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Lust_auf_literatur

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.07.2023

Großartige und gesellschaftskritische Unterhaltung

Intimleben
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Nein, dieses Ende habe ich nicht kommen sehen. Ich muss vor Überraschung laut lachen.
Da hat mir Niccolò Ammaniti zum Schluß noch eine große Freude gemacht.

But first things first: Niccolò Ammaniti ist ...

Nein, dieses Ende habe ich nicht kommen sehen. Ich muss vor Überraschung laut lachen.
Da hat mir Niccolò Ammaniti zum Schluß noch eine große Freude gemacht.

But first things first: Niccolò Ammaniti ist einer der erfolgreichsten und international renommiertesten Autoren Italiens. Nachdem ich seinen dystopischen Roman „Anna“ gelesen hatte (mittlerweile als Serie verfilmt) war ich sehr auf weitere Romane des Schriftstellers gespannt.

Mit „Intimleben“ hat Ammaniti einen gleichermaßen unterhaltsamen wie gesellschaftlich analytischen Roman geschrieben.

Wie in „Anna“ hat Ammaniti wieder eine interessante weibliche Hautfigur geschaffen. Maria Cristina Palma ist die schönste Frau der Welt und die Ehefrau des amtierenden italienischen Ministerpräsidenten. Mit ihrem perfekten Aussehen, den operierten Brüsten und ihrem oberflächlichen Wesen ist sie zweifellos eine Männerfantasie und die Öffentlichkeit liegt ihr zu Füßen.
Jeder ihrer Schritte wird genau beobachtet, mit den anstehenden Neuwahlen wird es immer schwieriger ihr Intimleben zu wahren.
Dennoch passieren auch in ihrem Leben noch unvorhergesehene Ereignisse: Zufällig trifft sie einen Freund aus ihrer Jugend wieder, der mittlerweile ein sehr attraktiver, erfolgreicher Luxushotelier ist: Nicola Sarti. Nach einem eigentlich vom Beraterstab nicht erlaubten Austausch von privaten Handynummern schreiben sich die beiden. Nicola schickt Maria Cristina alte Bilder von einem lange zurückliegenden gemeinsamen Urlaub, denn die beiden verband mehr als nur eine platonische Freundschaft.
Doch warum schickt Nicola plötzlich ein mehr als 20 Jahre altes, pornöses Video, das die beiden beim Geschlechtsverkehr zeigt. Ein vergessenes, selbst aufgenommenes Sextape…

Die Kaskade an Handlungen, die Ammaniti jetzt beschreibt, wechselt und vermischt sich zwischen komisch, gesellschaftskritisch und dramatisch. Und im Zentrum dieses verworrenen und äußerst unterhaltsamen Reigens steht Maria Cristina, die sich erst einmal die Haare färben lässt.

Mit ihren verzweifelten Versuchen die Kontrolle über die öffentliche Inszenierung ihres Leben zu behalten, zeigt Ammaniti die Menschlichkeit und Verletzlichkeit seiner Figur. Die Frau Maria Cristina bleibt mir letztendlich aber doch ein Rätsel, ihr wahres Intimleben, z.b. ihre Gefühle für ihren Ehemann, enthüllt mir Ammaniti nicht, sondern er lässt einen Rest Mysterium.

Das ist großartige und gesellschaftskritische Unterhaltung, mit einem für mich nicht vorhersehbaren mega Plottwist am Ende, den ich sehr mochte.

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Veröffentlicht am 24.07.2023

Lust auf eine Vertrauensübung?

Vertrauensübung
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Es ist 1982, die CAPA ist eine Elite-Schauspielschule, in der jedes Jahr nur wenige Schüler*innen aufgenommen werden. Es ist eine besondere Ehre vom allseits bewunderten Professor Mr. Kingsley unterrichtet ...

Es ist 1982, die CAPA ist eine Elite-Schauspielschule, in der jedes Jahr nur wenige Schüler*innen aufgenommen werden. Es ist eine besondere Ehre vom allseits bewunderten Professor Mr. Kingsley unterrichtet zu werden und bei seiner „Vertrauensübung“ dabei zu sein. Zwei dieser besonders Auserwählten sind Sarah und David, beide um die 16, die eine leidenschaftliche Beziehung beginnen. Und ja, es gibt Sex, und ja, mir gefallen die Sexszenen gut.
Ansonsten glaube ich, mich in einem typisch amerikanischen, literarisch anspruchsvollem, Collegeroman zu befinden, der vielleicht in seinen detaillierten Beschreibungen einigen Längen hat.
Unterschwellig schwingt immer etwas düsteres mit, etwas ungesagtes. Es ist immer subtil spürbar, das etwas nicht unausgesprochenes wird, eine zweite Eben.Mir ist nicht klar, dass ich gerade eine „Vertrauensübung“ mache.

Der Charakter des Romans ändert sich nach dem ersten Teil drastisch, als die Erzählperspektive wechselt.
Aber wechselt sie wirklich? Wer erzählt? Wessen Erzählung vertraue ich?
Ein Abgrund geht auf und er wird immer tiefer…

Das erzeugt ab der zweiten Hälfte einen interessanten Sog und gefällt mir deutlich besser als der, etwas langatmige erste Teil.
Ich möchte den Roman aber nicht in eine Kategorie wie „gefallen“ oder „unterhaltsam“ einordnen, denn das wird ihm nicht gerecht. Die „Vertrauensübung“ schenkt keine schnelle Befriedigung, die ich sonst gerne suche.
Choi bewegt sich in meinen Augen dabei sehr hart an der Grenze zur intellektuellen Abgehobenheit, überschreitet sie jedoch nicht.

Der Roman hat das Potential zu erschüttern und die Wahrnehmung zu verschieben. Ich bin froh ihn gelesen zu haben.

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Veröffentlicht am 23.07.2023

Atmosphärisch und abgründig

Die Einladung
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Der Debütroman „The Girls“ von Emma Cline hatte mich ziemlich begeistert (2016? Shit, gefühlt gestern!), darum wollte ich den neuen Roman „Die Einladung“ auch ziemlich dringend lesen.
Und ich muss sagen, ...

Der Debütroman „The Girls“ von Emma Cline hatte mich ziemlich begeistert (2016? Shit, gefühlt gestern!), darum wollte ich den neuen Roman „Die Einladung“ auch ziemlich dringend lesen.
Und ich muss sagen, es ist ein Roman, der ziemlich genau meinen Lesevorlieben entspricht. Es ist zeitgenössische amerikanische Literatur, Männer sind Waschlappen, Frauen auch meistens nicht besser und jede*r ist sich selbst der/die nächste.
I like!

Natürlich stecken mehr Nuancen und Abgründe in diesem gesellschaftskritischem wie unterhaltsamen Buch, als ich es hier kurz zusammenfassen kann.
Die Protagonistin Alex ist jung und schön und nutzt diesen Umstand als Eintrittskarte in die männliche Welt der Reichen und Schönen. Einen anderen Lebensplan hat sie nicht. Aber als ihr aussichtsreicher aktueller Sugar Daddy sie nach einer kleinen Party Eskalation abserviert, ist sie mittellos und weiß nicht wohin.
Glücklicherweise hat Alex noch „Die Einladung“ zur Simons großer Gartenparty und hofft dort bei einem Wiedersehen mit ihm, ihn wieder für sich gewinnen zu können.
Denn nur der reiche und mächtige Simon scheint die Lösung für all ihre Probleme und das Ticket für ein sorgloses Leben.
Die Zeit bis zur Party überbrückt sie bei verschiedenen Menschen, bei denen sie sich selbst einlädt und wo sie verbrannte Erde hinterlässt.

Das Thema Selbstbetrug und Manipulation zieht sich als Grundthema durch den ganzen Roman. Cline montiert komplexe Abhängigkeitsverhältnisse und Machtstrukturen zu einem tiefgründigen Gesellschaftsporträt einer reichen und abgestumpften Elite Amerikas. Hier ist alles zur Ware geworden. Wer wie Alex die Schwächen der Menschen erkennen kann, nutzt das skrupellos zum eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf Verluste. Aber auch Alex hat Schwachstellen und ist letztendlich verwundbar…

Sprachlich wie auch inhaltlich gefällt mir dieser neue Roman von Emma Cline wieder sehr gut! Cline schafft es genauso wie in „The Girls“ mich mit ihren Figuren zu faszinieren und gleichermaßen Abstoßung wie Mitleid zu erregen.

Ein intensiver und spannender Sommerroman, der mir direkt ein gewisses morbides Lebensgefühl vermittelt.

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Veröffentlicht am 21.07.2023

Ein futuristisches Märchen

Tausend Arten von Blau
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Cheon Seon-Ran wurde für ihren Roman „Tausend Arten von Blau“ mit dem Korea Science Fiction Award ausgezeichnet.

Südkorea, irgendwann in der Zukunft: seit immer mehr Hummanoide in immer mehr Arbeitsbereichen ...

Cheon Seon-Ran wurde für ihren Roman „Tausend Arten von Blau“ mit dem Korea Science Fiction Award ausgezeichnet.

Südkorea, irgendwann in der Zukunft: seit immer mehr Hummanoide in immer mehr Arbeitsbereichen eingesetzt werden, greift die Arbeitslosigkeit um sich.
Der Leistungsgedanke, dem sich Mensch, Maschine und Tiere unterwerfen müssen, hat sich immens verstärkt.
Doch immer mehr Menschen können diesem Druck nicht mehr stand halten und geraten an den Rand der Gesellschaft.
So auch die Familie von Bogyeong, Yeonjae und Eunhye. Seit der Ehemann und Vater bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam, kämpft die Familie um ihr finanzielles Auskommen. Die Tochter Eunhye sitzt im Rollstuhl, doch die versprochenen mechanischen Beine sind mittlerweile in weite Ferne gerückt. Fortschritt und Technik ist nicht für alle erhältlich, sondern nur für die die es sich leisten können.
Pferderennen haben die Funktion von Brot und Spiele übernommen und versprechen durch Wetten eine leicht greifbare Chance nach Glück.
Die Pferde werden von Roboter Jockeys geritten und sind genauso Verschleißteile.
Unbarmherzig werden sie für 2-3 Jahre zur maximalen Leistung und Geschwindigkeit getrieben bis ihr Körper versagt.

Diesem düsteren und entmenschlichtem Setting setzt Cheon Seon-Ran zeitlose Werte wie Freundschaft, Liebe, Familie und Mitgefühl gegenüber.
Ihr Schreibstil ist einfach und adjektivarm und unterstreicht damit das Lesegefühl ein modernes Märchen zu lesen.

Ein Märchen mit universeller, zeitloser Botschaft: Nur mit Liebe und Menschlichkeit können wir die Kälte und Härte unsere Zeit aushalten und überwinden.
Cheon Seon-Ran schließt in ihre Botschaft nicht nur Menschen mit ein, sie dehnt sie auf alle Lebewesen aus.

“Wenn die Menschen sich doch nur genauso für die Tiere interessieren würden, die gequält und vernichtet wurden, wie für die neuen Technologien, über die täglich in den Medien berichtet wurde, und für die Zukunft des Menschen.”

Ich würden dieses Buch vor allem als Roman für ältere Kinder und Jugendliche sehen aber natürlich auch für Erwachsene, die gerne Geschichten im Form von modernen und futuristischen Märchen lesen. Mit dieser Zielgruppe identifiziere ich mich eher weniger, deswegen möchte ich das gerne ohne weitere Bewertung als persönliches Fazit stehen lassen.

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Veröffentlicht am 18.07.2023

Sprachlich ein außergewöhnliches Highlight mit Schwächen im Plot

Der Kaninchenstall
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Der amerikanische Kapitalismus frisst seine Kinder.
Aber bevor es soweit ist, hält er sie noch in Kaninchenställen.

Tess Gunty hat mit „Der Kaninchenstall“ eine messerscharfe Gesellschaftsanalyse eines ...

Der amerikanische Kapitalismus frisst seine Kinder.
Aber bevor es soweit ist, hält er sie noch in Kaninchenställen.

Tess Gunty hat mit „Der Kaninchenstall“ eine messerscharfe Gesellschaftsanalyse eines abgefuckten Amerikas abgeliefert.

„Ich wollte sterben, töten, vögeln, meine Eltern finden und sie wieder lebendig machen und sie dann umbringen, dann beerdigen und schreien und schreien.“

Mehr als dieses Zitat will ich zum Inhalt nicht schreiben. Gunty beschreibt verschiedenen Schicksale der Bewohner*innen des Kaninchenstalls und Menschen in Vacca Vale, einer abgehängten Kleinstadt im Herzen Indianas, mitten in Amerika. Nachdem die Autoindustrie die Menschen ausgebeutet hat, die Umwelt mit ihren krebserregenden Stoffen vergiftet hat, ist sie weitergezogen und lässt die Stadt geschändet und sterbend zurück.
Im Kaninchenstall lebt die Mittelklasse der sozial Abgehängten, sinn- und nutzlos durch den Tag treibend.

Sprachlich liefert Tess Gunty eine derartige wahnsinnige Leistung ab, dass ich mich auf den ersten Seiten wie erschlagen fühle angesichts dieser Häufung von genialen und treffenden Wort- und Satzschaffungen.
Das ist großes, großes Kino! Ich bin hart begeistert und diese Begeisterung wird mich über die eine oder andere Schwäche im Storytelling hinwegsehen lassen.
Denn so wie Gunty sprachlich für mich Neuland betritt, so bewegt sie sich in der Story auf vertrautem Territorium. Die zahlreichen Erzählstränge entwicklen sich genauso wie ich erwarte und wie ich sie schon in zahlreichen anderen Romanen genauso ablaufen gesehen habe. Der dramatische Schluss ist sehr erwartbar und in meinen Augen zu stark konstruiert.
Neu ist die starke und allgegenwärtige Gesellschafts- und Kapitalismuskritik, die Gunty direkt und metaphorisch zu ihrer Hauptbotschaft macht.

Der amerikanische Traum ist tot und hat sich in vergiftetes Futter für die Kaninchen verwandelt, die in ihrem Stall dahinvegetieren. Nur ganz am Ende öffnet Gunty die Türe ein klein wenig für einen Lichtstrahl der Hoffnung. Ob diese Türe aufgestoßen werden kann überlässt sie mir und meinem Weltbild.

Sprachlich für mich ein Highlight auf aufsehenerregendem Niveau , mit dem die eigentliche Geschichte leider nicht mithalten kann. Ein Hammer Debütroman, dem hoffentlich noch einiges folgen wird!

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