werden, flirtet sie sich an Simon in einer Bar ran. Dieser ist im Kunstmarkt tätig und nimmt sie als seine „Aushänge“-Freundin mit in seine Villa in den Hamptons. Nach einer Meinungsverschiedenheit wird sie von ihm allerdings eine Woche vor seiner großen Labor-Day-Festivität rausgeworfen und feiert, mogelt, vögelt sich nun bis zum großen Tag der von ihr geplanten Versöhnung durch die Villen der Schönen und Reichen.

Emma Cline hat einen mitreißenden Schreibstil, sodass man von ihr eingelullt wird, den Betrügereien der Antiheldin Alex auf Schritt und Tritt zu folgen. Zum einen ist man schockiert von ihrer Kaltschnäuzigkeit, wenn sie sich jegliche Vorteile verschafft und diese Menschen skrupellos ausnutzt, zum anderen freut man sich aber auch ein kleines bisschen darüber, dass diese schamlos reichen Menschen ebenso schamlos abgezockt werden. Denn eins beherrscht Cline perfekt, das Darstellen des klaffenden Unterschieds zwischen arm und reich, zwischen Ober- und Unterschicht. Über den Luxus, den sich die Bewohner der Sommerhäuser leisten, schwebt immer auch das Wissen, wie hart das Leben für einen Großteil der Gesellschaft meistens ist. Immer wieder tauchen Bedienstete auf, die legal dort arbeiten, sich aber ebenso verstellen müssen wie Alex. Alex ist zwar eine Betrügerin, was nicht zur feinen englischen Art gehört, aber sie hat eben auch selbst keine Wohnung mehr, steht vor dem Nichts sollte sie nach New York zurückkehren müssen, hat all ihr Hab und Gut in einer Reisetasche dabei, und selbst dieses besteht fast ausschließlich aus den Kleidungsstücken, die Simon ihr gekauft hat.

Des Weiteren schafft es Cline darzustellen, wie sich diese weibliche Figur Alex in die Köpfe anderer Menschen eingräbt, wie sie in ihrer Zeit als Escort-Dame gelernt hat, sich hundertprozentig auf die Wünsche und Bedürfnisse anderer Menschen einzustellen und sie damit gefügig zu machen. Die tatsächliche Persönlichkeit von Alex verliert sich hinter ihrer Scharade vollkommen. Nie kann man sich beim Lesen des Romans in irgendeiner Weise sicher sein, wie die „wahre“ Alex denkt und fühlt. Vielleicht gibt es sie schon gar nicht mehr hinter den unzähligen Fassaden.

Das Ende des Romans empfand ich zunächst als zu uneindeutig, zu wenig abschließend bis mir klargeworden ist, dass alles nicht anders hätte kommen können. Man kann Alex‘ Geschichte nicht einfach abschließen, denn für sie geht es ja immer irgendwie weiter. Das sollte man nach den vorangegangenen 300 Seiten begriffen haben.

Insgesamt hat mir der Roman sehr gut gefallen und ich würde ihn Leser:innen empfehlen, die Antiheld:innen aushalten und sich von einer Begegnung zur nächsten treiben lassen können, ohne immer alles auserzählt zu bekommen. Hier ist eindeutig der Weg das Ziel und es ist interessant dieser Hochstaplerin auf ihrem Weg zu folgen.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 23.07.2023

Ein Wimmelbild an Motiven und Gesellschaftskritik

Der Kaninchenstall
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In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman wirft Tess Gunty den Blick auf einen kleinen Ort mitten im Rust Belt der USA, auf dessen Bewohner und somit auch auf die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft. ...

In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman wirft Tess Gunty den Blick auf einen kleinen Ort mitten im Rust Belt der USA, auf dessen Bewohner und somit auch auf die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft. Das ist wild, überbordend und experimentell.

Gleich zu Beginn erfahren wir, dass die 19jährige Blandine Watkins in einer heißen Sommernacht aufgeschlitzt auf dem Boden ihrer WG-Apartment C4 liegen und ihren Körper im Zuge dessen verlassen wird. Das Apartment ist eins von vielen in einem günstigen Sozial-Wohnblock, genannt „Der Kaninchenstall“. Sofort wird aber der Blick von dieser angerissenen Szenerie wieder weg gelenkt hin zu anderen Apartments, hin zu anderen Bewohnern dieses Sozialbaus. Wir treten einen Schritt zurück ein paar Tage in die Vergangenheit und nähern uns dann zusammen mit verschiedenen Beteiligten erneut dieser verhängnisvollen Nacht.

Über verschlungene Pfade erfahren wir stückchenweise mehr über den Hintergrund von Blandine, aber auch von anderen Personen, sogar gerade verstorbenen, die gar nichts mehr zum eigentlichen Plot beitragen. Durch diese Methode nimmt die Autorin Personen aus der Hollywood-High-Society ebenso ins Visier wie ganz einfache Menschen mitten im Nirgendwo der USA. Wir lernen einen Ort, Vacca Vale, südlich des Lake Michigan gelegen, kennen, der mit der Reagan-Ära anfing unterzugehen und sich nun versucht neu zu erfinden. Statt Auto- und Metallindustrie sollen digitale Start-Ups in den Ort gelockt werden. Dafür muss ein (das einzige) Naherholungsgebiet des Ortes bebaut werden, etwas, was Blandine nicht akzeptieren will und sich dagegen wehrt.

Aber eigentlich ist es schwer, die Handlung dieses Buches sinnvoll zu illustrieren. Greift doch der Roman sehr viele aktuelle gesellschaftliche Themen der USA auf. Die Protagonisten sind vielmehr Spiegel der Gesellschaft. In ihren Gedanken, Gefühlen und Handlungen erkennt man sehr heiß diskutierte Themenkomplexe der vergangenen Jahre wieder. Machtmissbrauch und Missbrauch durch Personen mit Macht, Klimawandel und Umweltkatastrophen, soziale Medien und dadurch unsozial gewordene Menschen, und und und. Häufig bringt die Autorin diese Themen ganz latent durch ihre Figuren ein, manchmal aber auch mit der Holzhammer-Methode, wenn gerade Blandine (durchaus pointierte und nachvollziehbare) Monologe zu Problemthemen hält. An einer Stelle hat mich das gestört, da es nicht mehr zur Romanhandlung zu passen und Blandine in diesem Moment aus ihrer Rolle innerhalb der Szenerie zu treten scheint. Im Großen und Ganzen konnte ich allerdings akzeptieren, dass dieses Anreißen von Themen dem Stil dieser jungen amerikanischen Autorin, die scheinbar alle sie belastenden Themen in ihr Erstlingswerk einbringen wollte, entspricht. Mein Lesefluss wurde dadurch nicht unterbrochen.

Über weite Strecken bin ich der Autorin sehr gern in ihr wildes Wimmelbild der maroden amerikanischen Gesellschaft gefolgt, vor allem, da sie immer wieder (pop-)kulturelle Motive aufgreift, die sich durch den Roman ziehen. So tauchen immer wieder weiße Kaninchen auf, die eine potentielle Realitätsflucht, ähnlich wie Alice dem weißen Kaninchen in seinen Bau und damit ins Wunderland gefolgt ist, andeuten. Auch Parallelen zur Dorothy („Der Zauberer von Oz“) werden angedeutet. Taucht dann auch noch im Buch ein verstorbener Kinderstar auf, muss man gleich an Judy Garland denken, die die Dorothy mimte. Neben diesen Anspielungen, von denen ich wahrscheinlich nur die Hälfte erkannt habe, ist der Roman aus wiederkehrenden Motiven zusammengesetzt. So geht es immer wieder um Reizüberflutung, überreizte Haut, Hypersensibilität, Mystik bzw. Mystikerinnen vergangener Jahrhunderte, psychedelische Farben und andere Wahrnehmungselemente. Traumatisierung einzelner wird mit Kapitalismuskritik gepaart. Ab und an könnte der Roman dadurch überladen wirken, ergibt aber meines Erachtens im Gesamtkonzept Sinn und lässt nachvollziehen, warum die Autorin mit David Foster Wallace vergleichen wird, auch wenn sie seine Klasse definitiv (noch) nicht erreicht.

Allein mit dem Ende des Romans konnte ich weniger anfangen. Für mich wirkte das Ganze nicht so richtig rund und ließ mich eher unbefriedigt zurück. Ohne um den heißen Brei herumzureden: Ich habe das Ende wahrscheinlich auch gar nicht gänzlich verstanden.

Insgesamt hat mir dieser Roman aber sehr gut gefallen. Ich bin Tess Gunty sehr gern in den Kaninchenstall gefolgt, war angefixt durch die Rahmenhandlung, deren Grundstock ja schon auf den ersten beiden Seiten gelegt wurde und habe ihre Anspielungen bzw. die Suche nach diesen geliebt. Von mir gibt es daher eine Leseempfehlung für Mutige, die einen experimentellen Stil mit wechselnden Erzählperspektiven und mitunter visuellen Elementen gepaart mit Gesellschaftskritik auf vielen Ebenen gern lesen. Eine neue kreative literarische Stimme, die ich gern in der Zukunft weiterverfolge.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 19.06.2023

Vier Geschichten und ein mythischer Fels

Der weiße Fels
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Anna Hope zentriert die vier Geschichten ihres aktuellen Romans um einen mythisch aufgeladenen Fels an der Pazifikküste Mexikos herum. Ausgangspunkt ist die Geschichte einer nicht näher benannten Schriftstellerin, ...

Anna Hope zentriert die vier Geschichten ihres aktuellen Romans um einen mythisch aufgeladenen Fels an der Pazifikküste Mexikos herum. Ausgangspunkt ist die Geschichte einer nicht näher benannten Schriftstellerin, die mit ihrer vierjährigen Tochter und dem fremdgehenden Ehemann im Frühjahr 2020 aus Großbritannien nach Mexiko reist, um sich im Rahmen einer Pilgerreise für die Geburt ihrer Tochter zu bedanken. Denn erst nach einem Ritual der indigenen Bevölkerung wurde ihr Kinderwunsch erfüllt. Die Reise wird für sie die Gelegenheit darstellen, das Weiterführen ihrer Ehe zu überdenken.

Man sollte sich nicht von der Leseprobe zum Buch „abschrecken“ lassen, denn es geht in „Der weiße Fels“ bei weitem nicht nur um eine Schriftstellerin mittleren Alters, die mit ihrer Ehe hadert. Weit gefehlt. Wir springen zwar nicht in Raum aber definitiv in der Zeit. Denn schon der nächste Buchabschnitt beschäftigt sich nicht mehr mit „der Schriftstellerin“ sondern mit „dem Sänger“. Man braucht den Klappentext des Buches nicht, um schnell herauszulesen, dass es sich dabei um den Sänger der „The Doors“, Jim Morrison, handelt. Mr. Mojo Risin befindet sich im Jahre 1969 nämlich in einer Sinnkrise unter dem Druck des überwältigenden Erfolgs seiner Band und dem Eindruck von vielen verschiedenen Substanzen in seinem Körper. Nun begleiten wir ihn ebenso bei einer Art Pilgerfahrt zum weißen Fels. Dann springen wir wieder ein Stück in der Zeit zurück und landen im Jahre 1907, in dem „das Mädchen“ gerade aus ihrer Heimat verschleppt wird; ein Mädchen aus der indigenen Gemeinschaft der Wixàrika/Yoeme, welche seit den ersten kolonialen Bestrebungen der Krone Spaniens auf den amerikanischen Kontinenten verfolgt und ausgerottet wurde und noch immer wird. Und genau zu diesen Anfängen der Kolonisierung springen wir dann auch noch. Ins Jahre 1775 zu „dem Leutnant“, der mit Zwischenstation in der Nähe des weißen Felsens sich mit mehreren Schiffen nach Norden aufmachen soll, um die Bucht von San Francisco als einer der ersten Europäer zu vermessen und kartografieren.

Das Buch ist, wie bereits auf der ersten Seite, dem Inhaltsverzeichnis, klar wird, konzentrisch aufgebaut. In der Mitte steht der weiße Fels mit einem eigenen Kapitel und wir bewegen uns zunächst aus dem Jahre 2020 rückwärts darauf zu und ab der Hälfte auf dem Zeitstrahl wieder nach vorn zum Jahre 2020. Die Geschichten um die vier Protagonist:innen könnten auch für sich stehende Novellen darstellen, werden von Anna Hope jedoch geschickt miteinander zu einem runden Roman verzahnt. Diese Struktur des Romans hat mir sehr gut gefallen. Sie erinnerte mich an Michael Christies „Das Flüstern der Bäume“, in welchem die Kapitel genauso angeordnet, hier aber an die Jahresringen eines Baumes angelehnt sind.

Hope schreibt süffig und weiß durch ganz unterschiedliche Szenarien zu überzeugen. Die einzelnen Geschichten beinhalten neben dem weißen Fels als zentralen Moment aber noch weitere Parallelen. So geht es immer auch um Zwänge, Verpflichtungen, Ausbeutung, Unfreiheit und das Suchen nach der Freiheit. Seien es die Verpflichtungen in einer Familie und Ehe, die Zwänge der körperlichen Abhängigkeit, die Loyalität zur Krone oder die Unfreiheit der Verfolgung aufgrund der ethnischen Herkunft. Alle Protagonist:innen hadern mit der Freiheit. Ebenso zieht sich das Thema der Kolonisierung Mittelamerikas und die Unterdrückung der indigenen Bevölkerung durch alle Texte und damit auch durch alle Zeiten. Über fünfhundert Jahre lang wurden diese Menschen verfolgt, das wird durch diesen Roman an persönlichen Geschichten mal mehr mal weniger stark subtil dargestellt.

Allein das Ende des Romans, welches wieder zurückzoomt auf „die Schriftstellerin“ und ihre Probleme, konnte mich nicht ganz überzeugen, wird doch besonders im mittleren Teil die ganz große Historie des Kolonialismus aber im Kleinen anhand von Einzelschicksalen erzählt. Trotzdem handelt es sich hierbei um ein definitiv lesenswertes Buch, welches das Licht auf eine Weltregion und deren indigene Bevölkerung wirft, die bezogen auf die Dekolonisierung (ein Begriff, den die Autorin in ihren ausführlichen Anmerkungen am Ende des Buches aufgreift) bisher nur selten in der Literatur aufgegriffen wurde. Eine sehr bereichernde und dennoch leichtfüßige Lektüre.

4/5 Sterne

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